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Elias 2018

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„And nothing else matters“, dröhnte das Lied der Metalband Metallica aus den Boxen der schmuddeligen und dreckigen Kneipe. Der Lärm war ohrenbetäubend. In der Ecke lehnten ein paar ungepflegte, langhaarige Gestalten, die gelangweilt vor sich hin starrten. Es schien, als würden sie zum schmutzigen Inventar gehören und immer dort ihren Platz einnehmen wie ein paar verstaubte Statuen aus Stein, die niemals jemand abwischte und sorgfältig reinigte. Sie bewegten sich nur ab und zu, um an ihren Biergläsern zu nippen oder ein sinnloses, aus dem Zusammenhang gerissenes Wort zu grunzen.

Elias stellte sein leeres Whiskeyglas auf den Tresen, der mit unschönen, schwarzen Kerben von den Messern der Angetrunkenen vergangener Tage übersät war. Seine Hand blieb an dem ekelhaften Holz kleben, was ihm in seinem Zustand jedoch nicht mehr auffiel.

„Noch einen“, lallte er dem Wirt zu, der im dreckigen Unterhemd vor ihm stand, mit verfilzten, ungewaschenen Haaren und speckig glänzendem Gesicht.

Dieser schnappte sich einen graubraunen Fetzen, der bestimmt irgendwann einmal weiß gewesen war, und wischte das Glas aus, ehe er es mit der hochprozentigen Flüssigkeit auffüllte. Elias schnappte sich den Alkohol und verschüttete durch seine unkontrollierten Bewegungen ein Drittel auf seinen teuren Anzug, der so gar nicht in diese fragwürdige Umgebung passte, ehe er den Rest in sich hineinkippte.

Laut grölend und keinen Ton treffend sang er: „And nothing else matters ...“

Die Typen in der Ecke bewegten sich kurz aus ihrer selbst gewählten Starre, um die Veränderung in Elias’ Verhalten mit einem Angst einflößenden, tiefen Lachen zu bekunden.

Übermütig kletterte Elias auf den zerschlissenen Barhocker.

„Hey, Bursche, runter da! Zeit zum Heimgehen“, forderte der Wirt ihn nachdrücklich auf.

Doch Elias war heute alles egal, er ignorierte die strengen Worte. Stattdessen spielte er Luftgitarre, was den komischen Gestalten ein weiteres tiefes Gelächter entlockte. Er drehte sich im Kreis und ließ die erdachte Gitarre am Boden zerschmettern. Fast hätte er dabei das Gleichgewicht verloren, aber das spornte ihn noch mehr an, etwas vollkommen Unüberlegtes zu tun. Ohne seine eigenen Grenzen richtig einzuschätzen, sprang er in Richtung Lampenschirm, der zerfetzt und verstaubt an der Decke montiert war. Wie ein Affe versuchte er sich an ihn zu hängen, um sich daran elegant herunterzuschwingen. Ein gelungener Showdown für seine Vorstellung. Dabei vergaß er, dass heute keine Eleganz und Ruhmeshymnen mehr für ihn übrig waren bei der Menge an Alkohol, die er in sich hineingeschüttet hatte.

Kaum hatte er den Leuchtkörper in Händen, riss er knirschend und bröckelnd aus der Decke. Mit schmerzverzerrtem Gesicht landete Elias rücklings am Boden, der Lampenschirm krachte mit aller Gewalt auf ihn und der Putz der Decke rieselte als Draufgabe herab. Die finsteren Gestalten sprangen von ihren Sitzplätzen in die Höhe. Aber das bemerkte Elias nicht mehr, Dunkelheit hüllte ihn ein. Die Welt um ihn herum wurde schwarz.

***

„Schatz, kommst du?“ Michaelas Gesicht erschien grinsend in der Tür des Badezimmers. Ihre kurzen blonden Haare waren perfekt gestylt. Dezent geschminkt und in einem olivgrünen Kleid, das ihre schlanke Figur gekonnt umspielte, sah sie hinreißend aus. Die Farbe des Kleides war exakt die ihrer Augen, was diese umso mehr strahlen ließ.

„Du bist wunderschön, mein Engel“, sprudelte es aus Elias’ Mund hervor, mit Zahnbürste und Zahnpasta darin.

Michaela hatte diesen liebevollen Blick aufgesetzt. Sie war ein besonderer Mensch. Er mochte ihre Fröhlichkeit, es war Gott sei Dank sehr schwer, sie zu kränken.

