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Byzantinische und arabische Automaten
ОглавлениеDass die Orgel in der Antike verbreitet war, beim Zusammenbruch des Römischen Reiches aber in dessen westlichem Teil irgendwann verschwand, ist eine Tatsache. Aber es gab eine Fortsetzung im Osten, am byzantinischen Kaiserhof in Konstantinopel. Man kann nur annehmen, dass Kontinuität vorliegt, auch wenn unklar ist, wieweit das neue Ostrom das antike im Westen beerbte. Fast so bedeutsam wie der alte Zusammenhang von Westen und Osten wird der neue mit dem noch entfernteren Osten, mit dem muslimischen Nachbarn, der neben seinen militärischen Kräften auch seine kulturellen zeigte. Das Hofzeremoniell in Konstantinopel mag noch aus römischen Zeiten stammen, kam aber zuletzt unter den Einfluss östlicher Riten. Im beginnenden Mittelalter orientiert sich Konstantinopel auf jeden Fall eher an Bagdad als an Rom, das mehr oder weniger in Trümmern lag und wo merkwürdige germanische Völker auf merkwürdige Weise die Vergangenheit zu beleben suchten.
Allerdings klafft, was die genauen Abläufe anlangt, eine beträchtliche Lücke. Denn die erste Beschreibung des Hofzeremoniells, dann allerdings in großer Ausführlichkeit, stammt aus dem 10. Jahrhundert. Die aber weist, was die Orgel betrifft, auf unübersehbare Weise in die längst vergessen scheinende Welt der vorchristlichen Jahrhunderte zurück, als diese Orgel weniger Musikinstrument denn Automat, Spielzeug, Gegenstand der Unterhaltung war. Man weiß, dass schon Kaiser Theophilos (gest. 842) ein Ensemble von Automaten aus purem Gold besaß, darunter ein Organum, einen Vogelbaum sowie Löwen und Greife, die irgendwelche Kunststücke vollführten. Sein Sohn Michael III. ließ alles einschmelzen und zu Münzen prägen, um seine Soldaten zu bezahlen, die er gegen die anstürmenden Araber und Slawen dringender nötig hatte. Unter einem der Nachfolger, Konstantin VII. Porphyrogennetos (gest. 959), gab es in entsprechender Blütezeit wieder Ersatz.
Wir wissen es aus dem erhaltenen Zeremonienbuch des Kaisers, das im 15. Kapitel des 2. Buches einen historischen Bericht enthält über den Empfang einer sarazenischen Gesandtschaft aus Tarsus 946 in der Aula des Palastes. Nachdem sich die Gesandten niedergeworfen haben, »blasen die Organa« und hören erst auf, als sich die Gesandten dem Thron nähern. Während des anschließenden Wechsels von Fragen und Antworten sowie der Überreichung der Geschenke brüllen Löwen und singen Vögel auf den umgebenden Bäumen unter ständiger Bewegung. Dann hört der Lärm auf, die Tiere legen oder setzen sich wieder nieder. Als sich die Gesandten anschicken, den Saal zu verlassen, geht das Ganze mit Tönen und Drehen wieder los und endet erst, als der Vorhang vor der Tür gefallen ist. Wer dies für aufgebauscht oder unglaubwürdig hält, mag einen zweiten Bericht lesen. Diesmal stammt er von Bischof Liutprand von Cremona, der 949 als Gesandter des Langobardenkönigs Berengar nach Konstantinopel kam und darüber 962 in seiner Antapodosis berichtet. Wieder ist vom Empfang in der Palastaula die Rede, und wieder geht es um den Thron, neben dem ein vergoldeter Baum voller vergoldeter Vögel steht, die munter singen. Wieder ist von brüllenden (und zusätzlich den Schweif bewegenden) goldenen Löwen die Rede. Als der Bischof nach drei Niederfällen hochblickt, sieht er auch noch, dass sich der Thron mittlerweile in die Höhe gehoben hat. Nebenbei erfährt man, dass Liutprand vorgewarnt war und in der Situation so tut, als sei er überrascht. Erklären kann er sich das Ganze allerdings nicht, tippt auf eine Technik, wie er selbst sie von Kelterpressen her kennt.
