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AM WEISSHORN

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Am heimatlichen Hoteleingang läuft ihm Herr Kühnert über den Weg. Langjähriger Stammgast des Hauses und Notar aus dem Allgäu. Oftmaliger Begleiter von Martin auf einfachen, unvergessenen Fototouren.

„Hallo Martin. Wir wär’s noch mit einer kleinen Tour? Vier Tage bin ich noch bei Euch.“ „Guten Abend, Herr Notar. Natürlich, machen wir. Morgen muss ich Nachmittag nach Bozen. Tags darauf wäre ich aber zu haben.

Was soll’s sein, Herr Kühnert. Eventuell übers Tschamin-Tal zur Grasleitenhütte? Und übers Tierser-Alpl und die Rosszähne, falls nicht zu viel Schnee drinnen liegt, auf die Seiser-Alm, von wo uns der Nachbar Lois abholen könnte.

Oder machen wir’s gemütlicher. Vom Jochgrimm auf das Weisshorn. Wäre mein Vorschlag.“ „O. k., Martin, das machen wir. Freue mich riesig darauf!

Übrigens, was ist mit Ihrer Weltreise. Ihrem langjährigen Traum?

Wenn Sie einen guten Partner benötigen für nötige Verträge, die sicherlich nicht ausbleiben, ich ließe mit mir gerne darüber reden!“ „Ja, danke, lieber Herr Kühnert. Auf das komme ich bei Bedarf gerne zurück.

Mitte Dezember soll’s losgehen.

Mein Gott, die ersten Weihnachten ohne meine Familie und den Bergen. Jedoch umso schöner wird die hoffentlich glückliche Heimkehr.

Sie werden es erfahren!“ Es ist ein frischer, typischer Herbstmorgen.

Der Himmel ist bedeckt und Morgennebel in silbrigen Schleiern windet sich durch das Tal. Pünktlich, wie verabredet um 8.00 Uhr, fährt Martin seinen Wagen aus der Garage des Hotels.

Herr Kühnert ist schon zur Stelle und grüßt winkend. Man merkt, dass er sich auf diesen heutigen Tag freut wie ein Kind, zumal Martin nach einem flüchtigen Blick zum Himmel meint, am Jochgrimm werde es aufreißen.

Für Kühnert kommt dieser Tag einem wahren Geschenk gleich. Mit seinem breitkrempigen, groben Stoffhut, marineblauer Bailo-Goretex-Jacke, lichter, schon etwas abgetragener Löffler-Hose und klobigen Lowa-Schuhen, erkennt man gleich, dass es heute nicht sein erster Tag in den Bergen ist.

Wenn er auch schon seinen Sechziger soeben überschritten hatte, ist er zweifellos eine sehr sportliche Erscheinung. Und auch seine Kondition kann sich durchaus sehen lassen.

Vor zwanzig Jahren schon sind die Kühnerts erstmalig im Tierser Tal aufgekreuzt und Martins Elternhaus treu geblieben.

Frau Kühnert ist vor einigen Jahren plötzlich verstorben. Martins Mutter hat Helga Kühnert, ihrer besten Freundin, lange nachgetrauert und vermisst ihr fröhliches Wesen noch heute sehr. Hatte sich über Jahre doch eine sehr tiefe, harmonische Verbundenheit ergeben, die umso mehr Martins Mutter nach dem Tod ihres Mannes über vieles hinweggeholfen hat.

Umso liebvoller sorgt seither das gesamte Haus Völler alle Jahre wieder für einen, ja man könnte es auch einen wohltuenden, familiären Aufenthalt mit heimeliger Nestwärme ihres liebgewonnenen Notars nennen.

Raureif und heftige Windböen, die Wolkenfetzen vor sich hertreibend, begleiten sie die Serpentinen hinauf zum Niger-Pass.

Unterwegs kommen sie auf Martins Reise zu sprechen. Viel Organisation, Geduld, Umsicht, mit andauernden Rückfragen und Änderungen bei Agenturen, Fluglinien und Hotelbuchungen, soweit er sich bereits festgelegt hat. Vieles davon, vor allem Termine, nimmt er sich für unterwegs vor.

Kühnert bewundert seinen Mut, sein Selbstbewusstsein und vor allem seine Überzeugung, nichts dem Zufall überlassen zu haben. Alles unabdingbare Voraussetzungen für das gute Gelingen seines Vorhabens. Davon war Martin einfach überzeugt, seinem Lebenstraum Raum zu geben.