„Fünf Minuten, dann müssen wir aber wirklich los. Die Schauspieler im Theater werden nicht auf uns warten“, flötete sie.

„Ja, ich beeile mich schon“, presste er zwischen dem Ausspucken der Zahnpasta und Wassergurgeln hervor.

„Ich hab dir deinen Anzug für besondere Anlässe schon auf dein Bett gelegt.“

Elias verdrehte die Augen. „Muss das sein?“

„Darf ich dich erinnern, dass du der Ehrengast bist?“

„Aber nur, weil meine Mutter nicht mehr selbst hingehen kann“, protestierte er.

„Das Theaterstück stammt aus ihrer Feder. Du bist es ihr schuldig, sie würdig zu vertreten. Und jetzt zieh dich an, sonst kommen wir wirklich noch zu spät“, sagte Michaela nach wie vor fröhlich.

Dafür liebte Elias seine Freundin sehr, für ihre angenehme, leichte Art. Seit einem Jahr waren sie ein Paar und er hatte sie in dieser Zeit nur einmal zornig erlebt. Und das aus Ärger über sich selbst, weil sie ihren zwei Monate alten, feuerroten Seat Ibiza aus Unachtsamkeit zu Schrott gefahren hatte. Aber das passte zu ihr. Sie war ein strahlender Wirbelwind, der keine zwei Minuten stillstehen konnte.

Hastig zog er sich an, Michaela trippelte mit dem Autoschlüssel in der Hand den Flur entlang. Elias schnappte sich sein Portemonnaie und ergriff liebevoll Michaelas Hand, die bereits die Haustür aufhielt. Hand in Hand schritten sie durchs Stiegenhaus. Michaelas Lachen hallte durch das ganze Gemäuer. Ein Nachbar steckte, gestört von dem Lärm, seinen Kopf aus der Tür. Er schaute grimmig drein.

„Guten Tag“, rief Elias höflich, während sie an ihm vorbeiflogen.

„Deine Mutter ist echt ein Genie“, bemerkte Michaela, nachdem sie am Weinglas genippt hatte.

Elias steckte sich gerade einen Bissen der hervorragenden Forelle in den Mund. Langsam kauend, den runden Geschmack genießend, ließ er sich Zeit mit seiner Meinung.

„Wenn sie deine Loblieder auf sich hören könnte, wäre sie sehr stolz auf die Wahl meiner Freundin. Desiree Benjamin mochte es für ihr Leben gerne, wenn ihre Arbeit positiv gewürdigt wurde. Und wenn sie Kritik einstecken musste, hat sie sich stets beim nächsten Theaterstück oder Drehbuch noch mehr reingehängt“, erklärte er, ehe er erneut die Gabel zum Mund führte.

Michaela wollte gerade das Gespräch fortsetzen, als der Kellner mit ihrer Weinflasche zum Tisch trat. „Darf ich nachschenken?“, fragte er höflich.

Beide nickten und warteten ab, bis der Mann seine Arbeit getan hatte. Elias sog inzwischen die angenehme Atmosphäre des Restaurants in sich auf. Die Möbel waren teilweise aus knorrigen, verdrehten Holzstämmen gebaut. Auch die Bar war in diesem natürlichen Stil gehalten. Die cremefarbenen Wände waren unaufdringlich mit Bildern aus Holzelementen und integrierten lebenden Pflanzen verziert. Große, weiße Kerzen, optisch gut platziert, rundeten das Bild harmonisch ab und sorgten für den angenehmen Geruch nach brennendem Wachs, der alle an Weihnachten erinnerte. Es war eine gute Entscheidung gewesen, nach dem Theater hier noch etwas essen zu gehen.

„Du redest über deine Mutter, als wäre sie schon tot“, fügte Michaela nahtlos an die vorangegangenen Sätze an.

„Wundert es dich?“, erwiderte Elias.

„Aber das ist nicht gerecht, sie lebt noch“, rechtfertigte sich Michaela.

„Das nennst du leben? Was hat sie denn noch von ihrem Leben? Sie kann nicht mehr aus dem Bett“, gab Elias zornig zurück.

„Warum bist du gleich so aufgebracht? Es war doch nicht böse gemeint!“

„Ich will einfach nicht darüber reden“, schnaubte Elias.

Die restliche Zeit während des Essens waren beide still. Michaela bemerkte, wie Elias langsam abkühlte. Nach dem Dessert hatte sich die Stimmung wieder sichtlich gehoben.

