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Drittes Kapitel

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Doch hast du einmal den Schritt erfasst,

Dann heisst es wacker tanzen,

Denn allzuleicht ist’s Glück verpasst.

Träge, langsam gingen die Stunden des grauen Wintertages vorbei. Der Häftling lag in seinem Bette, scheinbar still und ruhig. Der erfahrene Wärter Schätzle sah aber, dass sich die schweren Folgen des Entzuges des Morphiums einstellten. Der alte Wärter liebte die Morphinisten nicht, sie waren nach seiner Praxis alle Schwächlinge ohne Willen und Ziel. Darum wartete er, bis der Häftling endlich nach der ersten Spritze flehte; immer wieder glitt sein Blick über dessen Bett. Der aber lag stille mit geschlossenen Augen. Sein Atem fing an rasch und stossartig zu gehen, für kurze Augenblicke bebte das Bett wie bei einer Erschütterung. Da fragte der Wärter plötzlich leise:

„Schlafen Sie, Herr?“

„Nein!“ antwortete der Häftling kurz.

Der Wärter Schätzle stand auf und trat an das Bett, fasste das Handgelenk und fühlte den Puls.

„Er ist unregelmässig, Wärter, ich höre jeden Pulsschlag in den Ohren,“ sagte der Häftling.

„Ach, es ist nicht so schlimm,“ antwortete der Wärter. Dann trat er langsam an die Saaltür und rief:

„Krayer, kommen Sie einmal hierher, lösen Sie mich ein wenig ab!“ Und im Vorbeigehen flüsterte er: „Geben Sie auf den Neuen gut Obacht, es geht dem schlecht.“

Der Wärter Schätzle ging langsam durch den grossen Saal und verschwand durch eine schmale Tür. Dann begann er rasch durch den Flur zu eilen, von Tür zu Tür, die eine nach der andern hinter ihm wieder zuflogen. Der Wärter Schätzle ging ins Doktorzimmer, der Oberarzt war weg und kein Unterarzt zur Stelle. Da rannte der alte Wärter hinauf ins obere Stockwerk, er ging in die Wohnung des Oberwärters und schnellte die Tür zu dessen Arbeitszimmer auf.

„Oho, Schätzle, was ist denn los?“ fragte der Oberwärter verwundert; denn seit einem Jahr war es das erstemal, das Schätzle auf sein Büro kam.

„Herr Oberwärter, mit dem Neuen steht es schlecht!“ entgegnete Schätzle hastig.

„Die verfluchten Morphinisten, was hat man doch mit diesen für Geschichten!“ sagte der Oberwärter verdriesslich.

„Nein, nein!“ wehrte Schätzle, „der Mann liegt still in seinem Bett und sagt nichts, er verlangt auch keine Spritze; aber das Herz setzt aus, und es ist kein Arzt da!“

Da sprang der Oberwärter rasch auf und eilte mit dem Wärter Schätzle ins Erdgeschoss; das wollte er schon machen, er hatte ja Erfahrung. Er ging, ehe er in den Saal trat, zum Medizinschrank, der in der Abwaschküche stand, schloss auf und nahm eilig die Spritze heraus, steckte das Koffein zu sich und nahm die Dose Morphium mit, die der Oberarzt verordnet hatte. Dann ging er gemächlich, wie zufällig, durch den grossen Saal und trat an das Bett des Häftlings.

„Guten Abend, Herr, wie geht’s, wie geht’s?“

„Danke, gut!“ antwortete der Häftling. Der Oberwärter liess da sein Lächeln, das er immer bei sich herumtrug, so aus Gewohnheit, stecken. Er fühlte nach dem Puls des Häftlings, dann sagte er rasch:

„Jetzt wollen wir eine Einspritzung machen, Herr!“

Der Häftling schaute den Oberwärter an und schüttelte verneinend den Kopf; denn er sah in der andern Hand die Spritze.

„Nun, also, Herr, der Mann mit der Spritze ist da!“ sagte der Oberwärter; doch wollte ihm diesmal sein alter, lustiger Ton nicht recht gelingen.

„Ich bin doch nicht dazu hier, sondern dass Sie mir keine Spritze geben sollen!“ entgegnete der Häftling schier heftig.

