Читать книгу Insel der verlorenen Träume - Karin Waldl - Страница 15
1992
ОглавлениеDesirees Leben änderte sich an einem Montagmorgen im Mai. Genauer gesagt war es der vierzehnte im Jahr 1992. Desiree Benjamin war vierunddreißig Jahre alt und dieser Tag gab ihrem Leben eine unerwartete Wendung, die alles, was bis zu diesem Zeitpunkt wichtig gewesen war, gehörig auf den Kopf stellte.
Aber bevor die Ereignisse hier erklärt werden, müssen wir zurückschauen auf die Monate davor, um zu verstehen, wie das alles geschehen konnte.
Desiree stand vor dem Spiegel und begutachtete kritisch ihre Kleidung. Sie hatte nichts Besonderes an oder etwas Besonderes vor, für das sie schick sein musste. Es war eher eine Art Ritual, das jedes Mal mit einem unzufriedenen Seufzen endete. Ihr Hintern und ihre Oberschenkel füllten die Jeans aus. Das T-Shirt wölbte sich unschön über den Fettpölsterchen, die sie seit der Schwangerschaft hartnäckig begleiteten. Stefan trat von hinten an sie heran. Er wusste, was in seiner Frau vorging. Er konnte ihren Ärger über sich selbst spüren. Zärtlich schlang er von hinten seine Arme um sie und küsste sie am Hals. Desiree zuckte unbewusst zusammen.
„Du bist schön, so wie du bist“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Du hast leicht reden. Du musst ja nicht die Konsequenzen einer Schwangerschaft mit dir herumtragen. Die Zwillinge haben mich ganz schön ausgebeult. Und man sieht das nach zehn Jahren immer noch“, gab Desiree ärgerlich zurück.
„Dafür hast du zwei wunderbare Töchter. Das gehört dazu. Wenn du mich fragst – was du ja nicht tust –, finde ich dich sehr anziehend. Deine Rundungen machen dich sehr weiblich“, wollte Stefan sie beschwichtigen.
„Du hast recht, dich frage ich bestimmt nicht. Du würdest mir auch noch schöntun, wenn ich wie die Venus von Willendorf aussähe“, erwiderte Desiree nun richtig patzig.
„Aber das heißt doch nur, dass ich dich liebe, so wie du bist“, versuchte es Stefan erneut.
„Also macht Liebe doch blind“, antwortete Desiree, diesmal schnippisch.
„Und wenn es so ist, dann ist es doch gut so. Ich mag dich und da gehört dein äußeres Erscheinungsbild dazu.“
„Egal, wie ich aussehe?“, stellte sie Stefan auf die Probe.
„Na ja, würdest du dich nicht mehr waschen und am ganzen Körper stinken, deine Zähne wären verfault und du hättest Läuse in deinen vor Fett triefenden Haaren, dann würde ich etwas sagen. Versprochen!“ Stefan grinste.
Desiree drehte sich zu ihm um. Sie musste ebenfalls lachen über seinen Kommentar. Sie wusste, wie sehr er sie liebte. „Danke, Stefan, für deine große Liebe zu mir.“
„Bitte“, flüsterte er, ehe er sie an sich zog und lange küsste.
Desiree ließ ihn gewähren. In seiner Nähe fühlte sie sich beschützt und geborgen.
Lautes Geschrei beendete abrupt die Kuschelminute. Die feindlichen Laute drangen bis ins erste Stockwerk zu den Eltern, deren Zweisamkeit wie so oft ein schnelles Ablaufdatum hatte.
„Mama, Nele hat mein Tagebuch gelesen“, kreischte es im Erdgeschoss.
„Aber Nala hat vorher meines gestohlen“, brüllte Nele noch etwas lauter.
Desiree seufzte abermals, diesmal wegen der sinnlosen Streiterei ihrer Sprösslinge.
„Ich mach das schon“, sagte Stefan und bewegte sich in Richtung der Störenfriede.
