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3. Keine Jugend (1847–1857)

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Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe ich dich gesehen, wie oft mich über dich gefreut! Bei andern, immer nur bei andern! Bei mir warst du nicht. Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum Neid habe ich überhaupt keinen Platz in mir; aber weh hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem Leben anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, kalten Schattenwinkel. Und ich hatte doch auch ein Herz, und ich sehnte mich doch auch nach Licht und Wärme. Aber Liebe muss sein, selbst im allerärmsten Leben, und wenn dieser Ärmste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der immer nur Empfangende!

Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem man sich über mich befindet, gleich von vornherein auf- / zuklären. Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar für einen Millionär; das bin ich aber nicht. Ich hatte bisher nur mein ‚gutes Auskommen‘, weiter nichts. Selbst hiermit wird es höchstwahrscheinlich zu Ende sein, denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will. Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, dass ich genauso sterben werde, wie ich geboren bin, nämlich als ein armer, nichts besitzender Mensch. Das tut aber nichts. Das ist rein äußerlich. Das kann an meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts ändern.

Die Lüge, dass ich Millionär sei, dass mein Einkommen 180.000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten, sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt, diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen15. Er wusste sehr wohl, was er tat, als er seine Lüge in die Zeitungen lancierte. Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid. Die früheren Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert. Aber seit man mich im Besitz von Millionen wähnt, geht man geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor. Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle. Es berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen Fall als literarische Kavaliere erweisen, auf diesem ordinären Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines Kapital als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter nichts. Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig. Das reicht gerade aus für meinen bescheidenen Haushalt / und für die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen Prozessen zu bringen habe. Früher konnte ich meinem Herzen Genüge tun und gegen arme Menschen, besonders gegen arme Leser meiner Bücher, mildtätig sein. Das hat nun aufgehört. Zwar werde ich infolge jener raffinierten Millionenlüge jetzt mehr als je mit Zuschriften gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und fast ein jeder, den ich abweisen muss, fühlt sich enttäuscht und wird zum Feind. Ich konstatiere, dass jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten zusammengenommen.

Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt, nun wieder zurück zur ‚Jugend‘ dieses angeblichen ‚Millionärs‘, der nach ganz anderen Schätzen strebt als alle, die ihn auszubeuten trachten.

Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem gegenwärtigen Wohlstand ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgang der Vierzigerjahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, Misswachs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte erklären alles. Es mangelte uns an fast allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt ‚Zur Stadt Glauchau‘, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir gingen nach der ‚Roten Mühle‘ und ließen uns einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgendetwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den / Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien! Glücklicherweise gab es unter den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so außerordentlich billige, weiße Handschuhe, die man den Leichen anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter, solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen. Da saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh bis abends spät und stichelten drauflos. Mutter nähte die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die Mittelfinger. Wenn wir sehr fleißig waren, hatten wir alle zusammen am Schluss der Woche elf oder sogar auch zwölf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! Dafür gab es für fünf Pfennige Runkelrübensirup, auf fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung für die verflossene und Anregung für die kommende Woche.

Während wir in dieser Weise fleißig daheim arbeiteten, hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu tun; leider aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend. Es galt nämlich, den König Friedrich August und die ganze sächsische Regierung vor dem Untergang zu retten. Vorher hatte man gerade das Entgegengesetzte gedacht: Der König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Lande gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; aber in Hohenstein und Ernstthal kam man sehr bald hier- / von ab, und zwar aus den vortrefflichsten Gründen; es war nämlich zu gefährlich! Die lautesten Schreier hatten sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt. Da kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer und Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen wollten von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten sich mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; sie drohten; sie baten. Ruhige, vernünftige Männer gesellten sich ihnen zu. Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt hielt Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen Folgen der Empörung; der Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei. Am großen Kirchentor erzählten sich die Jungens in der Abenddämmerung nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehängtwerden und ganz besonders vom Schafott, welches derart beschrieben wurde, dass jedermann, der es hörte, sich mit der Hand nach Hals und Nacken griff.

