Читать книгу Die Orgel - Karl-Heinz Göttert - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеCharles-Marie Widor, 1870 mit 25 Jahren Organist an der großen Cavaillé-Coll-Orgel von Saint-Sulpice in Paris geworden, berichtete über ein für ihn traumatisches Erlebnis. Während des Aufstands der Pariser Kommune, ein Jahr nach seiner Ernennung, war die Kirche besetzt worden. Gottesdienste fanden nicht mehr statt, man hielt auf der Kanzel politische Reden oder spielte Karten. Einer der Kommunarden hatte damals den Gedanken, dass man auf die berühmte Orgel nicht zu verzichten brauche, Widor solle auf ihr die Marseillaise spielen. Der lehnte mutig ab, und es ist nicht schwer, seinen Grund zu verstehen. Für Widor war die Orgel in diesem Raum ein liturgisches Instrument. So hatte er sie immer verstanden, und so hatte er sie immer eingesetzt. Der Revolutionär gab nach, es kam zu keinem Zwischenfall, Gewalt wollte er denn doch nicht anwenden.
Aber das Kapitel »Kirche und Marseillaise« ist damit nicht zu Ende erzählt. Fast genau 100 Jahre später, am 12. November 1970, war General de Gaulle gestorben und erhielt in Notre-Dame in Paris sein feierliches Totenamt. Diesmal saß wieder einer der ganz Großen an der Orgel, Pierre Cochereau. Und diesmal kam es zu dem, was für Widor undenkbar schien. Am Ende des Gottesdienstes, beim Auszug des Klerus, improvisierte Cochereau über die Marseillaise. Niemand protestierte. De Gaulle war zum Symbol für Frankreich geworden, für den Wiederaufstieg nach dem Krieg. So erschien die Marseillaise als angemessener Dank. Wer nun glaubt, hier habe es sich um eine einmalige Ausnahme oder gar Entgleisung gehandelt, irrt. Am 15. November 2015 fand wiederum in Notre-Dame ein Gedenkgottesdienst statt, diesmal für die Opfer des terroristischen Anschlags zwei Tage zuvor. Und was spielte der diensttuende Organist, Olivier Latry, zum Offertorium, der anderen bedeutenden Stelle für eine Orgelimprovisation während des Gottesdienstes? Es war die Marseillaise.
Ist das nun ein Zeichen für fortschreitende Säkularisierung, die vor nichts haltmacht? Man kann es auch anders deuten. Noch gehört die Orgel gerade in Frankreich zur Kultur, kann Gefühle aufgreifen und ihnen einen würdigen oder jedenfalls von vielen akzeptierten Ausdruck verleihen. Natürlich, die Orgel ist das Instrument der Kirche, die Stütze der Liturgie. Damit ist sie groß geworden im lateinischen Westen im Gegensatz zum griechischen Osten. Aber die Orgel hat sich Raum erobert, das Repertoire erweitert, neue Möglichkeiten eröffnet wie zum Beispiel im Konzertleben. Auch dabei kann es zu Überraschungen kommen. Als Marcel Dupré im Warenhaus Wanamaker in Philadelphia am 8. Dezember 1921 die damals größte Orgel der Welt vorführte, ließ er sich Melodien für eine Improvisation geben. Es waren durchweg gregorianische Motive. Heraus kam dann die Symphonie-Passion mit Einzelsätzen von der Erwartung des Erlösers bis zur Auferstehung. Kaum nachzuvollziehen, wie die Zuhörer das dritte Stück empfunden haben werden: die Kreuzigung mit der Improvisation über das bekannte Stabat mater dolorosa. Denn diese Zuhörer saßen nicht in einer Kirche, sondern eingeklemmt zwischen Wäscheständern und Parfümerieauslagen.
Wie ist es zu diesem Instrument mit dieser Breite an Möglichkeiten gekommen? Um so viel vorwegzunehmen: Kein Instrument hat eine kompliziertere Geschichte, keines hat so sehr seine Gestalt gewechselt, um zuletzt in wiederum unvergleichlicher Weise eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu bieten. Die Welt ist heute voll von Orgeln, wirklich die Welt, denn nicht nur Amerika oder Russland, auch der Ferne Osten haben sie sich längst angeeignet. Moderne Orgeln entstehen jeden Tag. Und neben ihnen existieren historische, die restauriert wurden und nun ein Klangbild (das äußere sowieso) bieten wie in fernen und manchmal fernsten Zeiten. Die Orgel – das will ich sagen – gehört zur Weltkultur. Noch kann man sich jedenfalls schlecht vorstellen, dass das Musikleben auf sie verzichten sollte. Warum? Sicherlich die schwierigste Frage. Die Zeiten sind vorbei, in denen man sich mit dem Hinweis auf die Königin der Instrumente begnügen konnte. Wäre es nicht Mozart gewesen, der den schon damals alten Slogan (er reicht, wie wir noch sehen werden, mindestens in die Zeit um 1600 zurück) verbreitet hat, würde man ohnehin ungnädiger mit ihm umgehen. Nein, Königin lenkt nur ab, zielt noch am ehesten auf die typische Vielfalt der Orgel, die Zusammenfassung der verschiedenen »Stimmen«, die von einem einzelnen »regiert« werden.