Desiree wandte sich wieder dem Spiegel zu. Nachdem sie sich zweimal hin und her gedreht hatte, beschloss sie, dass es sowieso keinen Sinn hatte. Nichts würde sie heute zu einem positiven Urteil über sich selbst bringen, mit dem sie sich aufheitern konnte. Das Argument von Stefan bezüglich der zwei liebenswerten Kinder zog im Moment auch nicht. Dafür war das Gezanke, das noch immer im Gange war, zu ohrenbetäubend. Sicher liebte sie ihre Töchter, aber manchmal musste man sich das stärker ins Gedächtnis rufen als in den friedlichen Momenten. Vor allem, wenn sie sich unnötig in die Haare bekamen, stieg Desiree die Galle hoch. Wie konnte man tagaus, tagein wegen Nichtigkeiten streiten, als würde die Welt untergehen? Manchmal fühlte sie sich hilflos. Ihr gutes Zureden schien nicht auf fruchtbaren Boden zu fallen.
Gut, dass Stefan da war. Er nahm oft der Situation den Wind aus den Segeln. So wie jetzt, angenehme Ruhe breitete sich im Haus aus. Desiree atmete tief ein und aus. Sie schloss die Augen, genoss die Stille, die mit zwei Kindern sehr rar war. Wie schön wäre es, ein paar Tage Urlaub von dem turbulenten Familienleben zu haben. Nur ein paar Tage, um Kraft zu tanken und danach entspannt zu Kindern und Ehemann zurückzukehren. Das würde ihr gefallen. Sie wünschte sich, den Augenblick der Ruhe verlängern zu können, ehe es an der Tür läutete.
„Ich mach auf!“, schrie eines der Mädchen.
„Nein, ich mach auf! Ich bin sowieso schneller als du“, übertrumpfte die andere Halbwüchsige ihre Schwester.
Ein drittes Mal seufzte Desiree wegen der erneuten Unruhe. Sie machte sich auf, um ihre Töchter zu bremsen, damit der unangekündigte Besuch nicht zurückschreckte.
Doch da rief Stefan schon: „Desiree, es ist für dich, eine Frau Eisenschmidt von der Storyboard Filmproduktion.“
Desiree erschrak ob der Worte so sehr, dass sie auf der Treppe ausrutschte und unsanft auf dem Hintern landete. Ein brennender Schmerz zog sich vom Gesäß den Oberschenkel hinab. Sie unterdrückte einen lauten Aufschrei. Schnell stand sie auf, rieb sich die wunde Stelle und setzte ihren Weg fort.
In dem Moment betraten Stefan und ihr unerwarteter Gast das Wohnzimmer. Im Stillen bedankte sich Desiree, dass niemand etwas von ihrem peinlichen Sturz mitbekommen hatte.
„Frau Benjamin?“, erkundigte sich die Fremde.
„Ja“, antwortete Desiree.
„Ich bin Frau Eisenschmidt“, stellte sich die Frau vor.
Desiree schüttelte ihr höflich die Hand. Gemischte Gefühle stiegen in ihr auf, Angst kombiniert mit Neugierde. Erwartungsvoll blieb sie stumm, bemerkte nicht, wie ihr Gegenüber auf eine Geste der Gastfreundschaft wartete.
„Können wir uns setzen? Ich bin den ganzen Tag schon auf den Beinen“, versuchte der Besuch höflich zu klingen.
„Natürlich“, stammelte Desiree beschämt, wies Frau Eisenschmidt in Richtung Esstisch und bot ihr einen Stuhl an.
Stefan bugsierte inzwischen die Mädchen in Richtung Kinderzimmer. Als er sicher war, dass diese darin verschwunden waren, trat er an die beiden Frauen heran. „Darf ich einen Kaffee bringen?“, übernahm er die Gastgeberrolle für die perplexe Desiree.
„Bitte, mit Milch, wenn es keine Umstände macht. Und ein Glas Wasser dazu“, sagte der Gast.
Dankbar schaute Desiree ihren Ehemann an. „Für mich dasselbe, bitte.“
Stefan steuerte in die Küche, um den Kaffee herzurichten.