So kam es, dass die Stimmung sich ganz gründlich änderte. Von der Absetzung des Königs war keine Rede mehr. Im Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als ihn konnte es nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu beschützen. Man hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise dies am besten geschehe, und da allüberall von Kampf und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es sich ganz von selbst, dass auch wir Jungens uns nicht nur in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische Gewänder und in kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten. Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu / und hatte keine Zeit; ich musste Handschuhe nähen. Aber die anderen Buben und Mädels standen überall an den Ecken und Winkeln herum, erzählten einander, was sie daheim bei den Eltern gehört hatten, und hielten höchst wichtige Beratungen über die beste Art und Weise, die Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben. Besonders über eine alte, böse Frau war man empört. Die war an allem schuld. Sie hieß die Anarchie und wohnte im tiefsten Wald. Aber des Nachts kam sie in die Städte, um die Häuser niederzureißen und die Scheunen anzubrennen; so eine Bestie! Glücklicherweise waren unsere Väter lauter Helden, von denen keiner sich vor irgendjemandem fürchtete, auch nicht vor dieser ruppigen Anarchie. Man beschloss die allgemeine Bewaffnung für König und Vaterland. In Ernstthal gab es schon seit alten Zeiten eine Schützen- und eine Gardekompanie. Die Erstere schoss nach einem hölzernen Vogel, die Letztere nach einer hölzernen Scheibe. Zu diesen beiden Kompanien sollten noch zwei oder drei andere gegründet werden, besonders auch eine polnische Sensenkompanie zum Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich denn heraus, dass es in unserem Städtchen eine ganz ungewöhnliche Menge von Leuten gab, die kriegerisch veranlagt waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man wollte keinen von ihnen missen. Man zählte sie. Es waren dreiunddreißig. Das stimmte sehr gut und rechnete sich glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompanie je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen Leutnant; wenn man zu den Schützen und der Garde noch neun neue Kompanien formte, so ergab das in Summe elf, und alle dreiunddreißig Offiziere waren unter Dach und Fach. Dieser Vorschlag wurde ausgeführt, wobei die Kopfzahl der einzelnen Kompanien ganz selbstver- / ständlich nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor, Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim Militär gestanden hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn je kleiner eine Kompanie sei, desto weniger Leute könnten im Kriege von ihr weggeschossen werden, und so blieb es bei dem, was beschlossen worden war.

Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompanie. Er bekam einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete nach Höherem. Darum beschloss er, sobald er ausexerziert war, sich ganz heimlich, ohne dass irgendjemand etwas davon merkte, im ‚höheren Kommando‘ einzuüben. Und da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, wurde ich einstweilen vom Handschuhenähen dispensiert und wanderte mit ihm tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere geheimen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die sächsische Armee. Ich wurde erst als ‚Zug‘, dann als ganze Kompanie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division. Ich musste bald reiten, bald laufen, bald vor und bald zurück, bald nach rechts und bald nach links, bald angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber ich war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem jähen Temperament meines Generals wohl denken, dass es mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben. Aber ich weinte bei keiner Strafe, ich war zu / stolz dazu. Eine sächsische Armee, welche weint, die gibt es nicht! Auch ließ der Lohn nicht auf sich warten. Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu mir: „Junge, dazu hast du viel geholfen. Ich baue dir eine Trommel. Du sollst Tambour werden!“ Wie ich mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich der Überzeugung war, all diese Püffe, Stöße, Hiebe und Katzenköpfe nur zum Wohl und zur Rettung des Königs von Sachsen und seines Ministeriums empfangen zu haben! Wenn er das wüsste!

Die Trommel bekam ich, denn Vater hielt stets Wort. Der Klempnermeister Leistner am Markt in Hohenstein war ihm behilflich, sie zu bauen. Es war eine sehr gut gelungene Solotrommel; sie existiert noch heute. Ich bin später, als ich etwas größer war, doch auch noch als Knabe, Tambour bei der siebenten Kompanie gewesen und werde diese Trommel noch einmal zu erwähnen haben. Die elf Kompanien taten ihre Schuldigkeit. Sie exerzierten fast täglich, wozu mehr als genug Zeit vorhanden war, weil es keine Arbeit gab. Wie wir trotzdem existieren konnten und wovon wir eigentlich gelebt haben, das kann ich heute nicht mehr sagen; es kommt mir wie ein Wunder vor. Es gab auch an anderen Orten ‚Königsretter‘. Die standen miteinander in Verbindung und hatten beschlossen, sobald der Befehl dazu gegeben werde, nach Dresden aufzubrechen und für den König alles zu wagen, unter Umständen sogar das Leben. Und eines schönen Tages kam er, dieser Befehl16. Die Signalhörner erklangen; die Trommeln wirbelten. Aus allen Türen strömten die Helden, um sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Der Fleischermeister Haase war Regimentsadjutant. Er hatte sich ein Pferd geborgt und saß da mitten drauf. Es war keine leichte Sache für ihn, zwischen dem Kommandanten, dem Vize- / kommandanten und den Hauptleuten zu vermitteln, denn der Gaul wollte immer anders als der Reiter. Die Frau Stadtrichter Layritz hängte eine Tischdecke und ihre Sonntagssaloppe zu den Fenstern heraus. Das war geflaggt. Wer etwas dazu hatte, der machte es ihr nach. Dadurch gewann der Marktplatz ein festlich frohes Angesicht. Man war überhaupt nur begeistert. Keine Spur von Abschiedsschmerz! Niemand hatte das Bedürfnis, von Frau und Kindern besonders Abschied zu nehmen. Lauter Jubel, dreimal hoch, vivat, hurra an allen Orten! Der Herr Kommandant hielt eine Rede. Hierauf ein grandioser Tusch der Blasinstrumente und Trommeln. Dann die Kommandorufe der einzelnen Hauptleute: „Achtung – – Augen rechts, rrrricht’t euch – – Augen grrrade aus – – G’wehr bei Fuß – G’wehr auf – – G’wehr präsentiert – G’wehr über – – Rrrrechts um – – Vorwärts marsch!“ Voran der Herr Adjutant auf dem geborgten Pferd, hinter ihm die Musikanten mit dem türkischen Schellenbaum, die Tamboure, sodann der Kommandant und der Vizekommandant, hierauf die Schützen, die Garde und die neun anderen Kompanien, so marschierten die Heerscharen links, rechts, links, rechts zur damaligen Hintergasse hinaus und am Zechenteich vorüber, dem wir damals unsere Frösche anvertrauten, nach Wüstenbrand, um über Chemnitz und Freiberg nach der Hauptstadt zu gelangen. Eine Menge Angehöriger marschierte hinterdrein, um den Mutigen bis an das Weichbild des Städtchens das Geleit zu geben. Ich aber stand bei meinem ganz besonderen Liebling, dem Herrn Kantor Strauch, der unser Nachbar war, an seiner Haustür, dabei die Friederike, seine Frau, die eine Schwester des Herrn Stadtrichter Layritz war. Sie hatten keine Kinder, und ich war berufen, ihnen ihre kleinen wirtschaft- / lichen Angelegenheiten zu besorgen. Ihn liebte ich glühend; sie aber war mir zuwider, denn sie belohnte alle meine Wege, die ich für sie tat, nur mit angefaulten Äpfeln oder mit teigigen Birnen und erlaubte ihrem Mann nicht mehr als monatlich nur zwei Zigarren zu rauchen, das Stück zu zwei Pfennigen. Die musste ich ihm vom Krämer holen, weil er sich schämte, so billige selbst zu kaufen, und er rauchte sie im Hof, weil die Friederike den Tabaksgeruch nicht vertragen konnte. Auch er war heut vom Anblick unserer Truppen aufrichtig begeistert. Während er ihnen nachblickte, sagte er:

„Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche Begeisterung für Gott, für König und Vaterland!“

„Aber was bringt sie ein?“, fragte die Frau Kantorin.

„Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre Glück!“

Bei diesen Worten trat er in das Haus; er liebte es nicht zu streiten. Ich ging nach unserem Hof. Da stand ein Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre Glück; das wollte und musste ich mir merken! Später hat dann das Leben an diesen drei Worten herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen sich die Formen verändert haben, das innere Wesen ist geblieben.

Von allen, die heute ausgezogen waren, um große Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrig habe, das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampf verwundet oder / gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, dass er mit seinen Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel geworden war, stellten sich noch einige andere ein, die aus triftigen Gründen entlassen worden waren und die Nachricht brachten, dass unser Armeekorps hinter Chemnitz bei Öderan biwakiere und Spione nach Freiberg geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die überraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde, dass man aus Freiberg die Weisung erhalten habe, sofort wieder umzukehren, man werde gar nicht gebraucht, denn die Preußen seien in Dresden eingerückt17, und so stehe für den König und die Regierung nicht das Geringste mehr zu befürchten. Man kann sich wohl denken, dass es heute nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich empörte mich gegen das Handschuhnähen. Ich riss einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und Mädels zu, die elf Kompanien bilden und ihren heimkehrenden Vätern entgegenziehen sollten. Dieser Plan wurde ausgeführt. Wir kampierten bei den Wüstenbrander Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag den Schießhausberg hinab, wo unsere verwaisten Frauen und Mütter standen, um uns alle, Groß und Klein, teils gerührt, teils lachend in Empfang zu nehmen.

Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des tiefen Eindrucks wegen, den es auf mich machte. Ich habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals zusammengeflossen sind. Dass ich trotz allem, was später geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Ge- / setze schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der frühen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu Geist und Seele geworden sind.

Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen, früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule genügte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltönenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell treffsicher und der Öffentlichkeit gegenüber mutig. So kam es, dass mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte für teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr Kantor musste sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht angängig war, da komponierte er selbst. Und er war Komponist! Und zwar was für einer! Aber er stammte aus dem kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach18 von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium förmlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer und Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhose kleiden können und sah einen Taler für ein Vermögen an, von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher Orgel-, Klavier- und Violinspieler, kannte er auch die kompositorische Behandlung jedes anderen Musikinstruments und hätte / es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können, wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen wären. Jedermann wusste: Wo in Sachsen und den angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernstthal, um sie kennenzulernen und einmal spielen zu können. Das war die einzige Freude, die er sich gönnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernstthal, dazu fehlte ihm außer der Beherztheit besonders auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der Ehe als zweiunddreißigfüßiges ‚Prinzipal‘ ertönte, während dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften ‚Vox humana‘ zugebilligt wurde. Sie besaß mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgärten, deren Erträgnisse mit der äußersten Genauigkeit verwertet wurden, und dass ich von ihr nur angefaulte oder teigige Äpfel und Birnen bekam, das habe ich bereits erwähnt. Sie wusste das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Königreich verschenke. Für den unendlich hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als Künstler, hatte sie nicht das geringste Verständnis. Sie war an ihre Gärten und er infolgedessen an Ernstthal gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen Bedürfnisse kümmerte sie sich nicht. Sie öffnete keins seiner Bücher, und seine vielen Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dach standen. Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur an die Papiermühle verkauft, ohne dass ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein tiefes, von andern kaum zu fassendes Elend es ist, für das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den / begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen kommen lässt, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine Gutmütigkeit, die niemals vergessen konnte, dass er ein armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Mädchen und außerdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war.

Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Ich habe bereits gesagt, dass Vater den Bogen zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr Kantor neunmal unter zehnmal mit dem Bescheid heraus: „Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau hält es nicht aus; sie hat Migräne.“ Manchmal hieß es auch „sie hat Vapeurs“. Was das war, wusste ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung dessen, was ich auch nicht wusste, nämlich der Migräne. Aber dass sich das immer nur dann einstellte, wenn ich Klavier spielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus, dass er mich nach und nach, gerade wie die Gelegenheit es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das in der späteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt noch nicht.

Wie mein Vater sich in allem ungeduldig zeigte, so auch in dem, was er meine ‚Erziehung‘ nannte. / Wohlgemerkt: Mich ‚erzog‘ er; um die Schwestern kümmerte er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, dass ich im Leben das erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, nämlich nicht nur eine glücklichere, sondern auch eine geistig höhere Lebensstellung. Denn das muss ich ihm nachrühmen, dass ihm zwar der Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nächsten stand, dass er aber den höheren Wert auf die kräftige Entwicklung der geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudrücken vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womöglich ein hochgebildeter Mann werden, der für das allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermochte; dies war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht gerade in diesen, sondern in anderen Worten äußerte. Man sieht, er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er glaubte fest an das, was er wünschte, und war vollständig überzeugt, es erreichen zu können. Leider aber war er sich über die Wege, auf denen, und über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war, nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen Hindernisse, die seinem Plan entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum größten Opfer bereit, aber er bedachte nicht, dass selbst das allergrößte Opfer eines armen Teufels dem Widerstand der Verhältnisse gegenüber kein Gramm, kein Quäntchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine Ahnung davon, dass ein ganz anderer Mann als er dazu gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern. Er war der Ansicht, dass ich vor allen Dingen so viel wie möglich so schnell wie möglich zu lernen hätte, und hiernach wurde mit größter Energie gehandelt.

Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen, aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das / Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre ältere Schwester ein. Dann wurden die Schulbücher älterer Knaben gekauft. Ich musste daheim die Aufgaben lösen, die ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald klassenfremd, für so ein kleines, weiches Menschenkind ein großes, psychologisches Übel, von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich glaube, dass sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was für ein großer Fehler da begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erwägung aus, dass ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die nächsthöhere Klasse zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so drückte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darüber zu, dass ich als acht- oder neunjähriger Knabe schon bei den Elf- und Zwölfjährigen saß. In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule freilich nicht viel gehörte, war dies allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen großen, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, dass ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte, für meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der anderen Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlichen Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Wort, ich war gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht über / dieses nur scheinbar winzige, höchst unwichtige Knabenschicksal zu lächeln. Der Erzieher, der sich im Reich der Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen Augenblick zögern, es ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will festen Boden unter den Füßen haben, den es ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das, was man als ‚Jugend‘ bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist, dass ich selbst noch heute, im hohen Alter, in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen, dass um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich ganz unmöglich zu unterschreiben vermag.

Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf die Schularbeiten. Er holte allen möglichen sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl befähigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu können. Er brachte alles, was er fand, herbei. Ich musste es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, dass ich es dadurch besser behalten könnte. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geografie Deutschlands aus dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, musste ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprägen. Die stimmten natürlich längst nicht mehr! Ich saß ganze Tage und halbe Nächte lang, um mir dieses wüste, unnötige Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Überfütterung sondergleichen. Ich wäre / hieran wahrscheinlich zu Grunde gegangen, wenn sich mein Körper nicht trotz der äußerst schmalen Kost so überaus kräftig entwickelt hätte, dass er selbst solche Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte.