„Wie geht es dir in der Arbeit?“, wagte Michaela sich vor.

„So wie immer. Viel zu tun, die Wirtschaft scheint sich zu erholen. Da haben die Menschen wieder mehr Geld, um sich ein Motorrad zuzulegen. Die Produktion ist wieder angekurbelt.“

„Und da muss der Produktionsleiter ran, damit alles rundläuft“, sagte Michaela zärtlich und strich Elias durch sein braunes, leicht gewelltes Haar.

Elias durchfuhr es bei dieser leichten Berührung wie ein sanfter Blitz, der sein Herz erglühen ließ.

„Lass uns gehen“, flüsterte Michaela zärtlich.

Elias lächelte und winkte dem Kellner. „Zahlen, bitte.“

„Danke für diesen Abend, mein Schatz.“ Michaelas Augen leuchteten. Elias hielt sie an der Hand. Sie kamen am Auto an, das sie weit weg vom Schuss geparkt hatten, da das Restaurant sehr gut besucht war. Hier waren sie, bis auf ein paar Gestalten in der Ferne, alleine.

„Ich hab noch keine Lust, nach Hause zu fahren“, flüsterte sie ihm zu.

Elias lehnte sich an sein Auto, einen schwarzen McLaren 12C, natürlich darauf bedacht, keinen Kratzer an der empfindlichen Lackierung zu hinterlassen. Er zog Michaela an sich. Ihre Wärme tat gut auf seiner Haut. Er vergrub sein Gesicht zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter und sog ihren angenehm blumigen Duft ein. Er liebte diese Frau über alles, konnte sein Glück gar nicht fassen, dass sie seine Freundin war.

Michaela genoss das Gefühl, als Elias ihr am Hinterkopf durch ihre kurzen Haare strich. Ihre Blicke trafen sich wieder. Seine braunen Augen, die wie Kandiszucker kristallisch glänzten, ruhten auf ihr.

„Gibt es bei dir etwas Neues in der Arbeit?“, wollte Elias wissen.

Michaela fand den Moment unpassend, um über ihre Aufgaben als Zahntechnikerin zu reden. Obwohl sie nur zu gut wusste, dass Elias ihretwegen gefragt hatte. Er wollte sich nicht nachsagen lassen, desinteressiert an ihrem Leben zu sein. Wahrscheinlich konnte sie das eine oder andere erzählen, aber sie ließ es einfach, um den Augenblick nicht zu zerstören. Stattdessen schüttelte sie den Kopf. Sie legte sanft ihre Hände auf seine Wangen. Elias verstand, umarmte sie noch fester und beugte sich zu ihr. Michaela konnte seine festen und langen Muskeln, die er durch regelmäßiges Lauftraining bekommen hatte, spüren. Wie in Zeitlupe berührten sich ihre Lippen und vereinten sich in einem lang anhaltenden Kuss. Die nächtlichen Sterne schienen für die beiden hell leuchtend zu tanzen. Es dauerte eine Ewigkeit, ehe sie sich aus dieser innigen Verbindung wieder lösten.

„Ich bin müde, fahren wir doch nach Hause“, kam es von Michaela.

Der Sinneswandel seiner Freundin rief in Elias ein Gefühl der Enttäuschung hervor. Heute hätte er Lust, noch etwas zu unternehmen. Er fühlte sich noch kein bisschen müde.

Aber Michaela gähnte und bat ihn: „Lass uns morgen irgendwo hingehen, um zu frühstücken. Lass uns an diesen Abend anschließen, nur mit etwas Schlaf dazwischen. Wir lassen uns etwas Besonders einfallen, okay?“

Elias nickte zustimmend. Gemeinsam stiegen sie in das Auto.

Kaum hatte Elias sein Auto aus der Innenstadt von München hinausgelenkt, war Michaela auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Friedlich schlummerte sie neben ihm. Wenn sie einmal schlief, konnte man sie sehr schwer wieder munter machen. Elias war froh über ihr Federgewicht, denn er würde sie ins Bett tragen müssen, wenn sie nicht die ganze Nacht im Auto verbringen sollte.

Beim letzten Gedanken kam Elias eine Idee. Er schaute auf das Armaturenbrett. Es war erst zehn Minuten nach Mitternacht. Ein verrückter Plan reifte in seinem Geiste heran und wurde immer konkreter.

„Warum eigentlich nicht?“, dachte er bei sich.