„Frau Benjamin, die Storyboard Filmproduktion ist an Ihrem Drehbuch ,Perlmuttfarbene Sehnsucht‘ interessiert. Ich bin hier, um einen Vertrag auszuhandeln, wenn Sie nach wie vor mit uns zusammenarbeiten wollen“, erklärte die Geschäftsfrau.
„Ja, natürlich“, stotterte Desiree aufgeregt.
„Ist das Ihr erstes Drehbuch, das verfilmt wird?“, fragte Frau Eisenschmidt vorsichtig.
Die Autorin nickte, ehe sie erklärte: „Bis jetzt habe ich nur ein paar kleine Theaterstücke verkauft.“
„Das habe ich gehört. Sie werden in Fachkreisen schon als vielversprechender Newcomer gehandelt.“
„Echt?“ Desirees Stimme überschlug sich beinahe vor Überraschung.
Frau Eisenschmidt bejahte. „Ich glaube ernsthaft, dass es an der Zeit ist, Desiree Benjamin bekannt zu machen. Ihr Drehbuch ist genial.“
Die derart Gelobte zitterte vor Freude und Aufregung gleichzeitig. Ihr Gast musste schmunzeln wegen ihrer Verlegenheit und Nervosität.
„Vielleicht sollten wir es uns gleich einfacher machen miteinander. Stört es Sie, wenn wir uns duzen?“
„Natürlich nicht. Ich bin Desiree.“ Sie gewann allmählich etwas von ihrer Fassung zurück.
„Ich bin Barbara“, erwiderte die andere.
Pro forma schüttelten sich die beiden Frauen noch einmal die Hände. In dem Augenblick erschien Stefan mit Kaffee und ein paar Schokoladenkeksen. Er stellte alles ab und verschwand wieder, um nach seinen Töchtern zu sehen.
„Es gibt nur einen Haken an der Sache. Die Zeit ist knapp. Wir bräuchten dich sofort an Bord, Desiree. Wir müssten schon in drei Monaten zu drehen beginnen. Denn der Schauspieler, der die Hauptrolle übernehmen soll, hat nur ein knappes Zeitfenster, in dem der Film im Kasten sein muss. Er ist gerade sehr im Kommen und vielseitig in der Schauspielbranche beschäftigt.“
Desiree vergaß ganz zu fragen, von wem Barbara sprach. Nicht, weil sie ignorant war, sondern weil ihr vor Aufregung tausend andere Gedanken im Kopf herumschwirrten. Wichtig war ihr momentan ihre Rolle in dem Ganzen und darauf versuchte sie ihren Fokus zu legen, was nicht so einfach war bei dem herrschenden Chaos in ihrem Gehirn.
„Was wird von mir erwartet?“, fragte sie schließlich.
„Ah, ich vergaß. Es ist für dich das erste Mal. Wir möchten dich gerne bei den Dreharbeiten dabeihaben. Immer wieder ergeben sich Änderungen, die dem Wortlaut des Autors entsprechen sollten, deshalb ist es praktisch, dich vor Ort zu haben. In den drei Monaten bis dahin werden wir das Drehbuch durchgehen, besprechen, manches ändern und mit unseren Profis intensiv an der Umsetzung arbeiten. Es ist wenig Zeit, aber wenn du dich mit uns reinhängst, können wir es schaffen.“
Desiree atmete tief durch. Ihr Blick fiel auf Stefan, der schon seit geraumer Zeit am Treppenabsatz zu stehen schien. Er lächelte und nickte ihr aufmunternd zu. Seinen Segen hatte sie.
„Gut, ich bin dabei“, sagte sie entschieden.
Barbaras Gesicht begann zu strahlen. „Dann gratuliere ich dir und heiße dich im Filmproduktionsteam von Storyboard willkommen.“
„Danke. Ist das aufregend.“ Desiree konnte ihre Freude nicht verbergen.
