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Die Sexualwissenschaft – mehr als die Summe der einzelnen Teile

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Diese Umstände haben dazu geführt, dass die Sexologie sich zu einem Spezialgebiet entwickelt hat, obgleich der Titel »Sexualtherapeut« nicht geschützt ist und es in der Sexualtherapie keine grundlegend anderen Methoden gibt als in anderen psychotherapeutischen Schulen. Die meisten Interventionen, derer sich Sexualtherapeuten bedienen, stammen aus der kognitiven Verhaltenstherapie und der systemischen Therapie wie die Psychoedukation, Sinnlichkeitsübungen, Kommunikationsübungen, langsam zunehmende vaginale Penetration mit Entspannungsübungen und Paartherapie (siehe z. B. Leiblum 2007). Die Techniken sind höchstens insofern einzigartig, als sie meistens innerhalb eines sexologischen Rahmens angewandt werden und in normalen Gesprächen über das gesundheitliche Befinden keinen Platz finden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dies tatsächlich für eine Betrachtung der Sexologie als gesonderten Ansatz ausreicht, insofern ja die Interventionen sich nicht von denen anderer Psychotherapien unterscheiden (Binik a. Meana 2009).

Problematisch ist auch, dass es innerhalb der Sexualtherapie keinen Konsens darüber gibt, welche Methoden am besten geeignet sind. Therapeuten, die beispielsweise mit einem psychodynamischen Ansatz arbeiten, könnten ihre Interventionen als den übrigen überlegen darstellen, während andere Therapeuten wiederum unterschiedliche Gesichtspunkte hervorheben würden. Gleichzeitig fehlt es auf diesem Gebiet an Forschung und Dokumentationen, die die differierenden Behauptungen bestätigen könnten. Der Forschungsmangel in der Sexualwissenschaft gilt ganz allgemein (siehe z. B. Rosen 2007). Es gibt kaum Untersuchungen über die Wirkung psychotherapeutischer Maßnahmen in der Sexualtherapie, und die Erkenntnisse darüber, was ein gutes Ergebnis einer Behandlung ausmachen würde, sind noch immer unzureichend. Darüber hinaus ist es schwierig, die weniger »fassbaren« Werte in klinischen Studien zu messen, beispielsweise ein besseres Verständnis dessen, wodurch ein gutes Sexualleben befördert oder verhindert wird (Giraldi a. Wåhlin-Jacobsen 2016). Außerdem ist problematisch, dass wir gelernt haben, Sexualität oft ausschließlich als ein Verhalten zu betrachten, bei dem das physische Element eine herausragende Rolle spielt. Die Frage, ob »der Apparat funktioniert«, gerät in den Mittelpunkt, ähnlich wie man in der Populärwissenschaft häufig darauf fixiert ist, wie oft der Geschlechtsverkehr statistisch gesehen ausgeübt wird und welche Stellungen dabei eingenommen werden. Möchte man aber tatsächlich die Sexualität eines Menschen verstehen, ist die Einbeziehung der psychologischen und kulturellen Prozesse, die unser Verhalten beeinflussen, ausschlaggebend (Nagoski 2015).

Die Vielfalt der Sexualität wird deutlich, wenn man sich die Definition der WHO ansieht (siehe S. 17) und einige der Funktionen betrachtet, die Sex haben kann. In der Literatur zum Thema werden beispielsweise die sechs »R« genannt: 1) Reproduktion, 2) Relation (Beziehung), 3) Respekt, 4) Rekreation (Erholung), 5) Rehabilitierung und 6) Relaxation (Entspannung). Obgleich die reproduktive Funktion eine wichtige Rolle spielt, werden die psychologischen Wirkungen hoch bewertet (Møhl 2017a). Die Beweggründe für sexuelle Aktivität sind also vielschichtig. Die Forscher Meston und Buss (2007) haben in einer Studie Informanden nach ihren Motiven für sexuelle Handlungen befragt und dabei nicht weniger als 237 verschiedene Gründe herausgearbeitet. Sie haben diese in vier Motivkategorien eingeteilt, d. h. in physische (z. B. Stressreduktion), zielgerichtete (z. B. soziales Ansehen, Rache) und emotionale Beweggründe (wie Liebe oder Bindung) sowie Unsicherheit (z. B. zur Verhinderung des Partnerverlusts). Im Übrigen stellten die Forscher fest, dass es zwischen Männern und Frauen keine nennenswerten Unterschiede gab, beiden Gruppen waren 20 der 25 meistgenannten Motive gemeinsam.

Die Sexualität wird also durch ein dynamisches Zusammenspiel von biologischen, psychologischen, sozialen und kulturellen Faktoren bestimmt – mit anderen Worten: durch den gesamten Kontext. Das, was in einer Situation erregend sein kann, kann in einer anderen fehl am Platze wirken. Wenn jemand Ihnen zum Beispiel tief in die Augen blickt und »Dirty Talk« verwendet, kann das abhängig von den Begleitumständen sehr erregend sein oder ganz und gar verkehrt wirken.