Er lenkte sein Auto zur nächsten Tankstelle. Er tankte voll, kaufte sich einen Liter Cola und gab in sein Navigationssystem die Route ein, die in seinem Kopf herumschwirrte. Dann fuhr er zielstrebig auf die Autobahn. Wenn die Zeitangabe der Anzeige richtig war, würden sie am frühen Morgen am Ziel sein und das Frühstück in der Stadt einnehmen, in die sie beide schon immer einmal gewollt hatten: Venedig.

Während der sechs Stunden Autofahrt hielt sich Elias mit Koffein fit. Michaela verschlief alles in Seelenruhe. Er freute sich auf den Moment, wenn sie von seinem leicht irren Vorhaben erfahren würde. Schließlich waren sie nicht vorbereitet auf diesen Kurztrip. Aber es war Samstag und sie hatten bis Sonntagabend Zeit, um zurückzukehren. Irgendwie würde sich das schon einrichten lassen. Was brauchte man schon? Ein Wochenende ohne Waschen, Zähneputzen oder Gewandwechseln würden sie schon überleben. Was einen nicht umbrachte, machte einen nur härter. Auch wenn das hieß, sie mussten die ganze Zeit in Abendgarderobe durch die Gegend laufen. Irgendwann musste auch er einmal schlafen, bevor sie heimkehrten, im schlimmsten Fall im Auto. Aber es war ein aufregendes Abenteuer, das sie ihr ganzes Leben nicht vergessen würden. Und das war es ihm hundertmal wert.

Viele Hundert Kilometer später steuerte Elias auf den riesigen Parkplatz zu, der für die Besucher von Venedig gedacht war. Es war halb sieben und die Sonne zeigte sich an diesem Aprilmorgen schwach schimmernd am Horizont durch ein leichtes und sanftes Glühen. Es war der perfekte Moment, um Michaela zu wecken.

„Morgen, mein Schatz.“ Elias stupste sie sanft an.

Michaela öffnete langsam die Augen. „Die Sonne geht auf“, stellte sie nüchtern fest.

„Heute geht sie ganz besonders für dich auf“, grinste Elias.

Michaela schaute in den wunderschönen Sonnenaufgang. Der Himmel nahm die Rot-, Orange- und Gelbtöne wie ein Gemälde in sich auf und weitete langsam den Blick auf das offene Meer.

„Elias – wo sind wir?“, fragte sie endlich, etwas erschrocken.

„In Venedig!“

„Ist das dein Ernst?“ Der Satz blieb ihr fast im Hals stecken.

„Ja, du wolltest doch ein besonderes Frühstück.“

Stürmisch küsste sie ihn. „Du bist total verrückt – danke! Ich liebe dich.“

Sie blieben noch eine Zeit lang im Auto sitzen, kuschelten und schmusten miteinander, ehe sie sich aufmachten, um am Markusplatz zu frühstücken.

„Wahnsinn, der italienische Kaffee schmeckt mit Blick auf den Dom und den Turm umwerfend lecker“, frohlockte Michaela, die in eine kuschelige Decke gewickelt an ihrem Cappuccino nippte.

„Ist dir kalt, mein Schatz?“, fragte Elias.

„Ein bisschen. Aber mit der Decke geht es.“

Elias strich ihr über die Hand. Er versank in ihren olivgrünen Augen, deren Blick er so sehr liebte. Er war der glücklichste Mensch auf Erden. Nie wieder würde er diese herzensgute Frau gehen lassen. Er konnte sein Glück gar nicht fassen.

Gemeinsam ließen sie ihren Blick über den malerischen Platz schweifen. Unzählige Tauben tummelten sich hier, um eine der Brotkrumen zu erwischen, die den Touristen regelmäßig aus den Händen fielen. Ein Schmuckhändler zwängte sich zu dieser frühen Stunde schon zwischen den Tischen der Gäste, denen die kühle Luft nichts ausmachte, hindurch. Elias winkte ihn heran. Der Verkäufer präsentierte mit italienischer Leidenschaft seine Ware. Gemeinsam mit Michaela suchten sie einen olivgrünen Steinring aus, der exakt die Farbe ihrer Augen und ihres Kleides hatte. Elias bezahlte, zögerte aber, ihr den Ring zu geben. Stattdessen stand er auf und kniete sich vor Michaela nieder. Sie lächelte ihn an.

