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Erstes Kapitel

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Herr Geiger, setz’ an, der Brummbass geh mit!

Mein Tänzer — komme in Minne,

Erlaub’, dass den Tanz ich beginne.

Drei Männer, ein älterer und zwei in mittleren Jahren, gingen durch die Tore zur psychiatrischen Klinik.

„Nun schliessen sich die Tore der Vernunft hinter mir,“ sagte der eine der dreien. Dieser Mann war über mittelgross, schlank, doch kräftig und sehnig, er ging vornübergebeugt. Sein Gesicht, schon seit einem Monat unrasiert, war ruhig und gleichgültig, als ginge da eine unwesentliche, fremde Sache vor sich. Nur aus seinen Augen blickten dann und wann wie ein Blitz, der die Nacht erhellt, unbändiger Trotz und Spott. Seine Begleiter waren erregt. Der jüngere schaute immer wieder voll Mitgefühl und Grauen auf den Häftling. Seine Augen sagten: „Er kommt nicht mehr lebend aus diesem Hause.“ Der ältere suchte in allen Taschen mit raschen Händen, während die dreie vor der Pförtnerstube standen, und machte sich weiter keine Gedanken. Endlich zog er einen bedruckten und beschriebenen Schein hervor, dann legitimierte er sich: „Oberwachtmeister Saus mit Begleitung, ausnahmsweise in Zivil!“ sagte er.

Der mürrische alte Pförtner sah mit einem raschen Blick auf die beiden Begleiter, seine Augen huschten wie Mäuse in der Stille, dann schaute er den Häftling misstrauisch an. Währenddem hatte er schon, wie eine alte Maschine, die immer dasselbe tut, den Wärtern geklingelt. Drei kräftige Männer der Tagwache in weissen Schürzen und Jacken kamen, wie aus den Türen gespuckt, von drei Seiten heran, scheinbar wie zufällig. Ihre Augen zeigten, dass sie griff- und sprungbereit waren, den „Neuen“ sicher zu fassen. Der Häftling schaute die dreie ruhig an und fragte seinen jüngeren Begleiter:

„Können wir jetzt gehen?“

Da machte der eine Wärter, ein blonder und baumstarker Mann, der stellvertretende Oberwärter, lächelnd eine einladende Handbewegung und sagte:

„Bitte gehen Sie nur in das Wartezimmer, der Herr Oberarzt wird gleich kommen.“

Der blonde Wärter stellte sich neben den Häftling, wies mit seiner greiffesten Hand voraus über den breiten hallenden Korridor und sagte:

„Dort ist das Wartezimmer!“

Der Häftling war stehengeblieben, der Blonde blinzelte schier unmerklich. Die andern beiden, ein kleiner, mächtig Breitschultriger und ein schlanker, katzengeschmeidiger Mittelgrosser, stellten sich, die Eingangstür sperrend, sofort in den Rücken des Neuen. Der schaute sich langsam um, dann zuckte um seinen Mund ein kurzes, schwaches Lächeln. Sein jüngerer Begleiter aber sagte schier erbost und unwirsch zu den Wärtern:

„Das ist denn hier doch nicht notwendig!“

Einen Augenblick schaute der Häftling seinem jüngeren Begleiter in die Augen. Dieser Blick war beredter als viele Worte. Dann wandte sich der Neue zu dem blonden Wärter und sagte hart, wie ein Mensch, der gewohnt war, zu befehlen:

„Gehen Sie voran!“

Ruhig ging der herkulische, blonde Wärter voraus, während der kleine Breite, unsicher seinen schwarzen Schnurrbart zwirbelnd, langsam folgte. Der schlanke Katzenflinke aber schaute überrascht und forschend dem Neuen nach, denn er hatte in dreizehn Dienstjahren Erfahrung noch keinen Neuen eben so gesehen. Er folgte als letzter hinter dem Oberwachtmeister. Der jüngere Begleiter ging neben dem Häftling und sagte leise und mit einem Ton in der Stimme, dem anzuhören war, dass er nur etwas Gutes sagen wollte, aber es selbst nicht glaubte, was er sprach:

„Es wird sicher nicht so schlimm werden!“

Der Oberwachtmeister Saus jedoch hatte schon wieder das Reisefieber. Er dachte in seinem alten Gendarmenschädel nur noch daran, ob er und der jüngere Begleiter auch noch den Zug nach Haus zur rechten Zeit bekämen; denn er wollte noch zwei Privatgänge machen, ehe er in sieben Stunden wieder zur Eisenbahnstation ging. Der Häftling antwortete seinem jüngeren Begleiter leise und ruhig; der jedoch fühlte einen warmen Ton in den Worten:

„Ich habe schon Böseres mitgemacht und ausgehalten, und dann geht auch die längste Zeit vorüber, lieber Herr Gefangenenwart.“

Der blonde Wärter klinkte die Tür auf zum Wartezimmer und liess die dreie eintreten. Die Wärter blieben aussen stehen. Der Blonde sagte:

„Ich melde Sie jetzt dem Herrn Oberarzt.“

Dann schloss er die Tür und befahl ruhig den Wärtern im Flur:

„Du, Krayer, und du, Fuchs, ihr bleibt zur Fürsorge mal hier.“

Drinnen im Wartezimmer herrschte ein drückendes Schweigen. Der Oberwachtmeister Saus dachte immer, ob die sieben Stunden auch ausreichten. Es hätte ihn arg verdrossen, wenn ihm etwas in die Quere gekommen wäre. So in Gedanken versunken, sass er auf einem Stuhl und schaute stier in die andere Ecke des Zimmers. Der Gefangenenwart aber stand an die Wand gelehnt, gegenüber der Bank, worauf der Häftling still und ruhig sass. Doch sah der Gefangenenwart wohl, dass einen kurzen Augenblick, schier unmerklich, ein wehes Zucken über das Gesicht des Untersuchungsgefangenen ging und rasch dem Ausdrucke der Verachtung Raum machte. Da ging der Gefangenenwart langsam im Wartezimmer auf und ab. Er kannte das Gesicht des Häftlings zur Genüge und wusste, was das bedeutete. Die Minuten wurden ihm lange und quälend, er trat an das vergitterte Fenster, öffnete es und atmete tief die kalte Winterluft, die von draussen in das von grauem Tageslicht trübe Wartezimmer strich. Dann sagte er beinahe mechanisch, um seine Gedanken abzulenken:

„Da drüben ist die Frauenabteilung!“

Wieder ging unter Schweigen die Zeit langsam dahin. Da ging der Gefangenenwart rasch zur Tür und wollte hinaustreten. Er stiess mit dem einen Wärter vor der Tür zusammen und fragte heftig:

„Müssen wir hier denn eine Ewigkeit warten?“

„Ja, bei uns hat schon mancher auf die Ewigkeit warten müssen, Herr,“ antwortete ihm der kleine Breitschulterige trocken.

Der Flinke aber ging sofort weg; es klappte Tür und Tür immer ferner; der Wärter holte den Oberarzt. Bald nachher tat sich die Tür zum Wartezimmer auf, und der Oberarzt, in langem, weissem Kittel, trat ein, gefolgt vom Oberwärter. Der Oberarzt konnte ein beginnender Dreissiger sein, das Gesicht war hart, die Augen hinter dem Kneifer lebhaft, scharf und klug. Seine Gestalt war gross und schlank, sein Wesen hatte noch den burschenschaftlichen Schneid. Der Oberwärter, ein älterer Mann mit goldener Brille, hinter der kluge Augen nicht ohne Humor aus einem schmalen Gesicht hervorschauten, mass mit einem kurzen Blick, gerade wie der Oberarzt, prüfend und wägend den Häftling. Der war aufgestanden, als die beiden eingetreten waren, und schaute ihnen entgegen. Der Arzt trat auf ihn zu und sagte rasch:

„Ich habe Ihre Akten gelesen.“

Der Häftling antwortete nicht.