Die Organa hat Liutprand in diesem Fall nicht ausdrücklich erwähnt, sie waren aber sicher vorhanden und haben ihre Töne geliefert. Übrigens kam er bei seinem berühmteren zweiten Besuch in Konstantinopel nicht in den Genuss dieses Spektakels, denn als er für den Sohn Kaiser Ottos I. eine kaiserliche Braut suchte, wurde er von Nikephoros Phokas nicht vorgelassen, sondern an den Bruder verwiesen, wo er eine beleidigend abschlägige Antwort erhielt. Dass dies beim ersten Besuch anders war und auch Organa im Spiel gewesen sein müssen, geht daraus hervor, dass das goldene Organon des Kaisers Theophilos ansonsten im Zeremonienbuch immer wieder erwähnt und sogar als »Hauptwunderwerk« des Wunderensembles bezeichnet wird. Wir wissen auch, dass die Instrumente relativ klein waren, denn es werden stets mehrere Exemplare erwähnt, die sich offenbar leicht an den gewünschten Ort transportieren ließen.
Aus einem noch früheren Bericht, der nicht nur das Hofzeremoniell wiedergibt, sondern ausführlich die Ausstattung des Palastes mit Automaten und sonstigen Kunstwerken behandelt, wissen wir Näheres über diese Organa. Denn Harun ben Jahia, ein arabischer Kriegsgefangener in Konstantinopel, spricht von einer Art »Presse« mit ca. 60 »Röhren« aus Messing, alle verschiedener Größe. Ihre Luft bekamen diese Röhren von einem Blasebalg, sodass es sich also nicht mehr um eine Hydraulis qua Wasserorgel handelte. Ihre Funktion bleibt auch diesmal weitgehend im Dunkeln, doch hören wir immerhin, dass die Organa mit Eunuchenchören zusammenwirkten und Kastagnetten sowie Leiern beteiligt waren, die zusammen für musikalische Unterhaltung sorgten. Immerhin sagt der Kriegsgefangene etwas über die Bedienung der Organa. Der Spieler habe die Röhren »gezählt«, was so ausgelegt wird, dass er die Pfeifen in die jeweils gewünschte Position »gestellt« habe.
Schematische Darstellung eines Organum in einer Handschrift des 12. Jahrhunderts, die Schriften eines arabischen Mechanikers namens Muristus enthält, der im 9. Jahrhundert wirkte. Man sieht dabei von oben auf die Orgel, die in drei Behältern je vier Pfeifen enthält. © Bärenreiter Bildarchiv
Ansonsten versorgt uns das Zeremonienbuch mit immer neuen und immer detailreicheren Informationen, die hinsichtlich der Orgeln nur einen Schluss zulassen: Sie »bliesen« zur Akklamation, gaben Signale für Erscheinen und Verschwinden. Weiter werden sie bei den Gastmählern erwähnt: Sie »bliesen« in diesem Fall zu Beginn, während das Essen selbst von Sängern (der Apostelkirche) begleitet wurde. Für die Mahlzeit am Ostermontag sind genaue Angaben gemacht: Wenn der Kaiser Platz nimmt (genauer: sich hinlegt), bläst das Organon und stimmt das Volk seinen Heilruf an. Auch der Heilruf der Vorrufer ist so geregelt, und nach Ertönen des Klanges müssen alle aufstehen und den Herrscher beglückwünschen. Die Prozeduren im Hippodrom werden ebenfalls auf diese Weise organisiert worden sein – mit dem Organon oder den Organa als Zeichengeber bzw. Signalinstrumente. Weiter gibt es Angaben zu Hochzeits- und Krönungszeremonien, Prozessionen und sonstigen Veranstaltungen. Dem Kaiser stehen dabei stets goldene Instrumente zu, für die Führer der Parteien (der »Grünen« und der »Blauen«) müssen silberne genügen.