„Michaela, ich liebe dich von ganzem Herzen. Willst du meine Frau werden?“

„Ja! Ich liebe dich auch“, antwortete sie mit glänzenden Tränen in den Augen.

Elias steckte ihr den Ring an. Dann fiel sie ihm in die Arme. Da Elias noch am Boden kniete, verlor er das Gleichgewicht und plumpste mit seiner frischgebackenen Verlobten rücklings nach hinten. Ein paar Tauben flogen vor Schreck davon.

Beide lachten und küssten sich, ehe sie sich wieder von dem Pflaster erhoben. Glücklich blickten sie sich lange an. Michaela hatte das Gefühl, dass Elias’ Augen, die wie brauner Kandiszucker in der Sonne glänzten, ihr direkt ins Herz sahen. Könnte dieser Augenblick doch ewig währen ...

***

Elias erwachte mit brummendem Schädel. Die Erinnerungen an Michaela verflogen. Seine Sehkraft ließ ihn für den Moment im Stich. Alles war verschwommen. Er registrierte, dass er in einem Bett lag und der Geruch nach Desinfektionsmitteln stieg ihm unangenehm in die Nase.

„Du bist munter – endlich!“, hörte er, als wären die Worte ganz weit weg gesprochen worden.

Elias blinzelte ein paarmal und griff sich an seinen dröhnenden Kopf. Er wollte sich aufsetzen, aber die stechenden Schmerzen in seinem Rücken verhinderten ein Aufrichten. Gequält stöhnte er auf. Aber seine Augen fanden langsam wieder zurück zu ihrer eigentlichen Funktion, dem Sehen. Allmählich konnte er verschwommen die Person vor sich erkennen.

„Hallo Stefan“, brachte er mühsam und undeutlich hervor.

„Hallo, mein Junge. Wie geht es dir?“, erwiderte Stefan bedacht ruhig.

„Ich weiß nicht, mir tut alles weh. Was ist passiert?“, stammelte der Patient. Stefan kam zu keiner Antwort. Eine Ärztin und ein Pfleger betraten das Krankenzimmer, in dem Elias lag. Sie schickten Stefan hinaus und stellten sich an das Krankenbett.

„Aufgewacht, Herr Benjamin. Das ist aber eine Freude“, bemerkte die Ärztin und ließ einen ironischen Unterton bewusst mitklingen.

Der Pfleger deckte Elias ab und klemmte ihm ein Fieberthermometer unter die Achseln. Elias’ Körper war von der Brust bis zur Hüfte bandagiert. Die Ärztin untersuchte seine wichtigsten Lebensfunktionen, machte sich aber keine Mühe, es gründlich zu tun. Sie wirkte sichtlich angepisst.

„Da haben wir aber Glück gehabt. Auch wenn man meinen könnte, dass ein Mann im Alter von fünfundzwanzig Jahren bereits erwachsen ist. Sie werden dank uns wieder gesund. Nur gegen die offensichtliche Dummheit können wir Ihnen keine Medizin geben“, kam es schnippisch von der Ärztin, deren grantiger Gesichtsausdruck fast beängstigend war.

„Was ist überhaupt passiert?“, quälte sich Elias.

„Das wissen Sie nicht mehr? Vielleicht ist das auch besser so. Lassen Sie in Zukunft die Finger vom Alkohol. Dann müssen Sie sich im Nachhinein nicht schämen, sich wie ein idiotischer Affe aufgeführt zu haben. Und wir sparen unsere Ressourcen für die wichtigen Fälle. Auf Wiedersehen“, beendete die unhöfliche Ärztin das Gespräch und verschwand durch die Tür.

„Sie müssen Frau Doktor Müller entschuldigen. Sie hasst es, wenn jemand über den Durst trinkt. Ich bin übrigens Sebastian“, stellte sich der Pfleger vor. Er wartete, bis das Thermometer fertig gemessen hatte, schrieb den Wert auf und hängte Elias an einen Tropf. „Gegen die Schmerzen“, erklärte Sebastian.

„Was habe ich eigentlich?“, versuchte Elias es erneut.

„Das hätte Ihnen eigentlich Frau Doktor Müller erklären sollen, aber wenn Sie mich nicht verpfeifen, verrate ich es Ihnen.“

Elias versuchte, mit dem Kopf zu nicken, kam aber nicht weit, ehe die Schmerzen erneut in seinen Rücken und Kopf einschossen. Laut stöhnte er auf.

