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Fünftes Kapitel

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Und klappert der Tänzer um dich herum,

Oft ist Er recht possierlich.

Verstehst Ihn auch nicht, Er treibt alles im Handkehrum.

Der Häftling konnte nicht schlafen; der rasche Entzug des Morphiums führte in seinem Körper eine stürmische Krisis herbei. Von Viertelstunde zu Viertelstunde kam der Wärter Morlock, schier unhörbar auf seinen weichen Filzsocken, durch das Zimmer. Wenn er wieder gegangen war, huschten unter den Betten, äugend und schnuppernd, mit ihrem ruckartigen Laufen die Mäuse heran. Sie suchten jeden Winkel des Fussbodens ab, und wo sie Brosamen oder ein Restchen Speise, das irgendein Kranker verschüttet hatte, fanden, stahlen sie sich mit ihrem Raube davon.

Gegen Morgen begann die Krise des Häftlings langsam den steilen Weg zur Höhe hinanzuklettern. Qualvoll und unendlich wurden dem Häftling die Viertelstunden, in denen der Wärter seine Runde machte. Gegen Morgen rief der Häftling den Wärter Morlock an:

„Wärter, es ist nun an der Zeit, die zweitletzte Spritze zu nehmen.“

Verwundert schaute der Wärter Morlock, dann sagte er langsam:

„Aber, Herr, davon steht nichts im Nachtbuche, ich habe keine Anordnung bekommen.“

„Sie scheinen ja hier eine nette Schweineordnung zu haben,“ sagte der Häftling voller Verdruss.

„Da kann ich doch nichts dafür,“ entgegnete, schier wehrlos, der Wärter Morlock, „ich habe ja keine Kompetenzen; was wurde denn besprochen?“

„Dass ich nach meinem Wunsche die Spritze verlange und zwar die halbe Dose der letzten,“ antwortete der Häftling scharf.

„Dann muss ich einen Wärter der Reservewache, der hier schläft, wecken und zum Herrn Oberarzt schicken; darf ich Ihren Puls fühlen?“ fragte der Wärter Morlock.

„Nein, lassen Sie die Tänze, und zum Oberarzt senden Sie nicht.“

„Es ist ja bald Tag, dann kommt der Oberwärter und gleich darauf die Frühvisite,“ versuchte der Wärter zu trösten.

„’s ist gut,“ antwortete der Häftling und fasste in die eisernen Stangen seines Krankenbettes, wo er die Hände verkrampfte. Er fühlte weder Hitze noch Kälteschauer, noch die Muskelkrämpfe, die ihn erschütterten. Langsam begann es ihn wie von unsichtbarer Hand aufs Gehirn zu drücken und drohte ihm von Augenblick zu Augenblick das Bewusstsein auszulöschen.

So kam vom Domturm der siebente Glockenschlag des ersten Tages des neuen Jahres. Im Flur gingen die Türen, ein leises Huschen und Laufen rauschte durch das weite Haus. Die Tagwache rückte auf. Die Wärter, die Reservewache geschlafen hatten, traten ihren Tagesdienst an; die Nachtwachen gingen zur Ruhe. Nur der Wärter Morlock stand draussen im Saal vor dem blonden Weber, dem stellvertretenden Oberwärter. Er hatte das Ordinationsbuch in der Hand. Darin hatte er einen kurzen Bericht über die vergangene Nacht geschrieben und erklärte diesen ausführlich. Da ging der blonde Weber rasch durch den Saal, in das Zimmer und trat an das Bett des Häftlings.

„Guten Morgen,“ sagte er ruhig, „wie geht’s Ihnen heute, Herr?“

„Gut,“ antwortete der Häftling leise.

Prüfend schaute ihn der blonde Weber an. Die Pupillen des Häftlings waren gross und schwarz wie Kohlen; der sonst scharfe, graue Augapfel legte sich wie eine dunkle Linie vor das bläulich schimmernde Weiss des Auges. Die Haut an Gesicht und Händen war kupferbraun geworden. Noch nie, in seinem langjährigen Dienste, hatte der Wärter Weber eine derart rasche Wandlung gesehen. Nachdenklich ging er ins erste Stockwerk, zur Wohnung des Oberwärters. Der sass gemächlich beim Frühstück.

„Kommen Sie rasch,“ sagte der blonde Weber eindringlich, „bei unserem Neuen auf der Zimmerstation klappt es nicht; es wird vielleicht gut sein, wenn Sie sofort den Herrn Oberarzt verständigen würden.“

Ächzend erhob sich der Oberwärter und sagte:

„Ich komme sofort, Herrgott, ich glaube, dieser Bär, der Roser hat mir nicht nur die Rippen, er hat mir auch noch mein Kreuz kaputt gemacht.“

Langsam folgte er dem Wärter. Der telephonierte sofort dem Oberarzt. Der Arzt verlangte ärgerlich den blonden Weber am Telephon zu sprechen. Weber berichtete:

„Der Patient zeigt jetzt schon alle Symptome, die sich sonst erst nach zwei, drei Wochen Entziehung langsam zeigen . . . Nein, Herr Oberarzt, er hat keine Spritze bekommen, im Nachtbuche ist keine eingetragen . . . Jawohl, einmal hat er die Spritze verlangt, er hat sich verbeten, Sie rufen zu lassen . . . Nein, beim Dienstantritt verlangte er keine Spritze, der Kranke scheint aber sehr hinfällig zu sein.“

„Ich komme sofort,“ rief der Oberarzt ins Telephon hinein und eilte von seiner nahen Wohnung ins Irrenhaus.