Schon als kleiner Bub war er Kühnert ans Herz gewachsen. War er damals zwar noch ein liebenswerter Schlingel, hat er sich zu einem tüchtigen Menschen entwickelt. Sein freundliches, ehrliches Wesen und seine sympathische, soziale Art in Gesellschaft und Geschäft brachte ihm viel Anerkennung und Wertschätzung. Gepaart mit seinem guten Aussehen, war das eben sein Markenzeichen.

Oben auf der der Fromme-Alm halten sie an. Zu verführerisch ist rundum die klare Aussicht in die herbstlich geratene Natur, in ihrer Pracht und Großartigkeit.

Ein erhebender Anblick, der spürbar die Seele in Schwingungen versetzt mit der Vorfreude auf diesen Tag. Welch reiches Geschenk, welch unvergessenes, bleibendes Glück.

Das Auge schweift von der Laurinswand, Rosengartenspitze und der Rotwand, die noch tief im Schatten liegen, zu den schroffen Latemar-Spitzen, in denen schon ein vages Licht spielt. Über dem Eggen-Tal dem Westen zu, bis zum fernen, schneebedeckten Ortlermassiv mit der markanten Königsspitze, kündet schon ein zartes Blau, den sonnigen Tag an.

Am Parkplatz beim nahen Karrer See ebenfalls ein kurzer Stopp.

Zu verführerisch ist immer wieder der Blick auf den mystischen See, eingebettet in den urwüchsigen Latemar-Wald. Derzeit jedoch zeigt sich der See nicht in seiner stolzen Pracht. Der Wasserstand hat scheinbar durch den trockenen Herbst merklich gelitten und um die herausragenden vermoosten Steine zeigen sich finstere Wasserlachen, als hätten sie ihre Lebensfreude verloren.

„Aber wartet nur“, hört man scheinbar ihren flüsternden Ruf. „Wenn im Frühjahr an den Sonnenhängen am Latemar der Winterschnee zerfließt, sprudelnd durch den Wald den See zu neuem, funkelndem Glanz füllt.

Dann kommt und seht. Wenn die mächtigen 250 Jahre alten, bis zu 50 m hohen Fichtenstämme sich im strahlenden Türkis des Wassers spiegeln und im sanften Wind vom Latemar herunter die Wellen lustig jodelnd an die Steine klatschen. Ja, dann werdet Ihr verstehen, warum ich einer der meist fotografierten Seen Südtirols bin. Nicht umsonst hat sich der Wald an meinen Ufern zum größten Fichtenwald Europas gewandelt. Nicht umsonst ist mein Holz besonders für edle Saiteninstrumente als der beste Klangkörper beliebt und begehrt. Fragt sie einmal alle, die Geigen- und Orgelbauer. Wie wertvoll und unverzichtbar mein Holz aus der Haselfichte ist.

Wer weiß schon, ob nicht auch die berühmte Stradivari-Geige in Cremona hier ihre Wurzeln hat!“ „Was ist eigentlich mit Deiner Geige, Martin? Stammt sie auch aus diesem Zauberwald?“, kommt die überraschende Frage Kühnerts.

„Ich weiß lediglich, dass diese mein Vater von seinem Großvater vererbt bekam und angeblich von einem Geigenbauer im bayrischen Mittenwald kommt.

Jedenfalls ist sie mein Lieblingsinstrument und meine Freude.“ Martin war den Eltern schon als Kind mit seinem musikalischen Talent und der Freude zum Gesang in der Familie aufgefallen. Man wusste nicht so recht, woher er diese Gabe hatte. Lediglich Mutter besaß eine schöne Stimme. Das war’s dann aber auch schon.

Als ihm endlich die erste Blockflöte fad wurde, schenkte man ihm Großvaters Violine nebst Unterricht bei einem pensionierten Musiklehrer aus Bozen. Da spielte er dann begeistert darauf los, dass es sämtlichen Schafen im Tal die Haare aufstellte.

Jedenfalls wuchs er zum begnadeten Virtuosen auf der Geige. Spielte im Kirchenchor und bei vielen Anlässen, wo man sehnlichst und begeistert auf sein Ave Maria wartete.

Martin hatte recht behalten.

Drüben am Jochgrimm auf 1.980 m Höhe erwartet sie gleißendes Sonnenlicht. Der Wind frischt auf und die Sicht wird klar.