„Sie haben in einer Bar Tarzan gespielt und sind mit dem Lampenschirm am Boden gelandet. Aber außer einer Gehirnerschütterung und zwei gebrochenen Rippen ist Ihnen nichts passiert. Das hätte ganz anders ausgehen können, wenn die Wirbelsäule beschädigt worden wäre, hätten Sie jetzt ganz andere Probleme.“

„Danke“, bemerkte Elias etwas beschämt über die Freundlichkeit des Pflegers.

„Ich gehe jetzt und schicke Ihren Besuch wieder herein.“

„Nochmals danke“, erwiderte Elias und sah zu, wie Sebastian den Raum verließ.

Einen Augenblick später stand Stefan schon wieder vor ihm. Er rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich nah zu Elias, als wolle er ein Gespräch im Vertrauen beginnen. Aber er schwieg. Seine grau melierten Haare machten ihn heute noch älter, als er wirklich war. Er hatte noch zwei Jahre, bis er sechzig Jahre alt wurde, schaute allerdings deutlich betagter aus. Oder waren es die Falten, die sich noch tiefer in die wettergegerbte Haut eingruben? Auf jeden Fall standen Stefan die Sorgen deutlich ins Gesicht geschrieben.

So durchbrach Elias die Stille: „Wo ist Michaela?“

Stefan runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

„Wo ist Michaela? War sie schon hier? Macht sie sich große Sorgen um mich?“, wollte Elias wissen.

„Äh, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll“, druckste Stefan herum.

„Ihr ist doch nichts passiert, oder?“ Elias stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.

„Nein, es geht ihr gut. Glaube ich zumindest, ich habe sie lange nicht gesehen“, gab Stefan zur Antwort.

„Wie soll ich das verstehen? Wir besuchen dich doch regelmäßig. Ah, ich weiß schon. Wegen unserer bevorstehenden Hochzeit hatten wir zu wenig Zeit, um zu dir zu kommen. Das tut mir leid, ehrlich!“

„Nein, Elias, das ist es nicht.“ Fürsorglich und vorsichtig griff Stefan nach seiner Hand. „Ihr, also Michaela und du, ihr seid seit drei Monaten kein Paar mehr“, erklärte er ruhig.

Elias wurde zuerst kreidebleich im Gesicht, dann lachte er laut los. „Dein Humor war schon immer etwas makaber.“

Doch Stefans Blick blieb todernst. „Du irrst dich. Ihr seid wirklich nicht mehr zusammen. Das war kein schlechter Scherz.“

„Aber wir wollten doch heiraten ... ich liebe sie“, klammerte sich Elias an den letzten Strohhalm der Hoffnung.

„Du hast es vergeigt, Elias. Und weil du das genau wusstest, hast du die letzten drei Monate jede Menge Alkohol in dich hineingeschüttet. Du hast dich regelmäßig ins Koma gesoffen. Es war abzusehen, dass du im Krankenhaus landest.“

Elias versuchte, ruhig zu bleiben, konnte aber die Tränen der Verzweiflung nicht zurückhalten. „Warum?“, brachte er gerade noch hervor.

„Michaela hat ihre Stelle als Zahntechnikerin aus heiterem Himmel gekündigt. Sie wollte nach Berlin, um dort das Studium der Zahnmedizin aufzunehmen. Sie wollte Zahnärztin werden.“

„Aber warum Berlin? Das kann sie doch hier in München genauso gut machen.“

„Das war genau deine Reaktion, du hast ihr vorgeworfen, nicht an dich und eure bevorstehende Ehe zu denken. Du hast ihr gesagt, sie solle sich gefälligst um eure zukünftigen Kinder kümmern und nicht den lächerlichen Wunschtraum verfolgen, Zahnärztin zu werden. Dein Argument war, dass sie keine Zeit haben würde für dich und eure Kinder mit so einem zeitintensiven Beruf.“

„Oh ... war ich wirklich so direkt?“ Elias sah beschämt auf seine Hände.

