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Viertes Kapitel

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Und schreitet der Tänzer auch grotesk daher,

Den Tanz kannst du schon wagen,

Musst lachen nur, nicht klagen.

Die Tagwache verliess den Dienst, nur die Zwischenwache verblieb noch bis acht Uhr. Die Zimmertüren zum Saale wurden geöffnet. Schon um sieben Uhr mussten alle Patienten zu Bett gehen. Aus Saal und Zimmer wurden die Stühle hinausgetragen, nur ein leichter Korblehnstuhl blieb vor dem langen Tische stehen für die Nachtwache. Unter allen offenen Türen stand, als Zwischenwache, auf die Nachtwache wartend, ein Wärter. Die Zimmerstation hütete der Wärter Krayer. Langsam wurde alles still und ruhig; nur dann und wann schlüpfte leise eine Gestalt aus irgendeinem Bett, um auszutreten. Da rief der ältere Mann, der neben dem Zimmer des Häftlings lag:

„Wärter, Wärter!“

Rasch wandte sich der Wärter Krayer zu des Kranken Bett: „Was soll’s, Herr Lehmann?“ fragte er.

„Wasser, Wasser, Wärter, Wasser!“ sagte Lehmann hastig.

Krayer ging rasch durch den Saal, um Wasser zu holen. Da richtete sich draussen im Saale, dessen eine Längsseite von dem Bette des Häftlings zu überblicken war, der Irre Roser rasch auf. Er schlüpfte unter der Decke hervor und sprang mit grossen, geräuschlosen Schritten nach dem Zimmer. Unter der Tür blieb er stehen, lief dann von Bett zu Bett, schaute den darin liegenden genau an und stellte sich zuletzt vor den Häftling hin:

„Zigeuner, Zigeuner!“ stammelte er mit zuckenden Händen, „du musst hin sein, ganz hin!“

Seine Arme zuckten auf und streckten sich nach dem Häftling und sanken dann wieder schlaff zur Seite herab. Der kleine Goldschmied richtete sich in seinem Bette auf und schaute mit grossen, runden Augen, dann kicherte er und rutschte langsam über sein Lager hinunter. Er kam mit breitspurigen, wiegenden Schritten näher, voll Spannung. Der Roser aber beachtete ihn nicht. Für ihn war nur noch der Häftling auf der Welt, gebannt hingen seine Augen an diesem, er murmelte immer wieder: „Kaput machen, hin muss er sein!“ Dann streckte er langsam seine Hände aus, um den Häftling zu erwürgen. Da kam der Wärter Krayer mit einem Wasserbecher in der Hand durch den Saal. Er sah den Roser vor dem Bett im Zimmer stehen.

„Kommt!“ rief er und stellte im Vorübereilen den Wasserbecher auf das Fenstergesimse. Als der Roser den Häftling um den Hals fassen wollte, mit kralligen Fingern, packte der Wärter ihn von hinten um die Handgelenke und zog, mit einem Ruck, dem Roser die Arme auf den Rücken. Der Irre brüllte wie ein reissendes Tier und riss mit unbändiger Kraft seine Arme aus Krayers Händen. Währenddem war die Tür zum Flur aufgegangen, der Oberwärter kam mit zwei Wärtern ins Zimmer gestürzt. Durch die offene Tür zum Saal herein liefen, wie aus dem Boden gestampft, einige Wärter heran. Der Roser rannte nun gegen den Oberwärter, und ehe er gefasst werden konnte, nahm er diesen an den Oberarmen und hob ihn, wild schreiend, in die Höhe. Dann warf er ihn, jauchzend vor Freude, gegen die Flurtür, dass diese in den Fugen krachte und der Oberwärter sich am Boden wälzte und vor Schmerzen laut aufschrie. Dann packte Roser den kleinen Goldschmied und drückte den in sein Bett. Da griffen die herbeigeeilten Wärter zu. Sie rissen ihm die Arme zurück, einer fasste ihn oberhalb des Fusses und zog ihm den vom Boden weg. Zwei andere brachten die Decken und wickelten ihn hinein. Ein Wärter kam mit der Spritze in der Hand und jagte ihm die Nadel durch die Decken ins Fleisch. Roser schrie, als wäre die Hölle über ihm. Der kleine Goldschmied weinte und zitterte vor Furcht. Roser aber wehrte sich, er riss sich los und lief den Wärter Krayer an. Doch wieder packten ihn die Wärter und rissen ihn zu Boden, wo sie ihn niederhielten. Der Oberwärter war ächzend aufgestanden, er hielt sich die Seiten und stöhnte:

„Ich glaube, der Mensch hat mir die Rippen gebrochen!“

Roser schrie gellend und wälzte sich auf dem Boden, die Wärter lagen über ihm und drückten ihn nieder.