Da liess der Oberwärter die Hand mit der Spritze Koffein sinken. „Ja, gewiss, gewiss, Sie haben recht,“ sagte er unsicher und ging rasch zur Tür hinaus in den Flur. Dann eilte er zum Pförtner am Toreingang: „Wohin ist der Herr Oberarzt gegangen?“ fragte er.

„Nach Hause,“ antwortete der alte Pförtner mürrisch und nahm maschinenmässig den Hörer vom Telephon, um sofort den Arzt zu rufen, denn der Alte an der Pforte wusste Bescheid. Wenn der Oberwärter schon mit der Spritze in der Hand in sein Zimmer trat, dann wusste er, wieviel Uhr es geschlagen hatte. Ihn wunderte nur, ob sie schwer zu tragen hatten am Sarge, denn auf solche Anrufe folgte immer bald ein Sarg. Der alte Pförtner kicherte, während er am Hörer auf die Telephonverbindung wartete, leise in sich hinein. Da meldete sich der Arzt. Rasch nahm der Oberwärter den Hörer und sagte:

„Herr Doktor, kommen Sie rasch, mit dem Häftling, den sie heute morgen eingeliefert haben, geht es sehr schlecht!“

Er legte den Hörer ab.

„Was, der ist’s? Der hat’s aber eilig!“ sagte der Pförtner verwundert und lachte nicht mehr; denn der Mann hatte nicht gerade ausgesehen wie ein Verrückter.

Fliegende Hitze und kalte Schauer gingen durch des Häftlings Leib. Die Muskeln begannen ihr wunderliches Spiel, sie zuckten und tanzten. Schätzle schaltete das elektrische Licht ein. Langsam, langsam verging die Zeit. Vom Saale her tönte ein blechernes Klappern, dann ging die Tür auf, und ein Wärter trug auf einem Brett das Essen herein. Der Wärter Schätzle deckte mit einem Tafeltuch den Tisch und schob ihn zum Bette. Der kleine Goldschmied sass aufrecht im Bett und kicherte fröhlich.

„Schätzle, ich freue mich so aufs Essen,“ sagte er und wackelte mit dem Kopf.

Da stellte der Wärter auf die Tische vor den Betten je einen blechernen Teller, mit Essen gefüllt. „Nehmen Sie das weg,“ sagte der Häftling.

„Geben Sie mir’s, bitte, geben Sie’s,“ bettelte vom andern Bette der kleine Goldschmied. Der Wärter sah den Häftling fragend an.

„Geben Sie ihm doch das Essen, mir aber bringen Sie keinen Blechteller mehr,“ sagte der.

„Das ist die Hausordnung bei uns,“ antwortete Schätzle ruhig.

„Dies kümmert mich gar nicht, Wärter.“

Da trat der Oberarzt rasch ein, der Oberwärter hinter ihm. Der Arzt sprach nichts, er hörte dem Häftling mit dem Hörrohr das Herz ab, dann sagte er bestimmt:

„Die Spritze, Oberwärter!“

„Hier, Herr Doktor!“ Der Oberwärter hielt Spritze und mit Alkohol getränkte Watte zur Desinfektion der Haut hin.

„Ich brauche keine Spritze, Herr Doktor,“ sagte der Häftling.

„Doch!“ entgegnete der Oberarzt hart und bestimmt, „und zwar sehr wenig Morphium, dafür mehr Koffein, Ihr Herz geht zu schlecht.“

„Schön,“ sagte der Häftling.

Der Oberarzt gab die Spritzen selbst, dann setzte er sich auf den Bettrand und fasste des Häftlings Puls. Der sass aufrecht im Bett und sagte nur:

„Die nächste Spritze bestimme ich; welche Dose Morphium haben Sie mir jetzt gegeben?“

„Den zweihundertsten Teil von Ihrer bisherigen Tagesdose!“ sagte der Oberarzt und schaute gespannt auf des Häftlings Gesicht. Der verzog keine Miene; er entgegnete:

„Dann ist’s gut! So, die nächste Spritze darf nur die Hälfte von dieser sein.“

„Das muss schon ich bestimmen!“ sagte der Oberarzt ironisch.

„Nein! Ich, Herr Doktor, Sie haben nur mein Herz zu behandeln. Das mit dem Morphium erledige ich und zwar prompt!“

„Ach was,“ meinte der Arzt lässig und peitschend; denn dieser Fall begann abnorm zu werden, und es interessierte ihn, ob der Mann mit eigener Energie durchhielt oder zusammenbräche, wie bisher alle Morphinisten.