Bald öffnete sich leise die Tür zum Zimmer des Häftlings, rasch und geräuschlos trat der Oberarzt ein. Der Wärter Schätzle war gerade am Reinemachen.

„Lassen Sie das jetzt!“ sagte der Arzt und trat rasch an das Bett des Häftlings heran. Er reichte ihm die Hand und grüsste, dann fragte er:

„Sie haben kein Morphium gehabt heute nacht?“

Der Häftling setzte sich in seinem Bett aufrecht, so schwer das auch gehen wollte, dann antwortete er mit vor verhaltenem Verdruss leiser Stimme:

„Nein, ich habe kein Morphium gehabt heut nacht, denn gegen Ihre Versicherung hatte der Wärter keine Order. So etwas darf sich nicht wiederholen, machen Sie diese Dinge mit Ihren Narren, bei mir aber lassen Sie so etwas gefälligst bleiben, bedenken Sie, dass ich nicht freiwillig hier bin.“

„Oh!“ machte der Oberarzt spöttisch, „ich hab’s ja gewusst, dass Sie an Ihr Recht appellieren. Bitte, Wärter, stellen Sie die hochprozentige Morphiumlösung auf den Nachttisch. Der Patient mag sich nach Herzenslust selbst bedienen!“

„Wir wollen jetzt keine Spässe machen; wenn Ihnen Ihr Vorschlag vielleicht ernst ist, ist er’s mir nicht,“ entgegnete der Häftling bitter und gallig.

Der Arzt war ruhig sitzengeblieben. Er beachtete den Einwurf des Häftlings nicht; doch fiel es ihm gar nicht ein, dem Kranken die starke Lösung zu geben; er sagte:

„Im Grunde haben Sie ja recht.“

„Morphium werde ich keines mehr nehmen,“ entgegnete der Häftling, „schlimmer, als mir war, kann mir nicht mehr werden; wenn Sie was spritzen müssen, dann geben Sie mir was anderes.“

Der Oberarzt schaute den Häftling an, als wollte er sagen:

„Wenn du die Sache auch über Erwarten rasch machst, spiele mir nur keine Komödie vor; ich weiss ja schon ganz genau, dass du Morphium willst.“

Als sich der Häftling aber wieder in die Kissen legte und schwieg, wurde der Arzt nachdenklich. Er sagte:

„Es ist nicht ungefährlich für Sie, was Sie durchsetzen wollen. Wissen Sie das?“

„Ja!“ antwortete der Häftling sicher und ruhig.

Der Oberarzt blieb eine Weile nachdenklich sitzen, dann fühlte er den Puls des vor ihm Liegenden. Entschlossen sagte er zum Oberwärter:

„Holen Sie eine Spritze Scopolamin!“

Der Oberwärter lief durch den grossen Saal; der Schlüssel zum Medizinschrank knirschte im Schloss. Ein leises Klirren, wie wenn Glas auf Glas schlägt, war im Zimmer vernehmbar.

„Wissen Sie, was Scopolamin ist?“ fragte der Oberarzt.

„Dämmerzustand,“ antwortete der Häftling.

„Nein,“ sagte der Oberarzt hart, „Scopolamin ist die Zwangsjacke des Geistes und hat bis dahin noch jeden gefesselt.“

„Um so besser,“ entgegnete der Häftling, „dann hilft es mir um so rascher über die Krise weg. Weiterhin Morphium zu nehmen, weigere ich mich, mag darüber zum Kuckuck fahren, was will.“

Der Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, war so ernst und bestimmt, dass der Oberarzt die Gefahr wagen wollte. Der Oberwärter kam wieder in das Zimmer zurück, er trug die Spritze und den mit Alkohol getränkten Wattebausch. Er reinigte mit der Watte die Haut und reichte die gefüllte Spritze dem Arzt. Kalt rieselte es bei der Desinfektion über die Haut des Häftlings. Der Arzt schnellte die feine Nadel unter die Haut und spritzte dem Häftling die betäubende Lösung ein. Dann sagte er:

„Wenn Sie erwachen, lassen Sie mich sofort rufen. Hören Sie’s, Wärter?“ rief er Schätzle an.