Und es gab auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte nämlich keinen Spaziergang und keinen Weg über Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran nur eine Bedingung zu knüpfen, nämlich die, dass kein Augenblick der Schulzeit dabei versäumt wurde. Die Spaziergänge durch Wald und Hain waren wegen seiner reichen Pflanzenkenntnisse immer hochinteressant. Aber es wurde auch eingekehrt. Es gab bestimmte Tage und bestimmte Restaurationen. Da kamen der Herr Lehrer Schulze, der Herr Rektor, der reiche Wetzel, der Herr Kämmerer Thiele, der Kaufmann Vogel, der Schützenhauptmann Lippold und andere, um Kegel zu schieben oder einen Skat zu spielen. Vater war stets dabei und ich mit, denn ich musste. Er meinte, ich gehöre zu ihm. Er sah mich nicht gern mit anderen Knaben zusammen, weil ich da ohne Aufsicht sei. Dass ich bei ihm, in der Gesellschaft erwachsener Männer, gewiss auch nicht besser aufgehoben war, dafür hatte er kein Verständnis. Ich konnte da Dinge hören und Beobachtungen machen, welche der Jugend am besten vorenthalten bleiben. Übrigens war Vater selbst in der angeregtesten Gesellschaft außerordentlich mäßig. Ich habe ihn niemals betrunken gesehen. Wenn er einkehrte, so war sein regelmäßiges Quantum ein Glas einfaches Bier für sieben Pfennig und ein Glas Kümmel oder Doppelwacholder für sechs Pfennig; davon durfte auch ich mittrinken. Bei besonderen Veranlassungen teilte er ein Stückchen Kuchen für sechs Pfennig mit mir. Niemand hat ihn jemals gewarnt, mich in solche Gesellschaften von Erwachsenen / mitzubringen, selbst der Rektor und der Pastor nicht, der sich auch zuweilen einstellte. Diese Herren wenigstens mussten doch wissen, dass ich da selbst auf erlaubten und vollständig reinen Unterhaltungsgebieten als stiller, aber sehr aufmerksamer Zuhörer in Dinge und Verhältnisse eingeweiht wurde, die mir noch jahrzehntelang fernzuliegen hatten. Ich wurde nicht frühreif, denn dieses Wort pflegt man nur auf Geschlechtliches zu beziehen, und davon bekam ich nichts zu hören, sondern etwas noch viel Schlimmeres: Ich wurde aus meiner Kindheit herausgehoben und auf den harten, schmutzigen Weg gezerrt, auf dem meine Füße das Gefühl haben mussten, als ob sie auf Glassplittern gingen. Wie wohl ich mich dann fühlte, wenn ich zu Großmutter kam und bei ihr mich in mein liebes, liebes Märchenreich flüchten konnte! Freilich war ich viel zu jung, um einzusehen, dass dieses Reich sich aus der wahrsten, festesten Wirklichkeit erhob. Für mich hatte es keine Füße; es schwebte; es konnte mir erst später, wenn ich mich zum Verständnis emporgearbeitet hatte, die Stütze bieten, die mir so nötig war.

Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater19. Zwar nur ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater, aber doch Theater. Das war im Webermeisterhaus. Erster Platz drei Groschen, zweiter Platz zwei Groschen, dritter Platz einen Groschen, Kinder die Hälfte. Ich bekam die Erlaubnis, mit Großmutter hinzugehen. Das kostete fünfzehn Pfennig für uns beide. Es wurde gegeben: ‚Das Müllerröschen oder die Schlacht bei Jena‘. Meine Augen brannten; ich glühte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten für mich. Sie sprachen; sie liebten und hassten; sie duldeten; sie fassten große, kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf für / König und für Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren, musste Großmutter mir beschreiben, wie die Puppen bewegt werden.

„An einem Holzkreuz“, erklärte sie mir. „Von diesem Holzkreuz gehen die Fäden hernieder, die an den Gliedern der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das Kreuz bewegt.“

„Aber sie sprechen doch!“, sagte ich.

„Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den Händen hält, spricht. Es ist genauso wie im wirklichen Leben.“

„Wie meinst du das?“

„Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber verstehen lernen.“

Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, nochmals zu gehen. Es wurde gespielt ‚Doktor Faust oder Gott, Mensch und Teufel‘. Es wäre ein vergebliches Beginnen, den Eindruck, den dieses Stück auf mich machte, in Worte fassen zu wollen. Das war nicht der Goethesche Faust, sondern der Faust des uralten Volksstücks, nicht ein Drama, in dem die ganze Philosophie eines großen Dichters aufgestapelt wurde und auch noch etwas mehr, sondern das war ein direkt aus der tiefsten Tiefe der Volksseele heraus zum Himmel klingender Schrei nach Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens. Ich hörte, ich fühlte diesen Schrei, und ich schrie ihn mit, obgleich ich nur ein armer, unwissender Knabe war, damals wohl kaum neun Jahre alt. Der Goethesche Faust hätte mir, dem Kinde, gar nichts sagen können; er sagt mir, aufrichtig gestanden, selbst heute noch nicht, was er der Menschheit wahrscheinlich hat sagen wollen und sollen; / aber diese Puppen sprachen laut, fast überlaut, und was sie sagten, das war groß, unendlich groß, weil es so einfach, so unendlich einfach war: Ein Teufel, der nur dann zu Gott zurückkehren darf, wenn er den Menschen mit sich bringt! Und die Fäden, diese Fäden, die alle nach oben gehen, mitten in den Himmel hinein! Und alles, alles, was sich da unten bewegt, das hängt am Kreuz, am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid. Was nicht an diesem Kreuze hängt, ist überflüssig, ist bewegungslos, ist für den Himmel tot! Freilich kamen mir diese letzteren Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber Großmutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht so deutlich aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah, das begann ich doch zu ahnen. Ich musste als Kurrendaner sonn- und feiertags zweimal in die Kirche, und ich tat dies gern. Ich kann mich nicht besinnen, jemals einen dieser Gottesdienste versäumt zu haben. Aber ich bin aufrichtig genug zu sagen, dass ich trotz aller Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen habe wie damals aus dem Puppentheater. Seit jenem Abend ist mir das Theater bis auf den heutigen Tag als eine Stätte erschienen, durch deren Tor nichts dringen soll, was unsauber, hässlich oder unheilig ist. Als ich den Herrn Kantor fragte, wer dieses Theaterstück ausgesonnen und niedergeschrieben habe, antwortete er, das sei kein einzelner Mensch, sondern die Seele der ganzen Menschheit gewesen, und ein großer, berühmter deutscher Dichter, Wolfgang Goethe geheißen, habe daraus ein herrliches Kunstwerk gemacht, welches nicht für Puppen, sondern für lebende Menschen geschrieben sei. Da fiel ich schnell ein: „Herr Kantor, ich will auch so ein großer Dichter werden, der nicht für Puppen, sondern nur für / lebende Menschen schreibt! Wie habe ich das anzufangen?“ Da sah er mich sehr lange und unter einem fast mitleidigen Lächeln an und antwortete: „Fang es an, wie du willst, mein Junge, es werden doch meist nur Puppen sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst.“ Diesen Bescheid habe ich freilich erst später verstehen gelernt; aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und geblieben, und der Gedanke, dass die meisten Menschen nur Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen Hintergrund20. Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der Waffen, das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in den Händen hält, um das Volk der Menschen zu beeinflussen, das ist niemals sofort, sondern immer nur erst später an den Folgen zu ersehen.