Vom Weisshorn leuchten schon die bleichen Felsen, als sie vor der kleinen Kapelle auf der Scheitelhöhe ihre Bergschuhe schnüren, um über die Wiesen und Latschenfelder beim Skilift den Aufstieg zu starten.

Oben, beim Gipfelkreuz machen sie auf blankem Fels gemütlich Rast.

Martin kramt in seinem Tagesrucksack und bringt, wie es eben geliebte Tradition und am Berg Sitte ist, wahre Leckerbissen zum Vorschein. Die Klassiker auf Bergeshöhen, Speck, würzige Kaminwurz, italienische Salami, dunkles Roggenbrot, gewürzt mit Brotklee aus dem Pustertal und die typischen „Vintschgerln“, Schüttelbrot und etwas Obst.

Und so erzählt er so manche Bergerlebnisse und Geschichten und findet bei Kühnert einen faszinierten Zuhörer. Wann findet sich auch schon Gelegenheit, aus so berufenem Munde wahre Abenteuer in Fels und Eis, zwischen Himmel und Erde zu hören.

Allmählich ist es Mittag geworden.

Die Sonne steht hoch am wolkenlosen Himmel und es tut im Spätherbst einfach gut, wie ihre Strahlen den blanken Felsplatten noch ein wenig Wärme schenken.

Von der Wallfahrtskirche des nahen Maria Weißenstein schallen leise und beinahe verträumt die Mittagsglocken herauf und friedvolle Stille legt sich über Land und Bergeshöhen.

Martin und sein Begleiter üben sich in ehrfurchtsvollem Verhalten im Anblick dieser majestätischen Kulisse im Dolomitenrund.

Das Spiel der Sonne von gleißendem Licht und Schatten in den schroffen Spitzen und Zacken des nahen Latemar-Gebirges bis hin zu den leuchtenden Wänden des Rosengartens. Der sagenumwobene Schlern grüßt von Norden und weit dahinter die Ötztaler Alpen mit ihren gleißenden Schneefeldern und Firnen, weiter dem Westen zu der ehrwürdige Ortler mit der blendend weißen Königsspitze, südlich begrenzt von den markanten Gipfeln der Brenta Gruppe.

Und von hier oben vom Weisshorngipfel ist es ein schwindelnder Blick hinunter in die geologisch hochinteressante Blettenbach-Schlucht, die Aufschluss gibt über das Werden der Dolomiten, wie vielseitige Muschelabdrücke und Meeresablagerungen beeindruckend bezeugen.

Eine einzige, atemberaubende Reise durch Jahrmillionen Erdgeschichte.

Talwärts auf den grünen Matten gegen Deutschenofen hin grüßt der alte Tiroler Wallfahrtsort Maria Weißenstein mit dem Bild „der schmerzhaften Mutter Gottes“.

Heute sorgen sich Patres des Servitenordens um das Wohl der zahlreichen Pilger, die keine Mühen scheuen, um hinaufzupilgern, um Heil und Segen zu erfahren in ihren Anliegen.

Wie eh und je in diesem Land mit seinem stolzen Leid.

Geknetet in Blut und Tränen.

Aber welcher Segen liegt heute über diesem gottgelobten Land, wenn man gegen Süden und Westen blickt.

In saftigem Grün zeigen sich die paradiesischen Apfelgärten unten im Etschtal, überlagert von den üppigen Weinhängen in Überetsch in ihrer herbstlichen Farbenbracht. Fürstlich bewacht von der steil aufragenden Mendelhöhe. Ein einziger Garten Eden.

„Mensch, Martin, welcher Anblick“, findet endlich Kühnert Worte. „Danke, dass Du mich hier heraufgeführt hast. Diese Vielfalt, diese Pracht, man fasst es nicht!“ „So ist es, lieber Herr Notar. Hier ist einer der seltenen Plätze, um die Schöpfung zu schauen, von den Schneegipfeln und Bergeshöhen bis ins Paradies mit Apfel und Wein.

Ein leises Ahnen von der Fülle dieses gesegneten Landes!“ „Wenn ich dir zuhöre, Martin, ist dir dieses Weisshorn an das Herz gewachsen.“ „Sie sind mir tatsächlich auf die Spur gekommen und ich will Ihnen etwas verraten, was nicht viele wissen.

Oft, am zweiten Sonntag nach Fronleichnam, wenn das „Heilige Herz-Jesu-Fest“ gefeiert wird, das bei uns in Südtirol von jeher große Bedeutung hat, treibt es mich zum Weisshorn.

