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2SEX AUF DIE TAGESORDNUNG
ОглавлениеWie im vorherigen Kapitel bereits aufgezeigt wurde, hat die historische Entwicklung der Sexualwissenschaft eine Entfremdung der Sexualtherapie von der restlichen Psychotherapie zur Folge gehabt. Diese wurde von einem zunehmend medizinischen Zugang zur Sexualität mit dem Fokus auf sexuelle Störungen begleitet, der an die Stelle einer inklusiveren und positiveren Definition von Sexualität trat. Die Gefahr ist groß, dass sexuelle Probleme nur im Lichte der behandelten technischen Beschwerden verstanden werden, ohne Berücksichtigung der psychologischen, relationalen und situationsbedingten Faktoren, die die Beschwerden mit verursacht haben. Es ist sehr wichtig, dass nicht nur die Symptome behandelt werden, da sonst die Situation noch verschlimmert werden könnte, weil die Ursachen außer Acht gelassen wurden. Wie schon gesagt, ist der gesamte Kontext für das Verständnis des Symptoms entscheidend.
Beispiel
Wenn eine Klientin keine vaginale Lubrikation erzeugt (eine feuchte Scheide) und ihr die Verwendung eines Gleitmittels oder Öls empfohlen wird, ohne dass das Problem eingehender besprochen wurde, lässt man die Möglichkeit außer Acht, dass es einen Grund für den Lubrikationsmangel geben könnte. Es könnte zum Beispiel sein, dass die Partnerin es zu eilig hat und die Klientin nicht genug Zeit hat, erregt zu werden. Dies wäre jedoch nur eine von vielen möglichen Ursachen. Werden die zugrundeliegenden Zusammenhänge nicht genau untersucht und wird nur das Symptom behandelt, kann dies zu neuen Problemen führen – die Klientin könnte z. B. Lustlosigkeit entwickeln.
Wie bereits aufgezeigt, hat die Ausgrenzung der Sexologie als Fachbereich zur Folge, dass sie als Spezialgebiet aufgefasst wird. Es handelt sich dabei jedoch um ein Spezialgebiet ohne eigens definierte theoretische Richtung. In ihrem Artikel über die Zukunft der Sexualtherapie schreiben Binik und Meana (2009) sehr treffend, dass ein derartiger Sonderstatus nicht angemessen ist, da es tatsächlich nichts gibt, was die Sexualtherapie von anderen Formen der Psychotherapie unterscheidet. Andererseits ist es gerade dieses Bild von der Sexologie als besonderem Bereich, das dazu geführt hat, dass Menschen mit sehr unterschiedlichem fachlichen Hintergrund sich in diesem Feld tummeln.
Viele Menschen würden gerne über mehr Information zu sexuellen Themen verfügen oder Hilfe bei diesbezüglichen Fragestellungen und Herausforderungen erhalten, aber sie wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Es gibt eine verwirrend große Menge an Angeboten, für Laien ist es jedoch nicht leicht, beispielsweise zwischen einem klinischen Sexualtherapeuten mit akademischer Ausbildung und einem selbsternannten Sexualtherapeuten mit zweifelhaftem Fachwissen zu unterscheiden. Diese Unübersichtlichkeit wird von den Beteiligten im Gesundheitswesen leider kaum thematisiert oder kritisiert (Binik a. Meana 2009). Einige der eher pseudowissenschaftlichen Maßnahmen innerhalb der Sexualtherapie haben dazu beigetragen, dass die akademische Welt die Sexologie an den Rand gedrängt hat und Sexualwissenschaft höchstens als Wahlfach angeboten wird, ein Fach, das nicht wirklich ernst zu nehmen ist. Soll diese Entwicklung umgekehrt werden, müssen Psychologen und andere im Gesundheitswesen Tätige sich hierfür engagieren und der Sexualwissenschaft den notwendigen Stellenwert einräumen.
Diejenigen, die die Ansicht für übertrieben halten, dass die Sexologie an den Rand gedrängt geworden sei, sollten sich einfach nur einmal die Interessenorganisationen der Psychologen ansehen. In der American Psychological Association gibt es 56 verschiedene fachliche Gesellschaften, und mit Ausnahme des LGBT+-Bereichs, der sich um die Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und transgeschlechtlichen Personen kümmert, gibt es keine Interessengruppe oder Arbeitsorganisation, die für die Sexualität zuständig ist (APA 2017). Derzeit zeichnet sich im Verband dänischer Psychologen und Psychologinnen, dem Dansk Psykologforening, das gleiche Bild ab – von den 27 fachlichen Gesellschaften gibt es keine einzige, die sich offiziell dem Bereich der Sexualität widmet.
Auch im deutschen Berufsverband gibt es keine Sektion, die sich der Sexualität annimmt.2 Da sexuelle Probleme sich typischerweise innerhalb von Beziehungen abspielen, wäre die Psychotherapie eine naheliegende Behandlungsmethode, statt die Sexualtherapie zu delegieren und auszulagern in ein anderes Fachgebiet. Zum Glück kann hier Abhilfe geschaffen werden. Wie Moser (2009) argumentiert, wären bereits ein paar wenige Artikel in psychologischen Zeitschriften hilfreich, die thematisieren, wie einfach es ist, verhaltenstherapeutische, kognitive und psychodynamische Ansätze bei der Behandlung von sexuellen Herausforderungen anzuwenden. Darüber hinaus könnten im ganzen Land Interessengruppen etabliert werden. Psychologen könnten sich in höherem Maße in die sexualpolitischen Debatten einmischen und in den Medien äußern. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, die Sexologie sei ein Spezialgebiet – oder, schlimmer noch, im Grunde überflüssig. Sehr viel mehr Menschen könnte geholfen werden, wenn wir diese Aufgabe gemeinsam angingen.