Long stem roses are the way to your heart

But he needs to start with your head

Satin sheets are very romantic

What happens

When you’re not in bed

MADONNA – EXPRESS YOURSELF

Von daher könnte man sagen, dass sich unsere sexuell wichtigsten Körperteile nicht zwischen den Beinen, sondern zwischen den Ohren befinden – dass unser Gehirn also die erogenste Zone darstellt. Die individuelle Interpretation des Kontextes ist ein entscheidender Faktor dafür, ob jemand eine Situation als sexuell auffasst. Möchte man Menschen helfen, eine befriedigende Sexualität zu entwickeln, muss man herausfinden, wie das erotische Profil jedes einzelnen Klienten beschaffen ist.

Das erotische Profil setzt sich aus diesen Elementen zusammen:

bisherige Erfahrungen

Fantasien und Wünsche

erotische Fähigkeiten und erotisches Repertoire

aktuelles Sexualleben

(Clement 2006)

Physische Faktoren wie zum Beispiel die Erektionsfähigkeit sind keinesfalls unwesentlich, aber ein breiteres Verständnis der Sexualität ist erst dann möglich, wenn die psychischen Faktoren ebenfalls Beachtung finden. »Sex haben« ist ein komplexer Prozess, und möchte man einem Klienten helfen, eine zufriedenstellende Sexualität zu erlangen oder zu bewahren, ist es wichtig, sein sexuelles Potenzial zu untersuchen und seine Gedanken und Träume zu berücksichtigen (Csíkszentmihályi 2002). Entscheidend ist, dass die spezifischen persönlichen Faktoren in einer Situation aufgedeckt werden: Was erregt diese Person hier, und wodurch verliert sie die Lust? Das erotische Profil eines Menschen ist viel größer, umfangreicher und vielfältiger als seine sexuelle Physiologie oder sein Repertoire an sexuellen Techniken. Die mechanischen Aspekte der Sexualität sind relativ leicht wahrnehmbar und messbar, aber unsere eigene sexuelle Geschichte und unsere Vorlieben und damit auch unser sexuelles Profil sind sehr persönlich und schwer quantifizierbar (Morin 1995). In Gesprächen über Sex können die Wünsche, Gedanken und ungenutzten Möglichkeiten des Klienten erkundet werden. Bildlich ausgedrückt kann eine noch so detaillierte Seekarte nie alle Einzelheiten darstellen, die sich unter der Wasseroberfläche befinden. Es wird immer mehr zu entdecken geben als das, was sich oberflächlich zeigt, und die Dinge verändern sich stetig, sind Momentaufnahmen und ständig im Fluss, wandeln sich. So verhält es sich auch mit der menschlichen Sexualität, die eine eher flüchtige Größe darstellt.

Selbstverständlich dürfen mögliche physische Faktoren, die bei sexuellen Problemen eine Rolle spielen könnten, nicht ignoriert werden und sollten aktiv erfragt werden. Idealerweise sind diese fächerübergreifend anzugehen, d. h., falls der Klient einverstanden ist, sollte der Kontakt mit seinem behandelnden Arzt aufgenommen werden. Es könnte zum Beispiel der Fall auftreten, dass der Klient ein Medikament einnimmt, das die Sexualität beeinflusst. Obgleich die psychischen Folgen bei sexuellen Problemen oft die schwerwiegendsten sind, ist es wichtig, dass begleitende physische Faktoren entweder ausgeschlossen oder berücksichtigt werden können. Besonders dann, wenn die Probleme allgemein und nicht situationsbedingt sind, sollte auf jeden Fall der Kontakt zum Arzt des Klienten gesucht werden. Eine physiologische Untersuchung kann nicht nur nützlich sein, sondern wirkt auch beruhigend. Der Austausch zwischen den im Gesundheitsbereich in verschiedenen Funktionen Tätigen, zum Beispiel zwischen einem Arzt und einem Psychologen, ist langfristig der beste Weg, um dem Klienten zu helfen.

Mögliche relevante Probleme

Allgemeine Probleme: Sie treten ohne Ausnahme immer ein Bsp.: ein Mann, der in allen Situationen Erektionsprobleme hat.

Situationsbedingte Probleme: Sie treten nicht immer auf. Bsp.: ein Mann, der im Zusammensein mit einer anderen Person Erektionsprobleme hat, jedoch Morgenerektionen erlebt.

Viele Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten – das gilt auch für zahlreiche Psychologen –, sind zurückhaltend, wenn es darum geht, das Thema Sexualität in ihre Arbeit einzubeziehen, weil – wie oben bereits erwähnt – der Eindruck entstanden ist, dass dafür spezialisiertes Wissen benötigt wird. Während die Pioniere Masters und Johnson bahnbrechende Forschung im Bereich der Sexualwissenschaft lieferten, trugen sie leider zugleich dazu bei, dass diese als etwas Neues und Andersartiges aufgefasst und so weitgehend aus den übrigen psychotherapeutischen Fachrichtungen herausgelöst wurde.

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