Dann, wenn die Nacht hereinbricht, erglühen hunderte Feuer mit dem Herz-Jesu-Symbol, rundum auf Wiesen, Scharten, Bergkämmen und Gipfeln.

Ein heiliger Schauer breitet sich über das Land, als ehrlicher Dank für diese Gottesgaben, verpackt in eine begnadete Natur in ihrer Vielfalt und Herrlichkeit.“ „Wieso Martin, ist das speziell nur bei euch so in Südtirol?“, kommt die erstaunte Frage.

„Das geht zurück auf das 18. Jhdt. Die Angst ging um vor den drohenden Franzosenkriegen der napoleonischen Zeit. An den Grenzen loderte schon Feuerschein und Kriegsdonner hallte in den Schluchten und Tälern. Nacktes Entsetzen packte das geschundene Land.

Und nirgendwo Hilfe? Doch, eine gibt es – raste die Botschaft wie ein Flammenmeer durch Täler, Städte, Almen, Höfe und Bergeshöhen.

„Heiliges Herz Jesu“ hilf und beschütze unsere Heimat. Lass unser Tirol dir empfohlen sein.

Und so gelobte der Landtag 1796 alljährlich dieses Fest feierlich zu begehen.

Ja, so war es dann auch. Das Land hat diesen Hilferuf nie vergessen und tausende Segensfeuer zum Dank, bezeugen jährlich am „Hl. Herz-Jesu-Sonntag“ ihren Glauben.

Alle Jahre wieder, wenn die Dämmerung hereinbricht und über Gipfeln und Graten noch ein letztes, zartes Licht steht, erglühen schlagartig unzählige Feuersymbole mit dem Herzen und Kreuz Christi. Lobpreis und Dank sprühen mit den Funken zum Himmel. Es ist der Moment, da auch die ersten Sterne aufleuchten, als sei es eine himmlische Botschaft der Erwiderung.“ „Und?“, will Herr Kühnert wissen, „sehen das auch die jungen Leute so? Diese mühsame Vorbereitung, das Holz auf die Berge. Wenn es der Traktor nicht mehr schafft mit Händen und Seil auf die Felsen. Da könnte man schon verstehen, dass die Bereitschaft dazu abnimmt.“ „Keineswegs“, sagt Martin überzeugt. „Die Bereitschaft ist immer noch groß. Wenn auch die spirituelle Begeisterung nicht mehr dieselbe Tiefe hat, so ist dies mehr der Tradition und dem Erlebniswert geschuldet.“ Der Schatten des Gipfelkreuzes war länger geworden und mahnte zum Aufbruch. Es ist einer der Tage, der für beide viel zu früh zu Ende geht. Den Blick ins Tal könnte man noch stundenlang genießen. Obwohl die Alpenflora mit Almrausch und Alpenrosen längst verblüht ist, das monotone Bimmeln der Kuhglocken von den Almen herauf verstummt ist, um dem heiligen Almfrieden zu weichen.

„Es hat schon was für sich, dein Südtirol“, wendet sich Kühnert Martin zu, während er sich zum Aufbruch fertigmacht.

„Wie es ja auch in Eurer heimlichen Hymne – Wohl ist die Welt so groß und weit … so treffend schön besungen wird.“ „Ja wirklich“, meint Martin. „Jedoch die ehrlichste, letzte Strophe steht in keinem Text und singen nur wir, wenn uns das Herz aufgeht.“ Und plötzlich erhebt er sich und seine sonore Stimme erklingt unterm Gipfelkreuz seines Weisshorns.

„Drum auf und stoßt die Gläser an es gilt der Heimat mein, die Berge hoch, das grüne Tal – mein Mädel und der Wein.

Und wenn einmal – so leid’s mir tut, mein Lebenslicht erlischt, freu’ ich mich, dass der Himmel auch, schön wie die Heimat ist!“

Und während ein sachter Nordwind vom Schlern her die letzten Töne in die Berge trägt, fühlt Kühnert plötzlich die kräftige Hand Martins auf der Schulter.

„Das, lieber Herr Notar, habe ich Ihrer Frau, Ihrer lieben Helga gewidmet!“ Er drückt seinem väterlichen Freund innig die Hand und wendet sich talwärts, der Gurdin-Alm zu.

Wortlos folgt ihm Kühnert und ist froh, dass Martin nicht merkt, wie ihm einige dicke Tränen über die Wangen rollen.

Eisblumen

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