Barbara musste lachen. „Ja, das ist es. Lass uns gleich den Vertrag durchgehen. Ich werde dir einiges erklären müssen.“
Desiree versuchte, sich zu konzentrieren, um sich alle Details zu merken. Sie wollte diese neue Herausforderung unbedingt meistern. Das war die Chance, auf die sie immer gewartet hatte.
„Als Erstes muss ich gleich über den Titel mit dir reden. Wir wollen deinen Arbeitstitel ,Perlmuttfarbene Sehnsucht‘ nicht für den Film verwenden. Wir dachten an ,Kristallblaue Wellen‘. Geht das für dich in Ordnung?“
„Ja, das klingt schön“, antwortete Desiree.
„Gott sei Dank. Du weißt gar nicht, wie viele Autoren auf ihrem Arbeitstitel beharren. Aber wir haben mittlerweile viel Erfahrung, was die Zielgruppen anspricht und was nicht.“
Und so handelten die beiden den Vertrag bis ins kleinste Detail aus. Als Stefan ihn auch gelesen und einiges hinterfragt hatte, woran seine Frau gar nicht gedacht hätte, unterschrieb Desiree. Sie war nun offiziell Drehbuchautorin in der Filmbranche. Die Szenen und Dialoge aus ihrer Feder würden bald verfilmt werden. Eine intensive, arbeitsreiche Zeit begann für sie an diesem besonderen und einzigartigen Tag. Doch die Freude und Aufregung auf das, was kommen sollte, überwogen eindeutig.
Stefan lehnte grinsend in der Tür, als Desiree die Küche betrat. Sie hatte Barbara hinausbegleitet. Es war aufgrund ihrer detaillierten Besprechung so spät geworden, dass Stefan schon vor zwei Stunden die Kinder ins Bett gebracht hatte. Jetzt wartete er neugierig auf seine Frau.
„Was amüsiert dich so?“, fragte diese betont unschuldig.
„Dein Traum geht in Erfüllung. Ist das nicht schön?“, flötete er aufgeregt.
„Ja, aber es ist so unwirklich. Ich kann es noch gar nicht fassen.“ Desiree neigte ihren Kopf, das Leuchten in ihren Augen entging Stefan nicht. Er zog sie an sich, um ihr strahlendes Gesicht nahe bei sich zu haben.
„Ein großes Stück Arbeit kommt auf dich zu“, bemerkte er nüchtern.
„Ja. Ich glaube, wir müssen uns überlegen, wie wir das mit den Zwillingen machen. Ich werde nicht mehr so oft verfügbar sein.“
„Wir reden mit ihnen. Ich glaube, dass sie einer Nachmittagsbetreuung in der Schule gar nicht so abgeneigt sind. Viele ihrer Freunde gehen dorthin. Und ansonsten kann ich es mir einteilen, die restliche Zeit für sie da zu sein. Das schaffen wir schon.“
„Bin ich eine Rabenmutter, wenn ich weniger Zeit mit ihnen verbringe?“
Stefan lachte. Desiree blickte gekränkt drein, sie hatte die Frage durchaus ernst gemeint. „Nein, viele Eltern gehen arbeiten, sodass die Kinder in die Nachmittagsbetreuung müssen. Wir wissen ja, dass sie an ihrer Schule gut aufgehoben sind.“
„Ja, du hast wahrscheinlich recht. Ich kann es mir momentan nur noch nicht vorstellen. Ich möchte nicht, dass sie es mir übel nehmen, wenn ich voll arbeite.“
„Ich bin ja auch noch da. Und außerdem solltest du dich freuen. Du hast es geschafft. Ich muss gestehen, dass ich dir das bis heute nicht wirklich zugetraut habe. Aber nun bin ich mächtig stolz auf dich. Jetzt bist du an der Reihe. Dein Talent ist gefragt.“
„Danke“, flüsterte Desiree, ehe sie Stefan flüchtig küsste. „Ich bin müde. Ich werde ins Bett gehen“, fügte sie hinzu, als sie sich von Stefan löste.
„Ich komme gleich mit. Der Tag war lange genug.“
Gemeinsam gingen sie die Treppen hinauf.