„In ein paar Stunden jammern Sie ja doch um die nächste Spritze.“

Der Häftling antwortete nicht, er lachte nur kurz auf. Da sagte der Arzt zum Oberwärter:

„Schreiben Sie ins Buch ein, dass der Patient von der Nachtwache die Spritze verlangen kann. Der Puls geht jetzt besser; ist’s notwendig, soll man mich rufen.“ Damit stand der Arzt auf und ging zur Tür hinaus, leise und geräuschlos. Da legte sich der Häftling zurück und schloss die Augen; doch hörte er, wie der Oberwärter zum Wärter Schätzle sagte:

„Geben Sie gut acht, dass der Neue keine Kapriolen macht und etwa gar sein Uhrwerk stehen bleibt.“

Wieder wurde es stille und ruhig auf der Station. Nach einer Weile fragte der Wärter Schätzle:

„Fühlen Sie die Wirkung der Spritze?“

Der Häftling lachte und antwortete:

„Das hätte geradesogut Wasser sein können.“

„Ja, das ist schon recht so, Sie brauchen es nicht zu fühlen, wenn’s nur die Nerven aushalten und das Herz Ihnen keinen Streich spielt!“

„Was wäre dann, einmal muss ja der Mensch sterben.“

Da sagte der Wärter Schätzle nichts mehr, aber er dachte: „Das ist ein Eigensinn in diesem Manne; doch warte, du wirst schon klein werden, alle sind es noch geworden!“

Der Wärter Krayer öffnete die Tür zum Saale:

„Gehen Sie zum Essen, Schätzle, ich löse Sie ab,“ sagte er. Schätzle ging bedächtig und nahm sich vor, ehe er zu Bette ginge, noch einmal nach dem Häftling zu schauen.

Der Wärter Krayer in seiner Katzengeschmeidigkeit trat an das Bett des Häftlings heran und sagte:

„Das haben Sie bis dahin fein gemacht, wir hatten noch keinen so gehabt in den 36 Dienstjahren des Oberwärters, wie er sagte; sie seien ein Herrgottsakrament, hoffentlich halten Sie auch durch. Na, vom Neujahr hab’ ich die Nachtwache. Wir haben zwar die Morphinisten nicht gerne, aber ich helfe Ihnen als alter Sanitätsunteroffizier, wir schinden’s durch, Herr Hauptmann!“

„So ist’s recht, eines sag’ ich: Eher krepier’ ich in diesem Bette, wie eine Granate, als dass ich locker gebe, in ein paar Tagen ist’s rum. Entweder ich rauche dann wieder meine Pfeife, oder es heisst: Der Psychiater irrte sich, der Pathologe lachte, der Patient wurde glänzend begraben, die Hinterbliebenen weinten, und die alte, runzlige Erde dreht sich gelassen weiter; denn kein Jota ist anders geworden, als vorher; was ist auch ein Menschenleben!“

„Alles und Nichts!“ antwortete Krayer, „aber gerade wenn die Hinterbliebenen weinen, darf man nicht krepieren, wie eine Granate, Herr Hauptmann!“

„Die Hinterbliebenen!“ sagte der Häftling langsam, dann drehte er sich und schaute gegen die Wand, sah vor sich ein noch frisches Grab, mit vielen Kränzen und Schleifen darauf. Sechs Schuh lag unten ein Mann mit durchschossener Halsschlagader, der war elend verblutet. Dann schaute er sein Heim, da stand eine junge, schlanke Frau und wusste nicht, was beginnen, und in einer Ecke kauerte sich die weisshaarige Mutter. Die beiden Frauen wussten nicht, dass das neue Jahr an die Türe pochte. Sie dachten nur an ihn, in diesem Jammerbett, ein Bündel Elend unter all dem Menschenunglück, so ohne Hoffnung um ihn. Nein, nicht krepieren! Er drehte sich um und schaute Wärter Krayer an, dann nickte er und sagte:

„Nicht wahr, Wärter, draussen im Dreck lagen wir auch und haben ausgehalten, und es hat auch gehen müssen, ist’s nicht so gewesen?“

„Jawohl, Herr Hauptmann!“ antwortete der Wärter Krayer.

Die Zerrütteten

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