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1DIE SEXOLOGIE – EINE WELT FÜR SICH?

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Die Sexologie oder Sexualwissenschaft befasst sich mit der Lehre vom Geschlechtsleben und einem breiten Spektrum sexueller Themen, von denen ein großer Teil die Welt der Psychiatrie und Psychologie berührt.

Die WHO definiert Sexualität als:

»… einen zentralen Aspekt des Menschseins über die gesamte Lebensspanne hinweg, der das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, die Geschlechterrolle, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung einschließt. Sie wird erfahren und drückt sich aus in Gedanken, Fantasien, Wünschen und Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltensmustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen. Während Sexualität all diese Aspekte beinhaltet, werden nicht alle ihre Dimensionen jederzeit erfahren oder ausgedrückt. Sexualität wird beeinflusst durch das Zusammenwirken biologischer, psychologischer, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, ethischer, rechtlicher, religiöser und spiritueller Faktoren (WHO 2006, S. 10).«

Forschungsergebnisse stellen konsequent eine kausale Verbindung zwischen sexueller Gesundheit und messbaren Faktoren wie der Lebenszeit, dem Schlaf, der physischen Verfassung und Depressionen her. Es ist also bekannt, dass es zwischen dem sexuellen Wohlbefinden und dem allgemeinen Gesundheitszustand einen engen Zusammenhang gibt (Veldman 2014). Besonders auffällig ist die enge Verbindung zwischen sexuellen Problemen und psychischen Schwierigkeiten. Die Forschung zeigt auch, dass Problemstellungen sexueller Art sich markant negativ auf das allgemeine psychische Wohlbefinden auswirken können (Leiblum 2007). Die Sexualwissenschaft ist demnach ein Fachgebiet, das in hohem Maße zum Bereich der Psychologie gehört. Obwohl sexuelle Probleme auch andere Spezialgebiete wie beispielsweise die Gynäkologie betreffen, benötigen die Klientinnen in der Regel auch eine psychologische Beratung (Kristensen 2007). Ist eine Person von einer vorrangig physischen Dysfunktion betroffen, zeigt die Forschung, dass die psychischen Folgen, wie beispielsweise der Verlust von Identität und Intimität, den größten Anlass zur Sorge darstellen (Graugaard, Pedersen og Frisch 2015). Klienten mit einer sexuellen Dysfunktion haben ein etwa doppelt so großes Risiko, an Depressionen zu erkranken, wie Klienten mit einer gelingenden Sexualität (Møhl 2017b), und für ein Paar kann eine sexuelle Dysfunktion zum Verlust von Nähe und Intimität führen, was allein schon von schwerwiegender Bedeutung ist. Fehlen die nötige Ruhe und das gegenseitige Vertrauen, um die mit sexuellen Problemen einhergehenden Schwierigkeiten zu besprechen, besteht das Risiko, dass sich das Paar auseinanderlebt.

Wir werden oft mit Zahlen und Fakten konfrontiert, wissen jedoch relativ wenig darüber, was die Sexualität für die Betroffenen jeweils bedeutet. In der Psychotherapie – und insbesondere in der Paartherapie – ist es daher wichtig, offene Fragen über das Sexualleben zu stellen, und es ist ebenso wichtig, dass der Therapeut einen sicheren Rahmen dafür zur Verfügung stellt, in dem dieses wichtige Thema behandelt werden kann.

Leider erhält die Sexualität in der öffentlichen Förderung der Bevölkerungsgesundheit und im Gesundheitswesen nur wenig Aufmerksamkeit. Sie wird meist nur dann beleuchtet, wenn es um Vorbeugungsmaßnahmen oder Dysfunktionen geht; viel seltener gilt das Interesse dem allgemeinen sexuellen Wohlbefinden und einer gesunden Sexualität. Der populärwissenschaftliche Markt, auf dem pseudowissenschaftliche Theorien viel Aufmerksamkeit erhalten, ist dagegen groß (Graugaard, Pedersen og Frisch 2015). Insofern bedarf es einer umfassenderen Sicht auf die Sexualität, da sexuelle Gesundheit mehr ist als nur die Abwesenheit von Krankheit.

Die WHO beschreibt sexuelle Gesundheit wie folgt:

»Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt. Sexuelle Gesundheit lässt sich nur erlangen und erhalten, wenn die sexuellen Rechte aller Menschen geachtet, geschützt und erfüllt werden (WHO 2006).«

Nicht nur für die meisten Dänen trägt ein gutes Sexualleben wesentlich zur Lebensqualität bei. Dennoch haben viele Fachkräfte im Gesundheitswesen – das gilt auch für Psychologen und Psychotherapeuten – das Gefühl, nicht die nötigen Kompetenzen zu besitzen, um ein Gespräch über Sex einzuleiten. Dies ist jedoch nicht das eigentliche Problem, da Psychologen daran gewöhnt sind, mit anderen Menschen über schwierige Themen zu sprechen. Verstärkend wirkt vielmehr die fehlende Kenntnis darüber, dass den meisten Klienten bereits mit relativ wenigen Maßnahmen geholfen werden kann (Graugaard, Pedersen og Frisch 2015).

Im Gesundheitswesen kann man Menschen mit sexuell bedingten Problemen überall begegnen, und oft reicht es für eine bessere Befindlichkeit schon aus, dass der Therapeut bereit ist, dem Klienten zuzuhören und sich für seine Sorgen zu interessieren. Viele Therapeuten wissen dies nicht – oder wenn sie es wissen, meinen sie, mehr Übung und Erfahrung zu benötigen, um ihre Methoden, wie beispielsweise das aktive Zuhören, auch bei gefühlsgeleiteten und sexuell aufgeladenen Themen einsetzen zu können. Das Trainieren solcher Gespräche ist vor allem deshalb wichtig, um die eigenen emotionalen und mentalen Barrieren abzubauen. Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn die durch den Klienten angesprochene Form der Sexualität sich außerhalb des eigenen Erfahrungsbereichs befindet oder als grenzverletzend empfunden wird. Ist das sexuelle Verhalten nicht gesetzeswidrig, ist es wichtig, sich angesichts der Prioritäten anderer Menschen in Bezug auf die Sexualität tolerant verhalten zu können (Johansen, Thyness og Holm 2001). Dieser Aspekt wird in den Kapiteln 4 und 7 vertieft.

Die Unterscheidung zwischen Psychotherapie und Sexualtherapie mag bei genauerem Hinsehen willkürlich erscheinen, denn wie sich später herausstellen wird, ist unklar, worin der therapeutische Anteil in einem Gespräch über Sexualität genau besteht und was in der Sexualtherapie, d. h. in der sexologischen Beratung und Behandlung, grundsätzlich anders sein soll als in anderen psychotherapeutischen Richtungen. Insofern ist die Frage naheliegend, warum Psychologen und Psychotherapeuten sexuelle Themen nicht bereits in viel höherem Maße in ihre Behandlungen einbeziehen, als dies derzeit der Fall ist.

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