Читать книгу "Ich" - Karl May - Страница 24

Оглавление

Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind war und schon laufen konnte. Ich war weder blind geboren noch mit irgendeinem vererbten, körperlichen Fehler behaftet. Vater und Mutter waren durchaus kräftige, gesunde Naturen. Sie sind bis zu ihrem Tode niemals krank gewesen. Mich atavistischer Schwachheiten zu zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir unbedingt verbitten muss. Dass ich kurz nach der Geburt sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein höchst kräftiger und widerstandsfähiger Junge, der stark genug war, es mit jedem anderen aufzunehmen. Doch ehe ich über mich selbst berichte, habe ich noch für einige Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste Kindheit verlebte.

Mutter hatte mit dem Haus auch die auf ihm stehenden Schulden geerbt. Die waren zu verzinsen. Hieraus ergab sich, dass wir eben nur mietfrei wohnten, und auch das nicht einmal ganz. Mutter war sparsam, Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem maßlos war, in seiner Liebe, seinem Zorn, seinem Fleiß, seinem Lob, seinem Tadel, so auch hier in der Beur- / teilung der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein konnte, weiter zu sparen und das Häuschen von Schulden frei zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu glaubte, plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt zu einer anderen Lebensführung übergehen zu dürfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, Besserem, greifen, was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei. Während er schlaflos im Bette lag und darüber nachdachte, was zu ergreifen sei, hörte er die Ratten über sich im leeren Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren wiederholte sich von Tag zu Tag, und so entstand in der jedem Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluss, die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er wollte Taubenhändler werden, obgleich er von diesem Fach nicht das Geringste verstand. Er hatte gehört, dass da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der Meinung, dass er auch ohne die nötigen Sonderkenntnisse genug Intelligenz besitze, jeden Händler zu überlisten. Die Ratten wurden vertrieben und Tauben wurden angeschafft.

Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten zu bewerkstelligen. Mutter musste einen ihrer Beutel opfern, vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, das wir Kinder an ihnen fanden. Am meisten Vergnügen machte es uns, wenn wir beobachteten, wie die lieben Tierchen ihre zarten Kleider veränderten. Vater hatte zwei Paar sehr teure ‚Blaustriche‘ gekauft. Er brachte sie heim und zeigte sie uns. Er hoffte, wenigstens drei Taler an ihnen zu verdienen. Einige Tage später lagen die blauen Federn am Boden; sie / waren nicht echt, sondern nur angeklebt gewesen. Die kostbaren ‚Blaustriche‘ entpuppten sich als ganz wertlose Feldweißlinge. Vater erwarb einen sehr schönen, jungen, grauen Trommeltäuberich für einen Taler fünfzehn Gute Groschen. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass der Täuberich altersblind war. Er ging nicht aus dem Schlag; sein Wert war gleich null. Solche und ähnliche Fälle mehrten sich. Die Folge davon war, dass Mutter noch einen dritten Beutel opfern musste, um den Taubenhandel in besseren Schwung zu bringen. Freilich gab sich auch Vater große Mühe. Er feierte nicht. Er besuchte alle Märkte, alle Gasthöfe und Schankwirtschaften, um zu kaufen oder Käufer zu finden. Bald kaufte er Erbsen; bald kaufte er Wicken, die er ‚halb geschenkt‘ erhalten hatte. Er war immer unterwegs, von einem Dorf zum andern, von einem Bauern zum andern. Er brachte immerfort Käse, Eier und Butter heim, die wir gar nicht brauchten. Er hatte sie teuer gekauft, um sich die Bauersfrauen handelsgeneigt zu machen, und wurde sie nur mit Mühe und Verlusten wieder los. Dieses unstete, unnütze Leben förderte nicht, sondern fraß das Glück des Hauses; es fraß sogar auch noch die übrigen Leinenbeutel. Mutter gab gute Worte, vergeblich. Sie härmte sich und trug still, bis es Sünde gewesen wäre, weiter zu tragen. Da fasste sie einen Entschluss und ging zum Herrn Stadtrichter Layritz, der sich in diesem Fall viel, viel vernünftiger als damals gegen unsere Frösche zeigte. Sie stellte ihm ihre Lage vor. Sie sagte ihm, dass sie zwar ihren Mann sehr, sehr lieb habe, aber vor allen Dingen auch auf das Wohl ihrer Kinder achten müsse. Sie verriet ihm, dass sie außer den bisher erwähnten Beuteln noch einen besitze, den sie ihrem Manne noch nicht gezeigt, sondern verheimlicht habe. Der Herr / Stadtrichter Layritz solle doch die Güte haben, ihr zu sagen, wie sie dieses Geld anlegen könne, um sich und ihre Kinder zu sichern. Sie legte ihm den Beutel vor. Er öffnete ihn und zählte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. Darob großes Erstaunen! Der Herr Stadtrichter Layritz dachte nach; dann sagte er: „Meine liebe Frau May, ich kenne Sie. Sie sind eine brave Frau, und ich stehe für Sie ein. Unsere Hebamme ist alt; wir brauchen eine jüngere. Sie gehen nach Dresden und werden für dieses Ihr Geld Hebamme. Ich werde das besorgen! Kommen Sie mit der ersten Zensur zurück, so stellen wir Sie sofort an. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Kommen Sie aber mit einer niedrigeren Zensur, so können wir Sie nicht brauchen. Jetzt aber gehen Sie heim und sagen Sie Ihrem Mann, er solle sofort einmal zu mir kommen; ich hätte mit ihm zu reden!“