„Wer spielt eigentlich die Hauptrolle in dem Film?“, fragte Stefan noch, bevor sie das Badezimmer erreichten.
Seine Frau schaute ihn nachdenklich an. „Das weiß ich nicht. Ich vergaß zu fragen.“
Er grinste abermals. „Das ist wieder typisch. Das Wesentliche vergisst du.“
„Schön, dass du über mich lachen kannst“, bemerkte sie übertrieben und gespielt beleidigt.
Stefan scheuchte sie ins Badezimmer und witzelte: „Vielleicht solltest du die Hauptrolle übernehmen, Frau Schauspielerin.“
Gemeinsam lachten sie laut los. Desiree fand es schön, einen Freund und Begleiter, wie Stefan es war, an ihrer Seite zu haben.
***
Desiree zerrte an ihrem dunklen Kleid. Sie hasste es, dass ihr Körper so unförmig war. Nichts schien ihr mehr hundertprozentig zu passen. Zum tausendsten Mal nahm sie sich vor, nur noch die Hälfte zu essen, um endlich das Gewicht zu erreichen, dass sie vor der Schwangerschaft mit den Zwillingen gehabt hatte. Nur an der ausgeleierten Haut am Bauch würde das wahrscheinlich auch nichts ändern.
Bewusst schob sie diesen Anfall von Selbstmitleid weg und betrachtete das Büro, in dem sie saß. Es war geschmackvoll eingerichtet. Weiße, geradlinige Möbel zierten die Wand hinter dem weißen, puristischen Schreibtisch. Selbst der Bildschirm des Computers war im passenden Weiß gehalten. Den einzigen Kontrast bildete der schwarze, durchscheinende Drehstuhl. Sie selbst saß auf einem cremefarbenen, modernen Sessel, von dessen Sorte zwei Stück an einem weißen Rundtisch standen, der dem Schreibtisch, abgesehen von der Form, ähnelte. Vor dem riesigen Fenster, das einen atemberaubenden Blick ins Grüne zuließ, standen ein paar niedrig wachsende Farne, wahrscheinlich um die schöne Aussicht nicht gänzlich zu verstellen.
Auffallend war, dass kein Krimskrams herumlag. Ein Block mit einem Stift war sowohl auf dem Schreibtisch als auch auf dem runden Tisch platziert. Ansonsten war da nichts. Nicht einmal ein Bild oder ein Diplom zierte die weiße Wand. Es hätte das Büro von irgendjemand x-Beliebigem sein können. Nichts deutete darauf hin, dass dies die Räumlichkeiten von Barbara Eisenschmidt waren. Nicht einmal eine klitzekleine Kleinigkeit gab einen Hinweis auf ihre Person oder die Tatsache, dass sie Filmproduzentin war.
„Vielleicht braucht sie bei ihrem Job absolute Bildlosigkeit, um abzuschalten. Sie sorgt schließlich tagaus, tagein dafür, dass das Team alles ins richtige Bild setzt. Vielleicht ist dann eine Pause davon unumgänglich“, dachte Desiree bei sich.
Der Nachteil der spärlichen Einrichtung war, dass Desiree nicht wusste, womit sie die Wartezeit überbrücken sollte. Sie wusste nicht einmal, wie lange sie schon wartete, da sie ihre Armbanduhr zu Hause vergessen hatte. Im Raum konnte sie ebenfalls keine Uhr entdecken, die ihr die Tageszeit verriet. Vom Gefühl her saß sie schon länger als eine Viertelstunde hier und wartete auf Barbara.
Sie kramte in ihrer Handtasche und suchte nach etwas Brauchbarem. Schließlich zog sie einen Handspiegel und einen Lippenstift hervor. Aus Langeweile schminkte sie sich ihre Lippen nach. Aber das war innerhalb weniger Sekunden erledigt, so ließ sie beides wieder in ihre Tasche gleiten und starrte weiterhin Löcher in die Luft.