Noch viel problematischer der andere Slogan, der die Orgel zum »Orchester« macht. Tatsächlich hat man die Orgel in Zeiten der Romantik der damals wirklichen »Königin« in der Musik, dem Orchester, anzupassen versucht, die Orgel als Orchesterersatz genommen. Aber Einsichtige haben immer gewarnt und sind trotzdem missverstanden worden. Louis Vierne, wiederum einer der großen Organisten an Notre-Dame in Paris, sprach in Bezug auf die Orgel von »cet autre orchestre« (»diesem anderen Orchester«) und wollte damit gerade nicht die Ähnlichkeit mit dem Orchester betonen, sondern die Unähnlichkeit: die Orgel als grundsätzlich andere Art von Orchester. Dabei ist durchaus klar, worin diese andere Art besteht. Die Orgel kann Instrumente nachahmen und tut es bis zu einem gewissen Grade, was sich am besten zeigt, wenn einzelne Register solistisch verwendet werden. Aber eines kann sie nicht, was beim Orchester selbstverständlich ist: Sie kann diese Instrumente auf einem Manual oder Pedal bei vollem Spiel nicht getrennt voneinander ertönen lassen. Jede Taste, die der Organist drückt, lässt ja immer alle gezogenen Register zusammen erklingen. Um es noch konkreter am Beispiel der Oboe zu sagen: In jedem Akkord ertönt auf der Orgel die Oboe nicht wie im Orchester nur in der Höhe, im Diskant, sondern auch in der Tiefe, im Bass.
Weil der Punkt so wichtig ist, noch eine weitere Anmerkung. Man hat sich daran gewöhnt, die Orgelregister nach ihrer Bauart in vier große Gruppen zu teilen: Drei davon, die Prinzipale (die Pfeifen mit »normalem« Durchmesser), die Flöten (mit weitem Durchmesser) und die Streicher (mit engem Durchmesser) bringen ihre Töne nach dem Prinzip der Blockflöte als Lippenstimmen oder Labiale durch Brechung der Luft an einem Kern hervor. Die vierte Gruppe, die Zungenstimmen oder Linguale, benutzt zur Tonerzeugung ein schwingendes Metallblatt. Dann beginnt rasch die Übertragung aufs Orchester. Aber sie kann nicht falscher ausfallen, als wenn man naiv den Bezeichnungen folgt. Vor allem die Streicher im Orchester haben wenig mit den streichenden Registern der Orgel zu tun. Beim vollen Spiel übernehmen in der Orgel auf jeden Fall die Prinzipale die Funktion, die im Orchester den Streichern zukommt – sie bilden die Grundlage des Ganzen. Orgelklang ist immer zunächst einmal Prinzipalklang. Und dieser Prinzipalklang wird weiter geprägt durch etwas, was es im Orchester überhaupt nicht gibt: durch die Aliquoten, die statt des Grundtons Obertöne erklingen lassen, also Quinten, Terzen, Septimen usf. Aufs Orchester übertragen wäre dies so, als ließe der Dirigent einige Violinen eine Quint, Terz oder Septime höher stimmen und auf diese Weise mit den anderen Violinen zusammenspielen – nicht auszudenken. Und es geht mit den Unterschieden ja weiter: Die Flöten oder Trompeten mögen solistisch gespielt den Flöten oder Trompeten im Orchester ähneln. Beim vollen Spiel ergeht es ihnen wie den Streichern: Sie werden zu Farben im Gesamtklang. Flöten und Streicher sättigen ihn, Trompeten verleihen ihm Glanz.
Der Orgelklang ist also völlig anders aufgebaut, kommt völlig anders zustande als im Orchester. Der Klang der Orgel ist einmalig, Orgeln sind Orgeln – man kann es nicht genug betonen. Die Schönheit eines Orchesters kann die Orgel nie nachahmen, aber umgekehrt gilt genau dasselbe. Der Farbenreichtum der Orgel, übrigens auch der reine Tonumfang von bis zu zehn Oktaven, geht über den des Orchesters hinaus, in einer Großorgel wie etwa in Notre-Dame in Paris oder im Passauer Dom sind die Möglichkeiten der Kombination geradezu unerschöpflich. Aber alle diese Möglichkeiten sind Möglichkeiten der Orgel, gebunden letztlich an Pfeifen, die man dick oder dünn, zylindrisch oder konisch, offen oder gedeckt gestalten, darüber hinaus mit Labien oder mit Zungen ausstatten kann. Spätromantische Komponisten wie César Franck oder Max Reger gewannen der damaligen »orchestralen« Orgel durchaus orgelmäßige Musik ab, brachten die orchestrale Fülle orgelmäßig zur Geltung. Sie alle haben für Orgel und Orchester komponiert, aber niemand hat die Orgelmusik auf das Orchester übertragen oder umgekehrt. Werke für Orgel und Werke für Orchester waren vielmehr strikt voneinander geschieden, weil Orgel und Orchester völlig andere Möglichkeiten bieten.