Das geschah. Mutter ging nach Dresden. Sie kam mit der ersten Zensur zurück, und der Herr Stadtrichter Layritz hielt Wort; sie wurde angestellt.6 Während ihrer Abwesenheit führte Vater mit Großmutter das Haus. Das war eine schwere Zeit, eine Leidenszeit für uns alle. Die Blattern brachen aus. Wir Kinder lagen alle krank. Großmutter tat fast über Menschenkraft. Vater aber auch. Bei einer der Schwestern7 hatte sich der blatternkranke Kopf in einen unförmigen Klumpen verwandelt. Stirn, Ohren, Augen, Nase, Mund und Kinn waren vollständig verschwunden. Der Arzt musste durch Messerschnitte nach den Lippen suchen, um der Kranken wenigstens ein wenig Milch einflößen zu können. Sie lebt heute8 noch, ist die Heiterste von uns allen und niemals wieder krank gewesen. Man sieht noch jetzt die Narben, die ihr der Arzt geschnitten hat, als er nach dem Mund suchte. /

Diese schwere Zeit war, als Mutter wiederkam, noch nicht ganz vorüber, mir aber brachte ihr Aufenthalt in Dresden großes Glück. Sie hatte sich durch ihren Fleiß und ihr stilles, tiefernstes Wesen das Wohlwollen der beiden Professoren Grenser und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben erzählt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um mich von den beiden Herren behandeln zu lassen. Das geschah nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolg. Ich lernte sehen und kehrte, auch im Übrigen gesundend, heim. Aber das alles hatte große, große Opfer gefordert, freilich nur für unsere armen Verhältnisse groß. Wir mussten um all der nötigen Ausgaben willen das Haus verkaufen, und das wenige, was von dem Kaufpreis unser war, reichte kaum zu, das Nötigste zu decken. Wir zogen zur Miete9.

Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und größten Einfluss auf meine Entwicklung ausgeübt hat. Während die Mutter unserer Mutter in Hohenstein geboren war und darum von uns die ‚Hohensteiner Großmutter‘ genannt wurde, stammte die Mutter meines Vaters aus Ernstthal und musste sich darum als ‚Ernstthaler Großmutter‘ bezeichnen lassen. Sie war ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen. Sie war mir von Jugend auf ein herzliebes, beglückendes Rätsel, aus dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals ausschöpfen zu können. Woher hatte sie das alles? Sehr einfach: Sie war Seele, nichts als Seele, und die heutige Psychologie weiß, was das zu bedeuten hat. Sie war in der tiefsten Not geboren und im tiefsten Leid aufgewachsen; darum sah sie alles mit hoffenden, sich / nach Erlösung sehnenden Augen an. Und wer in der richtigen Weise zu hoffen und zu glauben vermag, der hat den Erdenjammer hinter sich geschoben und vor sich nur noch Sonnenschein und Gottesfrieden liegen. Sie war die Tochter bitterarmer Leute, hatte die Mutter früh verloren und einen Vater zu ernähren, der weder stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten, ledernen Lehnstuhl gefesselt war10. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu Tränen rührender Aufopferung. Die Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater nur den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer im Sarge nach dem Kirchhof hinüber. Sie hatte einen Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater gehören, und der brave Bursche gab ihr Recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb ihr treu.

Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene Erbstücke verschiedenen Inhalts, sowohl geistlich als auch weltlich. Es ging die Sage, dass es in der Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese Bücher noch heute erinnerten. Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifröckchen (kleines Öllämpchen) angebrannt, und eines von beiden las vor. In den Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die Bücher nahezu schon zwanzigmal durch, fing aber immer / wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken fanden, die besser, schöner und auch richtiger zu sein schienen als die früheren. Am meisten gelesen wurde ein ziemlich großer und schon sehr abgegriffener Band, dessen Titel lautete:


Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner anderen Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich wörtlich gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in denen sie es für nötig hielt, gab sie Änderungen und Anwendungen, aus denen zu ersehen war, dass sie den Geist dessen, was sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken ließ. Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen von Sitara; es wurde später auch das meinige, weil es die Geografie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten11.

Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen. Die Pflege war so anstrengend, dass auch die Tochter / dem Tode nahe kam, doch überstand sie es. Nach verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und führte sie heim12. Nun endlich, endlich wirklich glücklich! Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester, die später einen schweren Fall tat und an den Folgen verkrüppelte. Man sieht, dass es an Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei uns nicht fehlte. Und ebenso sieht man, dass ich nichts verschweige. Es darf nicht meine Absicht sein, das Hässliche schönzumalen. Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes trat jenes unglückliche Weihnachtsereignis ein, von dem ich bereits erzählte. Der brave junge Mann stürzte des Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und erfror. Großmutter hatte mit ihren beiden Kindern an den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach langer Zeit der Qual, dass und in welch schrecklicher Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der napoleonischen Kriege und der Hungersnot. Es war alles verwüstet. Es gab nirgends Arbeit. Die Teuerung wuchs; der Hunger wütete. Ein armer Handwerksbursche kam, um zu betteln. Großmutter konnte ihm nichts geben. Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das erbarmte ihn. Er ging fort und kam nach über einer Stunde wieder. Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen hatte, Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe, einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Tüte Mehl, eine Tüte Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell fort, um sich ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder gesehen; Einer aber kennt ihn gewiss und wird es ihm nicht ver- / gessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere Hilfe. Einem abseits wohnenden Oberförster, den man als ebenso wohlhabend wie edel denkend kannte, war die Frau gestorben. Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl Kinder hinterlassen. Er wünschte Großmutter zur Führung seiner Wirtschaft zu haben. Sie hätte in dieser Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erklärte aber, sich von ihren eigenen Kindern unmöglich trennen zu können, selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, hätte. Der brave Mann besann sich nicht lange. Er erklärte ihr, es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm äßen; sie würden alle satt. Sie solle nur kommen, doch nicht ohne sie, sondern mit ihnen. Das war Rettung in der höchsten Not.

Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause tat der Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten und erstarkten in der besseren Ernährung. Der Oberförster sah, wie Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein und seine Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast über ihre Kräfte, fühlte sich aber wohl dabei. Er beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, dass er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gewährte, was die seinen bekamen. Freilich war er Aristokrat und nicht ohne Stolz. Er aß mit seiner Schwiegermutter allein. Großmutter war nur Dienstbote, doch aß sie nicht in der Gesinde-, sondern mit in der Kinderstube. Als er aber nach längerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer Beziehung an. Er erleichterte ihr die große Arbeitslast, erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends aus ihren Büchern vorzulesen, und gestattete ihr, dann auch in seine eigenen Bücher zu schauen. Wie gern sie das tat! Und er hatte so gute, so nützliche Bücher! /



Подняться наверх