Das unsanfte, ruckartige Öffnen der Tür ließ sie zusammenzucken. „Es tut mir unendlich leid, Desiree“, verkündete Barbara, die gestresst zur Tür hereinwehte. „Dieser nichtsnutzige Typ aus der Kostümabteilung hat die Rechnungen gefälscht, um eine regelmäßige Zusatzeinnahme zu seinem Gehalt zu kassieren. Der Polizist, der alles aufnahm, hat mich mit Fragen regelrecht bombardiert. Es dauerte eine Ewigkeit“, führte sie ihren Monolog weiter.
Desiree wollte gerade ihren Mund aufmachen, um ihr aus Höflichkeit zu versichern, dass ihre Verspätung nichts ausmachte, doch Barbara war schneller.
„Du Arme hast ja nicht einmal etwas zu trinken. War meine Sekretärin nicht hier, um dir etwas anzubieten?“, säuselte sie.
„Doch, sie war hier. Aber ich habe ihr gesagt, dass ich warte, bis du kommst“, kam Desiree endlich zu Wort.
„Warum denn das? Wenn ich dich schon warten lasse, kannst du es dir auch gut gehen lassen.“
„Das ist es nicht. Ich trinke nur gerne in Gesellschaft Kaffee.“
„Ich verstehe“, sagte Barbara freundlich. Sie ging zur Tür, öffnete sie und bat ihre Sekretärin um Kaffee für zwei Personen.
Nachdem die beiden Frauen in Ruhe ihre Tassen geleert hatten, führte Barbara Desiree durch den riesigen Gebäudekomplex der Filmstudios. Es war wie der Beginn eines aufregenden Abenteuers und Desiree hoffte immer noch, dass es kein Traum war.
Sie versuchte sich jedes Detail der langen Gänge einzuprägen, um sich bald selbstständig zurechtfinden zu können. Aber ihr war klar, dass das kein leichtes Unterfangen war bei den vielen Möglichkeiten an Abzweigungen, die es hier gab. Für den Augenblick kam es ihr vor wie ein Labyrinth.
Endlich hielt ihr Barbara die Tür zu einem der meterhohen Räume auf, in denen gedreht wurde. Es war beeindruckend, einen ersten, wenn auch flüchtigen Eindruck von der Kulisse und der Technik zu erhalten.
„Ich werde dir den Regisseur vorstellen. Ah, da hinten ist er ja“, flötete Barbara. Desiree entdeckte den Mann, auf den die Produktionsleiterin deutete. „Sein Name ist Johannes Siebenreich, aber alle nennen ihn Joe“, erklärte Barbara der neuen Drehbuchautorin, während sie zu dem eben Genannten eilte.
Desiree schüttelte seine Hand und begann, ihn unbewusst zu mustern. Joes Äußeres war das eines in die Jahre gekommenen Hippies. Er hatte lange, ergraute Haare und die bunteste Kleidung, die sie je an einem Mann gesehen hatte. Aber er schien ein angenehmer und guter Kerl zu sein.
Barbara verabschiedete sich und versprach, in einer Stunde wiederzukommen. Der Regisseur zeigte Desiree inzwischen die verschiedenen Sets, die bereits zur Verfügung standen. Es war wie ein Eintauchen in die unterschiedlichsten Welten.
„Deine realistische Erzählweise kommt uns sehr entgegen, da wir viele Kulissen haben, die wir verwenden können“, erklärte ihr Joe.
Desiree war fasziniert von den hohen Räumen, den unzähligen Scheinwerfern und technischen Geräten, die für die Dreharbeiten notwendig waren. Es kam ihr so vor, als tummelten sich Tausende von Menschen in den Hallen, um an den unterschiedlichsten Dingen zu arbeiten, die Film- und Fernsehproduktionen so mit sich brachten.
„Fantasiegeschichten sind weit aufwendiger und komplizierter, da immer ganz spezielle Sets und Kostüme gebraucht werden. Das macht das ganze kostspieliger und zeitintensiver. Das ist auch der Grund, warum fantastische Welten meist in Mehrteilern abgedreht werden. Um die Bauzeit der Sets zu rechtfertigen und die Kosten zu minimieren.“