Und noch ein weiterer Slogan, der viel Verwirrung anrichtet, soll möglichst früh angesprochen werden. Es ist die meist als Vorwurf gemeinte »Starrheit« des Tons, an dessen Überwindung ganze Orgelbauergenerationen sich abgearbeitet und immer neue Lösungen erfunden haben: vom Schwellwerk über den Tremulanten bis zum Registercrescendo (bei dem immer mehr und immer lautere Register »automatisch« hinzugefügt werden). Als wenn diese Starrheit nicht gerade das Besondere der Orgel wäre, das Orgelmäßige, das kein anderes Instrument nachahmen kann! Gewiss liegt unendlich viel Musikalität in der Geschmeidigkeit des Tons, wie sie etwa die Violine hervorbringt. Aber es gibt eben auch diese andere Form der Musikalität, die der über jede menschliche Möglichkeit hinausgehende anhaltende und unveränderliche Ton bietet. In diesem Fall merkt man es weniger beim »orchestralen« als beim solistischen Spiel. Es gibt unendlich tonschöne Stimmen, die man, einmal gehört, stets in Erinnerung bewahrt – in meinem Fall die Portunalflöte im Zürcher Großmünster etwa oder die Gambe in der Altenburger Schlosskirche. Bei den Kinoorgeln der 1930er-Jahre war es ein geflügeltes Wort, angesichts einer besonders gelungenen »gedeckten« (oben geschlossenen und deshalb besonders »weichen«) Flöte von »a tibia to die for« zu sprechen, von einer »Tibia zum Sterben schön«.
Ein einzigartiges, unvergleichliches, manchmal rätselhaftes Instrument also: Wie soll man seine Geschichte erzählen? In diesem Buch wird ein Weg gesucht, der die Orgel mit der Kultur in Zusammenhang bringt, in der sie entstanden ist und sich entwickelt, ja immer wieder neu erfunden hat. Insofern handelt es sich nicht um eine Geschichte der Orgel, wie sie die zuständige Fachwissenschaft hervorbringt, die sagen will und sagen muss, was wo von wem gebaut wurde und wie sich dieses Bauen auswirkte, fortsetzte, Tradition schuf. Man wird keine einzige »Disposition« finden: die genaue Verzeichnung der Register und ihrer Verteilung auf Manuale und Pedal, die dem Spezialisten viel über den inneren Aufbau, auch die Klangmöglichkeiten verrät. Es geht stattdessen bevorzugt um das Umfeld, in dem Orgeln entstanden, um den »Alltag«, der in kulturgeschichtlichen Darstellungen auch sonst die entscheidende Rolle als Energiespender oder auch -dämpfer spielt. Die Frage ist nicht so sehr, welche technischen Details jeweils kennzeichnend sind, sondern warum sie auftreten und wie sie zu neuen Möglichkeiten führen.
Dies zeigt sich bereits in der Grobgliederung des Buches, die die Geschichte der Orgel gewissermaßen dreimal durchläuft und dabei den Orgelbau, die Orgelbauer und die Organisten je für sich in den Blick nimmt – wenn man so will: je für sich mit den kulturellen Strömungen in Zusammenhang bringt, die die unterschiedlichen Zeiten bestimmten. Beim Orgelbau wirkt sich dies besonders gravierend aus, sofern der Start ins Spätmittelalter ge- bzw. verlegt, die antike und frühmittelalterliche Orgel als Vorgeschichte behandelt wird. Denn erst das Spätmittelalter stellt die Technik zur Verfügung, die die Orgel dann für alle Zeiten als Instrument der Mehrstimmigkeit geprägt hat. Während sich die Renaissance noch mit verhältnismäßig ein fachen »Blockwerken« ohne Registriermöglichkeit begnügt, wachsen rasch die Anforderungen mit der Folge weiterer technischer Innovationen. Dies geschah in den verschiedenen Regionen Europas auf jeweils eigene Weise, sodass sich nationale Stile unterscheiden lassen. Eine italienische oder französische Orgel des Barockzeitalters sieht anders aus und klingt auch anders als eine englische oder norddeutsche. Im 19. Jahrhundert, nach Industrialisierung und Wandlung des musikalischen Geschmacks in Klassik und Romantik, entstand die orchestrale Orgel, was nun heißen soll: das wirkliche Großinstrument mit enormer Klangfülle und subtiler Steuerbarkeit, das mit seinem Crescendo und Decrescendo sinfonische Qualitäten entwickelte, ohne dabei die orgelmäßige Typik abzulegen.