Kurze Zeit darauf lernte ich auch Stücke kennen, die nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem ich auf meine Trommel zurückzukommen habe. Es ließ sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in Ernstthal nieder21. Es handelte sich also nicht um ein Puppen-, sondern um ein wirkliches Theater. Die Preise waren mehr als mäßig: erster Platz 50 Pfennig, zweiter Platz 25 Pfennig, dritter Platz 15 Pfennig und vierter Platz 10 Pfennig, nur zum Stehen. Aber trotz dieser Billigkeit blieb täglich über die Hälfte der Sitze leer. Die ‚Künstler‘ fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen; da erschien ihm ein Retter, und dieser Retter war – ich. Er hatte beim Spazierengehen / meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, dass Vater schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: „Karl, hole deine Trommel herunter; wir müssen sie putzen!“ „Wozu?“, fragte ich. „Du hast die Preziosa und alle ihre Zigeuner dreimal über die ganze Bühne herumzutrommeln.“ „Wer ist die Preziosa?“ „Eine junge, schöne Zigeunerin, die eigentlich eine Grafentochter ist. Sie wurde von den Zigeunern geraubt. Jetzt kommt sie zurück und findet ihre Eltern22. Du bist der Tambour und bekommst blanke Knöpfe und einen Hut mit weißer Feder. Das zieht Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht. Wird das ‚Haus‘ voll, so gibt der Herr Direktor dir fünf Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du nichts. Morgen Vormittag 11 Uhr ist Probe.“

Es versteht sich ganz von selbst, dass ich in Wonne schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke Knöpfe! Weiße Feder! Dreimal um die ganze Bühne herum! Fünf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden Nacht nur wenig und stellte mich mit meiner Trommel sehr pünktlich zur Probe ein. Sie verlief gut. Ich gefiel sämtlichen Künstlerinnen und Künstlern. Die Frau Direktorin streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor lobte mein intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein schnelles Begriffsvermögen. Meine Rolle sei aber auch sehr leicht. Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennig; schon mit dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen. Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig herunter, denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt und ließ nicht mit sich handeln. Ich hatte für die fünfzig Pfennig nur einmal aufzutreten, um dem großen Zigeunerumzug voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse, die Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenüber in der / jenseitigen Kulisse stand der Regisseur, der den alten Schlossvogt Pedro spielte. Wenn der die rechte Hand emporhob, so war dies das Zeichen für mich, meinen Marsch sofort zu beginnen und nach einem dreimaligen, strammen Umgang in derselben Kulisse wieder zu verschwinden. Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht irren. Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe mit. Mutter musste sie mir anflicken. Es waren über dreißig Stück; sie gingen fast nicht ganz auf meine Weste. Im Laufe des Nachmittags brachte man mir den Hut mit der weißen Feder. Der wurde als Reklame zum Fenster hinausgehängt und hat seine Wirkung getan. Ich hatte mich eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung einzustellen. Da wurde ich von der Frau Direktorin strahlenden Angesichts empfangen, denn der Zuschauerraum war schon jetzt derart gefüllt, dass schnell ganz vorn noch einige ‚Logen‘ eingerichtet wurden, zum Preis von zehn Neugroschen pro Platz. Auch die waren rasch verkauft. Vater, Mutter und Großmutter hatten Freiplätze bekommen. Ich war eben an diesem Tage ein höchst wertvolles Menschenkind. Diese Erkenntnis hatte sich so allgemein verbreitet, dass die Frau Direktorin sich bewogen fühlte, mir meine fünf Neugroschen, schon ehe der Vorhang zum ersten Mal aufging, in die rechte Hosentasche zu stecken. Das erhöhte meine Sicherheit und meine künstlerische Begeisterung bedeutend.

Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke meines ersten Bühnendebüts! Der erste Akt spielte in Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich saß in der Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der Bühne gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich schnallte die Trommel an, setzte den Federhut auf und ging nach meiner Kulisse. Don Fernando und Donna Klara / und noch irgendwer standen auf der Bühne. In der gegenüberliegenden Kulisse lehnte der Schlossvogt Pedro, der mir das Zeichen zu geben hatte. Er sah mich mit einem so energischen Schritte kommen, dass er glaubte, ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium. Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren. Ich aber nahm das ganz selbstverständlich für das verabredete Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter mir standen, begann meinen Wirbel zu schlagen und marschierte hinaus, rund um die Bühne herum. Don Fernando und Donna Klara standen vor Schreck ganz starr. „Lausbub!“, schrie mir der Schlossvogt zu, als ich an ihm vorüberschritt. Er griff aus der Kulisse heraus, um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon war ich an ihm vorüber. Aus allen Kulissen winkte man mir, doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber bestand auf dem, was ausgemacht worden war, nämlich dreimal rund um die Bühne herum. „Lausbub!“, brüllte der Schlossvogt, als ich zum zweiten Mal an ihm vorüberkam, und zwar tat er das so laut, dass es trotz des Trommelwirbels auch hinaus- und über den ganzen Zuschauerraum schallte. Lautes Gelächter antwortete von dorther; ich aber begann meine dritte Runde. „Bravo, bravo!“, erklangen die Beifallsrufe des Publikums.

Da kam endlich Bewegung in den erschrockenen Herrn Direktor, der den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, fasste meine beiden Arme, sodass ich stehen bleiben und die Trommelschlägel ruhen lassen musste, und donnerte mich an:

„Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte doch an!“

„Nein, nicht anhalten, sondern weiter, immer weiter!“, rief man im Zuschauerraum lachend.

„Ja, weiter, immer weiter!“, antwortete auch ich, während / ich mich von ihm losriss. „Die Zigeuner haben zu kommen! Raus mit der Bande, raus mit der Bande!“

„Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!“, schrie, brüllte und johlte das Publikum.

Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel von Neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch nur notgedrungen, voran Vianda, die alte Zigeunermutter, und dann die anderen alle hinterdrein. Nun begann erst der eigentliche Umzug, dreimal rundum und dann zu meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich das Publikum nicht zufrieden. Es rief: „Heraus mit der Bande, heraus!“, und wir mussten den Umzug von Neuem beginnen und immer wieder von Neuem. Und am Schluss des Aktes musste ich noch zweimal heraus. War das ein Gaudium! Sodann hatte ich eigentlich nichts mehr zu tun und konnte gehen, aber der Herr Direktor ließ mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze Ansprache auf, die ich jetzt auswendig lernen und am Schluss der Vorstellung halten sollte. Für den Fall, dass ich meine Sache gut machen würde, versprach er mir noch weitere fünfzig Pfennige. Das wirkte äußerst anregend auf mein Gedächtnis. Als das Stück zu Ende war und der Beifall zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe die ‚hohen Herrschaften‘ zu bitten, sich noch nicht gleich zu entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und von Platz zu Platz gehen werde, um Abonnementbillets zu verkaufen, so billig, wie sie morgen, übermorgen und auch fernerhin unmöglich abgegeben werden könnten. Als Reminiszenz auf den Wortlaut des heutigen Beifalls hatte der Herr Direktor dem Schluss dieser Ansprache folgende Fassung gegeben: „Also rrrrein mit der Hand in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, rrrraus!“ / Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten Erfolg. Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der hohen Direktion als auch die aller übrigen Künstlerinnen und Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen, denn ich bekam nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen, sondern dazu noch ein Freibillet, das für den ganzen diesmaligen Aufenthalt der Truppe bei uns galt. Ich habe es auch wiederholt benutzt, und zwar für Stücke, in welche Vater mich gehen lassen konnte. Übrigens gab es bei dieser braven Truppe wohl kaum eine sittliche Gefahr für die Zuhörerschaft, denn als der Herr Direktor sich eines Tages mit am Kegelschieben beteiligte und bei dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er alle zärtlichen Liebesszenen so ängstlich aus seinen Stücken streiche, antwortete er: „Teils aus moralischem Pflichtgefühl und teils aus kluger Erwägung. Unsere erste und einzige Liebhaberin ist zu alt und auch zu hässlich für solche Rollen.“