„Noch eine Spritze, und dann legt ihn, in einen kalten Wickel, in die Decken gewickelt, ins Bett,“ befahl der Oberwärter. Wieder stach ihm ein Wärter die Spritze, durch die Decken, ins Fleisch und jagte ihm Scopolamin in den Leib. Dann trugen sie den sich Windenden in den Saal hinaus in sein Bett. Der Oberwärter, der der Nachtwache Bescheid wegen des Häftlings sagen wollte, hinkte stöhnend zur Flurtür hinaus.

Da kehrte Krayer zur Zimmerstation zurück.

„Der Kerl hat Kräfte wie ein Bär,“ sagte er schweratmend, „der macht einen ordentlich müde!“

Da schlug es draussen vom Domturm acht Uhr. Die Nachtwache kam ins Zimmer.

„Du kannst gehen, Krayer, der Hirsch muss hier Reserve schlafen und im Flur draussen der Brändle!“ sagte der Wärter Morlock, ein grosser Mann mit guten, hellen Augen im geröteten Gesicht. Er hatte die Verantwortung für die Nachtwache zu tragen.

„Wünsch’ eine ruhige Nacht und ein gutes Neujahr, Herr Hauptmann!“ sagte der Wärter Krayer und ging neben dem grossen, starken Morlock in den Saal hinaus. Morlock aber wandte sich zum Medizinschrank und nahm Flaschen und Pulver heraus. Er rüstete die vorgeschriebenen Schlafmittel, die er, wie ein Bringer des tiefsten Schlafes, jedem Kranken darreichte. Von Bett zu Bett ging er, gab die schweren Schlafmittel und hatte für jeden ein gutes Wort. Auch dem kleinen Goldschmied brachte er einen vollen Becher. Der junge Paralytiker, der am grünen Holz die Sünden des Vaters trug und büsste, sog gierig in langen Zügen das betäubende Getränk. Dann atmete er lang und schwer; ein starker Hauch wie von Äther strömte sogleich durch das Zimmer. Zuletzt kam der Wärter Morlock an das Bett des Häftlings, er reichte ihm in einem Löffel ein Pulver und eine Tasse warmen Tee.

„Was ist das?“ fragte der Häftling, als er das Gereichte nahm.

„Nur Veronal, Herr, es wird Ihnen sicher gut tun. Wenn Sie eine schlechte Nacht haben, dann rufen Sie mich bitte; ich komme zwar sowieso alle Viertelstunde ins Zimmer, nach sehen, Herr!“ sagte der Wärter Morlock.

Da nahm der Häftling das Pulver und trank langsam den warmen Tee. Der Wärter ging gemächlich in den Saal hinaus und setzte sich auf einen Stuhl. Dann stach er zum erstenmal die Nachtwächteruhr; es gab ein knickendes Geräusch.

Roser verstummte mählich mit seinem Lallen, und bald hörte man nur noch die tiefen Atemzüge der Schlafenden und alle Viertelstunden das Knacken der Wachuhr, die der Wärter Morlock stechen musste. Dann machte er auf leisen Socken seine Runde.

So kam langsam das neue Jahr, für die Kranken unmerklich in ihrem tiefen Schlafe, heran. Die Uhren der Stadt schlugen zwölf, auf der Turmgallerie des Domes spielte ein Bläserchor, in den nahen Strassen liessen die festfrohen Menschen das Feuerwerk krachen. Der Häftling lag stille und wachend, er schaute mit grossen Augen zum Licht auf. Da kam der Wärter Morlock unhörbar und leise heran. Als er den Häftling wach liegen sah, fragte er:

„Sie können nicht schlafen, Herr?“

„Nein, Wärter, ich führe Gedanken spazieren,“ antwortete der Häftling.

„Sie denken wohl nach Hause; aber, Herr, Sie müssen denken, dass auf dies Neujahr ein neues kommt, jedes Jahr geht einmal zu Ende. Ich habe auch zwei vergehen lassen müssen, hinter dem Stacheldraht in englischer Gefangenschaft, und, wissen Sie, Herr, die beiden Jahre sind auch vergangen!“

„Ja, auch der längste, schwerste Tag geht herum, Wärter!“ sagte der Häftling; er klammerte sich an diesen Gedanken immer wieder.

Der Wärter ging leise durch den Saal, in die Abwaschküche hinaus. Nach einer Weile kehrte er zurück, in der einen Hand ein Stück Festkuchen und in der andern eine Tasse Tee. Schier verlegen sagte er:

„Ich würde Ihnen gerne mehr anbieten, aber — ich habe selbst nichts anderes, nehmen Sie es als gutes Neujahrsbrot.“ Er hielt den Kuchen und den Tee dem Häftling hin. Der nahm das Dargebotene, ass und trank langsam; dann sagte er:

„Ich will Ihnen diese Neujahrsgabe nie vergessen!“

Der Wärter Morlock stand vor dem Bette und schaute bedauernd auf den Häftling. Keiner von beiden sagte ein Wort. Von der Strasse her tönte schwach der fröhliche Gesang vorübergehender glücklicher Menschen.

Die Zerrütteten

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