Zum Zeremonienbuch bzw. zum Zeremoniell mit »Orgel« noch ein Nachtrag. Es kann sein, dass Konstantin VI., von dem eben die Rede war, seine Idee der Wiedereinführung dieses Instruments nicht (nur) aus der Erinnerung an die frühere Verwendung verwirklichte. Möglicherweise brachte er sie von einem Besuch in Bagdad am dortigen Abbasidenhof mit. Denn die hellenistische Kultur der Spätantike fand nicht nur in Konstantinopel eine Fortsetzung, sie war auch Teil der muslimischen Kultur geworden, nachdem die Araber im 7. Jahrhundert Kleinasien erobert und den Islam eingeführt hatten. Wie dort Platon und Aristoteles gelesen wurden, zählte auch Heron von Alexandrien zum Programm – die ersten arabischen Übersetzungen sind fürs 9. Jahrhundert nachgewiesen. Wir wissen, dass ein Autor namens Muristus um 850 bereits selbstständig die Automatenherstellung weitertrieb, und verdanken ihm auch die arabische Bezeichnung für das Organon: nämlich »al-urghin al-bûyî«, was »Posaunenorgel« bedeuten soll. Es sei von den Griechen im Krieg benutzt worden, heißt es, was nicht stimmen muss, aber bezeugt, dass Muristus von einem Signalinstrument ausging. Noch verwirrender die Mitteilung, er, also Muristus, habe ein solches Instrument für den fränkischen König gebaut – Karl der Große kann aus zeitlichen Gründen nicht gemeint sein, und aus dem späteren 9. Jahrhundert ist kein Transfer bekannt.
Dafür versorgt uns Muristus mit genauen Angaben zum Bau des Instruments, das mit seinem über sechs Meter hohen Behälter (»in Form eines Ofens«) tatsächlich einen Wasserdruck erzeugt haben muss, der mit bis zu zwei Meter langen und 40 Zentimeter dicken Pfeifen einige Lautstärke hervorbrachte. Allerdings nimmt ihm wohl niemand die 60 Meilen (heute interpretiert als ca. 12 Kilometer) klanglicher Reichweite ab, höchstens die Tatsache, dass sich die Bälgetreter Watte in die Ohren stopften, um nicht taub zu werden.
Wenn die Mär mit den 60 Meilen dann in späteren arabischen Schriften immer wieder auftaucht, könnte dies an eine sehr alte Legende anschließen: die vom Horn Alexanders des Großen, mit dem er sein Heer zusammengerufen haben soll. In einer Pseudo-Aristoteles-Handschrift aus dem 13. Jahrhundert findet sich dazu eine merkwürdige Abbildung, bei der das riesige Horn von einem einzelnen Mann gehalten, aber von zwei Bläsern geblasen wird. Spätere Muristus-Handschriften aus dem 12. Jahrhundert bieten äußerst übersichtliche, weil aufs Technische konzentrierte Abbildungen mit Pfeifen auf Windladen und Blasebalg samt den nötigen Ventilen. Auch weitere Automaten werden in der arabischen Literatur beschrieben, zum Beispiel eine Wasseruhr mit Figuren. In Tausendundeine Nacht (erste Handschrift 15. Jahrhundert, aber arabische Urfassung als Übersetzung aus dem Persischen im 9. Jahrhundert angesetzt) berichtet Scheherazade von einer Uhr, in der ein goldener Pfau zu jeder vollen Stunde mit den Flügeln schlägt und Töne von sich gibt.
Wieweit all dies in den Westen gelangt ist, bleibt unklar. Anklänge an das Riesenhorn könnten im Rolandslied (erste, französische Fassung im mittleren 12. Jahrhundert) vorliegen, wo der sterbende Held bekanntlich Karl den Großen erfolgreich zu Hilfe ruft. Überhaupt taucht das Riesenhorn früh auf, und zwar im sogenannten Dardanusbrief, der angeblich von Hieronymus, dem bekannten Bibelübersetzer, stammt. Rhabanus Maurus, einer der Gelehrten am Hof Karls des Großen, zitiert 843 daraus. Dort geht es allerdings um ein Horn, das im 150. Psalm des Alten Testamentes erwähnt ist und nun allegorisch ausgelegt wird – unter Einschluss des Faktums, dass es dazu bestimmt war, die Feinde zu erschrecken. Handschriften des Dardanusbriefs aus dem 10. und 12. Jahrhundert bieten dazu höchst eigenartige Abbildungen mit der Gemeinsamkeit, dass das so Abgebildete nicht die geringste Chance hatte, erklingen zu können. Schließlich erwähnt auch der naturwissenschaftlich interessierte Franziskanermönch Roger Bacon (gest. 1294) in seinem Werk Secretum secretorum (»Geheimnis aller Geheimnisse«) eine griechisch-arabische Kriegsmaschine von großer Lautstärke – mit einer Reichweite der ominösen 60 Meilen.