„Sie meinte, du hättest in manchen Punkten recht. Aber sie könnte sich auch vorstellen, keine Kinder zu haben. Und dann bist du explodiert. Du bist völlig ausgetickt. Du hast sie gegen die Garderobenwand geschleudert. Du hast sie angeschrien, sie solle verschwinden und sich nie wieder blicken lassen. Das hat sie dann auch getan. Sie ist zutiefst gekränkt nach Berlin gegangen.“

Elias schaute Stefan schockiert an. „Ich habe sie verletzt? Wie konnte ich das nur tun? Ihr gegenüber hatte ich doch meinen Zorn meistens relativ gut im Griff. Ja, sicher, ich wurde auch bei ihr sehr schnell wütend, aber wie konnte ich ihr bloß wehtun? Ich liebe sie doch!“

„Ich weiß, aber Michaela hat jetzt Angst vor dir. Sie will deine ständigen Entschuldigungsversuche nicht hören, geschweige denn annehmen. Das ist auch der Grund, warum du dich seit drei Monaten bis zur Besinnungslosigkeit betrinkst. Du leidest unter deinem unüberlegten Handeln. Ich mache mir große Sorgen um dich.“

Elias blickte ins Leere, ehe er sich einsichtig zeigte. „Es stimmt, ich habe es wirklich vergeigt. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass ich ihr wehgetan habe.“ Kaum hatte Elias es ausgesprochen, brach er in ein hemmungsloses Schluchzen aus.

„Wenn Sie zu Hause Hilfe in Anspruch nehmen, können Sie morgen nach Hause gehen. Lassen Sie aber das Komasaufen. Alkoholleichen wie Sie können wir nicht gebrauchen“, blaffte Frau Doktor Müller Elias an.

„Ich habe daraus gelernt, Ehrenwort!“, versprach er.

„Ja, große Sprüche klopfen könnt ihr alle. Mir würde es schon reichen, Sie hier nie wiedersehen zu müssen. Verstanden?“

„Ganz meinerseits“, wagte Elias, den schroffen Tonfall frech zu erwidern.

„Na, dann sind wir uns ja einig“, gab sie, das erste Mal neutral gesprochen, zurück, nicht freundlich, aber auch nicht verärgert.

Elias atmete durch, als die Ärztin endlich den Raum verließ. Bald würde er wieder in Freiheit sein und die einengende Atmosphäre des Krankenhauses verlassen. Innerlich machte sich ein überschwängliches Jubelgeschrei in ihm breit.

Das Läuten des Telefons riss ihn aus der erdachten Freudenfeier. Das Display zeigte eine ihm unbekannte Nummer an.

„Benjamin“, meldete sich Elias.

„Ja ... hallo“, kam es schüchtern zurück.

Danach folgte eine längere Pause.

„Wer spricht da bitte?“, durchbrach Elias die Stille.

„Michaela. Ich rufe dich von meinem neuen Mobiltelefon an. Du liegst im Krankenhaus, oder?“

Elias’ Herz hüpfte vor Freude. „Ja, aber ich darf schon wieder nach Hause. Schön, dass du anrufst.“

„Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut, dich so stehen gelassen zu haben. Vielleicht hätte ich dir doch zuhören sollen“, bemerkte sie etwas verlegen.

„Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich weiß nicht einmal selbst, warum ich dir so wehgetan habe. Ich weiß nur, dass es der größte Fehler in meinem Leben war, genau den Menschen zu verletzen, den ich am meisten liebe.“

„Danke, das bedeutet mir sehr viel. Ich möchte dir verzeihen, aber ich kann nicht vergessen, was vorgefallen ist. Das verstehst du doch, oder?“

Elias’ letzter Hoffnungsschimmer zerplatzte wie eine Seifenblase. „Ja, ich verstehe. Bist du wenigstens glücklich?“

„Ja, das Studium ist toll. Ich habe auch vor einer Woche jemanden kennengelernt. Er ist sehr gut zu mir. Ich glaube, ich könnte mir vorstellen, mich wieder zu verlieben. Aber es ist noch zu früh, um das mit Bestimmtheit zu sagen“, sagte Michaela vorsichtig.

„Oh. Ich wünsche dir alles Gute. Ich möchte nur, dass es dir gut geht. Und danke für das gemeinsame Jahr mit dir.“ Die Niedergeschlagenheit schwang in Elias’ Stimme mit, sein Herz krampfte sich unangenehm zusammen.

„Mach keine Dummheiten mehr, okay? Wenn du reden möchtest, du hast ja meine Nummer. Aber eine Beziehung zwischen uns wird es nicht mehr geben.“ In Michaelas Worten lag nun mehr Sicherheit, den letzten Satz sagte sie mit Nachdruck.

Nach der Verabschiedung blickte Elias regungslos an die weiße Decke. Nun wusste er mit Bestimmtheit, was er schon die ganze Zeit geahnt hatte. Die Frau seiner Träume war endgültig verloren. Der Schmerz durchfuhr ihn und nahm ihm die Luft zum Atmen.