Hinter dieser Entwicklung im Orgelbau aber stehen Orgelbauer mit ihren Visionen, eingebunden in die politischen und sozialen Gegebenheiten ihrer Zeit. Die ersten, auf die wir stoßen, waren regelrechte Wanderarbeiter, die kreuz und quer durch Europa zogen. Erst die wachsende Größe ihrer Instrumente machte sie sesshaft, ließ sie Werkstätten und auch Schulen bilden, ehe wir dann den bedeutenden Gründergestalten im Barockzeitalter und noch einmal im industriellen 19. Jahrhundert begegnen. Wo sich die einen mit Zunftordnungen und Privilegien herumschlagen mussten, kämpften die anderen mit Zollschranken und schließlich mit einer Konkurrenz, die den Export notwendig machte und die einst bescheidene Orgelwerkstatt zur Fabrik mit weltumspannender Tätigkeit umformte. Die Erfolgreichen verdankten ihren Erfolg dabei Innovationen, die das Potenzial ihrer Epoche ausschöpften, und ermöglichten mit ihren Instrumenten erst die Musik, die die Organisten an diesen Instrumenten regelrecht entdeckten und in ihren Kompositionen zur Verfügung stellten.
Damit sind wir schon bei der nächsten und letzten Spezies, ohne die eine Kulturgeschichte der Orgel nicht denkbar ist. Auch die Organisten hatten ihre Schicksale, fügen sich der musikalischen und sozialen Umwelt ein. Überraschend die früh umjubelten Stars in der Renaissance, denen dann eine breite Spur der braven Kirchendiener folgt, wie wir sie in den beiden großen Konfessionen kennen. Aber darunter finden sich auch die ganz Großen, Sweelinck in Amsterdam etwa oder Bach an seinen verschiedenen Wirkungsstätten. Das 19. Jahrhundert bringt dann die Virtuosen hervor, die Paganini oder Liszt erlebt haben und den Reiz ihres Spiels in die Kirchen wie in die neuen Konzerthallen hineintragen. In Paris entsteht eine Orgelszene, in der Komponisten, die selbst Organisten sind, für die Orgel »Sinfonien« schreiben. Auch Deutschland besitzt seinen bedeutenden Vertreter, der vielen wie eine Wiederkehr Bachs in expressionistischem Gewand erschien: Max Reger. Und nicht nur Europa ist zu nennen. Die USA haben nicht nur ihre ständig neuen »größten Orgeln der Welt« gebaut, sie brachten auch Organisten von Format hervor.
Eine Kulturgeschichte der Orgel also, die nicht zuletzt ein Loblied auf die Orgel sein soll, auch eine Beschwörung, die mit ihr verbundene Kunst weiter zu pflegen. Wer nach der Zukunft der Orgel fragt, wird sowohl den Orgelbau mit seiner technischen Seite wie das wirtschaftliche und soziale Umfeld der Orgelbauer in den Blick nehmen müssen. Er wird weiter nach ihrer Präsenz in der Gegenwart fragen, wobei vor allem die Medien ins Blickfeld rücken: die Einbeziehung der Orgelmusik in Literatur und Film, weiter in Rundfunk und Internet – darauf geht ein Schlusskapitel ein. Am meisten aber hängt letztlich ab von denen, die die Orgel spielen – von den Organisten. Als 2016 die neue Rieger-Orgel in der Pariser Philharmonie eingeweiht wurde, haben vier Könner gezeigt, wie man ein Publikum begeistern kann: mit Orgelmusik von Dieterich Buxtehude über Manuel de Falla bis Charles-Marie Widor. Zum größten Applaus aber kam es ganz zum Schluss, als Wayne Marshall eine Improvisation über den Cancan von Jacques Offenbach vortrug, die den Zuhörenden den Atem verschlug.
Das kann man nicht jeden Tag bieten. Aber die Orgeln sind da, um es jeden Tag zu versuchen. Sagen wir es in dieser Einleitung etwas schwungvoll: Die Orgel gehört zur DNA unserer Kultur wie jedes andere Instrument auch. So viel an Unterschied darf man aber wohl hervorheben, ohne zum Musikchauvinisten zu werden: Die Orgel ist von allen Instrumenten das mit Abstand größte, nach seinem Bau aufwendigste, anspruchsvollste. Man kann andere Instrumente vorziehen, die Monumentalität sowohl ihres Klangs wie ihrer Prospekte ist konkurrenzlos.