„Der Oberwärter wird Sie zu Ihrem Bette bringen,“ fuhr nach einer Weile der Arzt fort, drehte sich auf dem Absatz und ging rasch zur Tür hinaus.

Der Oberwärter sagte mit einer durch lange Jahre angewöhnten Freundlichkeit:

„So, so wollen wir jetzt gehen, Herr!“ Der Häftling schritt auf seine Begleiter zu. Kühl gab er dem Oberwachtmeister Saus, der seine Reisegedanken verloren hatte und mit beiden Ohren horchte und den Augen sah, die Hand.

„Lassen Sie sich’s gut gehen, Wachtmeister!“ sagte der Häftling, dann wandte er sich zum jüngeren. „Und Ihnen, Herr Gefangenenwart, hab’ ich viel Dank zu sagen, nun aber grüssen Sie mir zu Hause meine Familie!“

Die beiden drückten sich die Hand, und ehe noch ein Wort weiter gesprochen wurde, wandte sich der Häftling und folgte dem vorausgehenden Oberwärter. Der Gefangenenwart ging mit dem Oberwachtmeister Saus mit langen Schritten über den Flur. Während dem Gehen sagte er laut, dass die Wärter verwundert horchten:

„Der Hauptmann ist so wenig verrückt wie ich, und wenn sie ihn behalten wollen, dann sorg’ ich dafür, dass ihn sein Rechtsanwalt aus diesem Hause holt.“

„Na, jetzt ist aber noch nichts zu machen, und dann, es ist ja auch egal um ihn, alle denken zu Hause so!“ meinte darauf der Oberwachtmeister Saus, und begann sich mächtig zu freuen, dass ihm seine Zeit nun doch reichen würde, „sein Programm“ zu erledigen.

Der Gefangenenwart aber dachte nach Haus an eine junge, schlanke Frau, die nachts weinte und am Tage mit blanken blauen Augen aufrecht durch die gaffenden Leute ging, so tapfer wie nur eine Frau sein kann, die einen tiefen Schmerz stille und wortlos verborgen im Herzen trägt. Und er dachte an die weisshaarige Mutter des Häftlings, die staunend am Fenster sass und nur das Weh fühlte, deren Kraft gebrochen war. Dann dachte er an zwei Jungen, denen der Häftling beim Abschied die Hände auf die Schultern gelegt und gesagt hatte:

„Gebt tüchtige Menschen, und haltet euch brav!“ Er sah die Jungen, die stolz auf ihren Vater waren, deren Augen sagten, was ihre Herzen voll kindlichem Vertrauen fühlten: „Wartet nur, ihr kennt ja unsern Vater alle nicht!“

Der Gefangenenwart wollte diesen zu Hause sagen: „Nur Kopf hoch, sie werden ihn im Narrenhaus nicht unterbekommen!“ Das wollte er sagen, auch wenn er es selbst nicht glaubte.

So glücklich die Reise für den Oberwachtmeister ausgefallen war, zum Schluss klappte es nicht mehr. Alles war gut gegangen, bis sie zu Hause auf der Bahnstation ankamen. Da wollte der Oberwachtmeister Saus, in Zivil, aus dem Abteil aussteigen. Seine Gefühle waren beschwingt, und er wurde unachtsam. So kam ihm, als die Lokomotive noch einen kleinen Ruck machte, sein Regenschirm zwischen die Beine. Der Schirm zerbrach und trübte die Erinnerung an die glückliche Fahrt.

„Nu ja,“ murrte er unverdriesslich, „man muss nur so einen verfluchten Kerl transportieren, und schon passiert einem ein Pech.“

Der Gefangenenwart hörte nicht hin, er ging eilig nach der Wohnung des Häftlings, noch ehe er sich nach Hause begab.

Die Zerrütteten

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