***

Desiree lag in ihrem Bett und starrte die Wand an. Ihr Gesicht war fahl und weiß, ihre Hände zitterten leicht.

„Spiel nicht die beleidigte Leberwurst. Ich war im Krankenhaus. Ich konnte nicht zu dir kommen“, belehrte Elias seine Mutter.

„Ja, durch dein eigenes Verschulden. Keiner hat dich gezwungen, den Alkohol in dich hineinzuschütten. Ich weiß nicht, wie oft ich dich noch zu Gesicht bekomme. Du weißt, dass ich nur noch wenige Wochen zu leben habe“, krächzte die todkranke Frau.

„Ja, du hast recht. Aber ich halte den Schmerz kaum aus. Ich vermisse Michaela so sehr. Ihre Abwesenheit zerbricht mir das Herz. Die Sehnsucht ist unerträglich. Kannst du das gar nicht verstehen?“

„Doch, ich weiß genau, wie das ist.“ Desiree schloss kurz die Augen.

Elias war verwirrt, ehe ihm ein Licht aufging. „Du denkst an meinen Vater. Du hast ihn wirklich geliebt, oder?“

Er lechzte danach, endlich eine Antwort zu bekommen, aber seine Mutter dachte gar nicht daran. Sie zog ihre Mundwinkel nach unten.

„Es ist noch nicht an der Zeit“, gab sie lediglich zurück.

Elias wurde schlagartig hochrot im Gesicht. Er schrie zornig: „Und wann ist es an der Zeit? Wenn du tot bist? Dann kannst du alle meine Fragen sicher sehr gut beantworten!“

Desirees Augen weiteten sich, trotzig sprach sie: „Schön langsam verstehe ich, warum es Michaela nicht mit dir ausgehalten hat.“

Elias sprang von seinem Stuhl auf und warf ihn wütend um. „Dann sind wir ja schon zwei. Mein Vater wollte dich anscheinend auch nicht mehr. Sonst wärst du nicht mit mir zu Stefan zurückgekrochen gekommen. Du hast ja sogar deine Töchter im Stich gelassen für einen anderen Mann. War ich der Ersatz für die beiden? Bin ich da, weil du dein schlechtes Gewissen beruhigen musstest?“

„Du weißt gar nichts“, keuchte Desiree mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie hielt sich schwer atmend die Hand an die Brust.

„Wie denn auch? Du erzählst es mir ja nicht!“, brüllte Elias wie von Sinnen.

Zu spät erkannte er in seiner Raserei, wie die Augen seiner Mutter hervorquollen. Sie röchelte und rang vergebens nach Luft.

Elias fuhr der Schreck in die Glieder. „Mara, schnell!“

Die Pflegerin stürmte zur Tür herein. Mit einem gekonnten Griff drehte sie Desiree zur Seite. Schlagartig entspannte sich ihr Brustkorb und es floss hörbar rasselnd Luft in ihre Lungen. Mara strich ihr sanft übers Haar und atmete ruhig mit Desiree ein und aus, bis nichts mehr von dem Anfall bei ihr spürbar war.

Dann baute sich die kleine, aber bestimmende Frau vor Elias auf. „Was sollte das? Sie soll sich nicht aufregen. Oder willst du deine eigene Mutter frühzeitig ins Grab bringen?“

Reumütig wandte Elias ein: „Es tut mir leid, Mama. Ich wollte dich nicht so unter Druck setzen. Aber uns rennt die Zeit davon. Seit über zwanzig Jahren hältst du mich hin. Ich möchte endlich wissen, was damals passiert ist. Es gibt so viele Kränkungen in unserer Familie, weil nie über die Wahrheit gesprochen wurde. Das muss endlich aufhören. Du liebst mich doch, oder?“

Desirees Augen glänzten feucht. „Natürlich, du bist mein Sohn.“

„Dann versuch dich in meine Lage zu versetzen. Bitte! Ich gehe jetzt, aber ich komme wieder. Bitte überleg es dir bis dahin.“ Zum Abschied küsste er seine Mutter auf die Stirn. „Ich liebe dich auch, Mama. Lass mich nicht im Dunkeln zurück.“

Elias konnte nicht spüren, wie ihr Mutterherz blutete. Dieser Schmerz war um einiges größer als der vom Krebs verursachte, der ihren Körper schrittweise zerfraß.

Insel der verlorenen Träume

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