„Jawohl, Herr Oberarzt!“

Der Arzt blieb noch eine Weile auf dem Bettrand sitzen. Er hatte den Puls des Häftlings gefasst. Die Minuten zogen dahin, die Augen des Oberarztes beobachteten den Häftling scharf. Da begann das Scopolamin allmählich zu wirken. Langsam, langsam und unhaltbar, machtvoll drückte eine unsichtbare Riesenhand mächtig auf das Hirn des Häftlings. Alle, sein Bett Umstehenden, glitten hinaus in weite Fernen und waren dennoch deutlich sichtbar, wie nahegebracht durch das Scherenfernrohr auf dem Gefechtsstand. Ihre Worte drangen mit schneidender Schärfe an seine Ohren und prägten sich dem Häftling ein, wie am Abhörapparat, wenn er die feindlichen Stimmen und alles, was vorging tief in den Feindesstellungen, durch die tonverstärkende Membran nahegebracht, hörte. Langsam kamen wieder neue, noch schwerere und mächtigere Hände irgendwoher aus geheimnisvollen Welten. Sie streiften bannend dem Häftling über den Leib und über die Glieder, dann fassten sie hart zu und hielten fest. Sein Körper wurde ohne Gefühl und wesenlos für ihn, er trennte sich von ihm und verlor sich in die Unendlichkeit. Die Menschen um sein Bett wurden immer mehr in die Weite hinausgerückt. Der schwere Griff im Hirn des Häftlings riss und zerrte am klaren Bewusstsein, er krallte sich zusammen und warf die Sinne verwirrend durcheinander. Ein Chaos begann durch seine Nerven zu brausen wie eine Windsbraut und zerriss die Verbindungen zwischen Hirn und Fleisch. Die Wände des Zimmers versanken vor seinen Augen, die gross und ausdrucklos wurden.

„Wie — wie — im — Gefechtsstand —!“ stammelte der Häftling mit gepresster Stimme und schwerer, lallender Zunge. Aber seine eigenen Worte schlugen ihm hart und fremd an das Ohr und gruben sich tief in seinem Gedächtnis ein.

„Das Scopolamin legt ihm die Zwangsjacke an, jetzt ist er wieder draussen auf dem Gefechtsstand, und die Granaten springen wie reissende Tiere heran,“ sagte tiefatmend der Oberarzt.

„Und — und — die M. — G. — Kugeln, die huschen — wie Mäuse — durch – das dürre Herbstgras,“ lallte der Häftling.

Sein Atem ging keuchend und rasch. Sein Puls, den der Oberarzt immer noch kontrollierte, flatterte durch die Adern, stand dann wieder stille, als besinne und überlege er sich, ob es noch Wert und Zwecke hätte, weiterzuschlagen, für dieses Leben, in diesem Leibe.

„Koffein!“ schrie da der Oberarzt rauh.

Der Oberwärter rannte, seit langer Zeit zum erstenmal, trotz seiner zerschundenen Knochen durch den Saal zum Medizinschrank. Roser sah ihm, immer noch fest im Wickel liegend, mit bösem Blicke nach. Am Bette des Häftlings dachte der Arzt:

„Nein, er darf so nicht elend kaputt gehen.“

Der Oberwärter eilte wieder heran, eine Ampulle, die zugeschmolzene kleine Glasflasche mit langem Halse, in der Hand und den mit Alkohol getränkten Wattebausch. Der Oberarzt brach rasch den Glashals, der knirschend barst. Im Ohr des Häftlings klang es wie unfern ein Sprengkörper. Rasch zog der Oberarzt die Koffeinlösung in die Spritze. Der Oberwärter wusch mit Alkohol die Haut des Häftlings.

„Kein Morphium!“ sagte dieser, wie aus einem schweren Traum heraus. Er konnte sich nicht rühren und lag wie festgewachsen auf seinem Bette.

„Nein, kein Morphium, Sie sollen ja keins mehr haben,“ sagte der Oberarzt leise, dann stiess er die Nadel unter die Haut und spritzte das Koffein ein. Dann fühlte er am Handgelenk des Häftlings wieder dessen Puls.

„So!“ sagte er dann aufatmend nach einigen Minuten.

Der Puls besann sich und legte wieder Wert darauf, einigermassen zu pochen, als hätte er ein starkes, noch unbedingtes Recht ans Leben.

„Schätzle, Sie bleiben hier am Bette, bis ich andere Order gebe. Ist was los, rufen Sie mich sofort, ich verlasse das Haus heute nicht, Ihre Station übernimmt solange der Wärter Hirsch,“ befahl der Oberarzt.

„Jawohl, Herr Doktor!“ antwortete der Wärter Schätzle.

Der Oberarzt ging in den Saal hinaus. Schätzle sah ihn mit einem eigenen harten Blicke nach und murmelte:

„So hab’ ich’s noch nie gesehen und bin jetzt zweiundsünfzig Jahre alt. Wenn dem Doktor da nur kein Malheur passiert.“

Pflichtgemäss holte der Wärter Schätzle einen Stuhl und setzte sich, die Hände faltend und Gebete murmelnd — denn dieser Mann, für den er betete, tat dies ja selbst doch nicht — neben das Bett des Häftlings, bei dem es um Leben und Tod oder um noch Schlimmeres, um Sinnenverwirrung ging. Der Wärter Hirsch kam stille zur Saaltür herein, drückte diese sachte und geräuschlos wieder ins Schloss und übernahm die Station, wie ihm soeben draussen der Oberwärter befohlen hatte.

Die Zerrütteten

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