In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen hängen. Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb einer späteren Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht gelingen, den Gott, den Teufel und den Menschen herauszufinden. Das passiert mir sogar noch heute sehr häufig, obwohl diese drei Faktoren nicht nur die bedeutendsten, sondern sogar die einzigen sind, aus deren Zusammenwirken sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich jetzt, als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand ich nichts davon und ließ mir von der leeren, hohlen Oberflächlichkeit gewaltig imponieren, wie jedes andere größere oder kleinere Kind. Die Menschen, die solche Stücke schrieben, die auf der Bühne gegeben wurden, kamen mir wie Götter vor. Wäre ich ein so bevorzugter / Mensch, so würde ich nicht von geraubten Zigeunerinnen erzählen, sondern von meinem herrlichen Sitara-Märchen, von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede von Kulub, von der Erlösung aus der Erdenqual und anderen, ähnlichen Dingen! Man sieht, ich befand mich hier wieder an einem jener Punkte, an denen ich aus dem Halt, den andere Kinder haben und der auch mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde, in die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten Männern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch anderes kam hinzu.

Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgemäß war ich evangelisch-lutherisch getauft worden, genoss evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war, evangelisch-lutherisch konfirmiert23. Aber zu einer Stellungnahme gegen Andersgläubige führte das keineswegs. Wir hielten uns weder für besser noch für berufener als sie. Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereich seines Kirchenamtes religiösen Hass zu säen. Unsere Lehrer dachten ebenso. Und die, auf die es hier am meisten ankam, nämlich Vater, Mutter und Großmutter, die waren alle drei ursprünglich tief religiös, aber von jener angeborenen, nicht angelehrten Religiosität, die sich in keinen Streit einlässt und einem jeden vor allen Dingen die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, so kann er sich dann umso leichter auch als guter Christ erweisen. Ich hörte einst den Herrn Pastor mit dem Herrn Rektor über religiöse Differenzen sprechen. Da sagte der Erstere: „Ein Eiferer ist niemals ein guter Diplomat.“ Das habe ich mir gemerkt. Ich habe bereits gesagt, dass ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal / in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe täglich gebetet, in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heute. Seit ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heute noch unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.

Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus gehabt, und zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, Tiefes bedeutet, ist mir heilig. Darum machten einige religiöse Gebräuche, an denen ich mich als Knabe zu beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck. Der eine dieser Gebräuche war folgender: Die Konfirmanden, welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren, beteiligten sich am darauffolgenden Grünen Donnerstag zum ersten Mal in ihrem Leben an der heiligen Kommunion. Nur während dieser einen Abendmahldarreichung, sonst während des ganzen Jahres nicht, standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu beiden Seiten des Altars, um Handreichungen zu tun. Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock, Beffchen und weißes Halstuch. Sie standen zwischen dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten und hielten schwarze, goldberänderte Schutztücher empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam. Diese frommen, gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altar wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.

Ein anderer dieser Gebräuche war der, dass am ersten Weihnachtsfeiertag jedes Jahr während des / Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias Kap. 9 Vers 2 bis 7 zu singen. Er tat dies ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung. Es gehörte Mut dazu, und es kam nicht selten vor, dass der Organist dem kleinen Sänger zu Hilfe zu kommen hatte, um ihn vor dem Steckenbleiben zu bewahren. Auch ich habe diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise meiner Leser, wenn auch in anderen Worten, zwischen den Zeilen meiner Bücher. Wer als kleiner Schulknabe auf der Kanzel gestanden und mit fröhlich erhobener Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat, dass ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von Bethlehem durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn alle anderen Sterne verlöschen.

Wer nicht gewohnt ist, tiefer zu blicken, der wird jetzt wahrscheinlich sagen, dass ich auch hier wieder auf einen der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester Halt nach dem anderen unter den Füßen hinweggenommen wurde, sodass ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft zu schweben hatte. Es ist aber gerade das Gegenteil der Fall. Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der Richtung nach der Erde zu, dafür aber ein Tau, stark und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter mir der Abgrund sich öffnen sollte, dem ich, wie Fatalisten behaupten würden, von allem Anfang an verfallen war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten / Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und bis heute noch liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte steigen, durch die mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, endlosen Qual geworden ist.

Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim richtigen Namen nenne, – – Lektüre. Ich bin ihn nicht etwa hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet, sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand meines Vaters. Freilich ahnte dieser ebenso wenig wie ich, wohin dieser Weg uns führte. Meine erste Lektüre bildeten die Märchen, das Kräuterbuch und die Bilderbibel mit den Anmerkungen unserer Vorfahren. Hierauf folgten die verschiedenen Schulbücher der Vergangenheit und Gegenwart, die es im Städtchen gab. Dann alle möglichen anderen Bücher, die Vater sich zusammenborgte. Nebenbei die Bibel. Nicht etwa eine Auswahl biblischer Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum letzten Wort, mit allem, was darin steht. Vater hielt das für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm da, auch der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, dass ich, wenn auch nur scheinbar, müßig stand. Und er war gegen alle Beteiligung an den ‚Unarten‘ anderer Knaben. Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie andern anzupreisen. Ich musste stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu ‚lernen‘! Vom Handschuhnähen wurde ich nach und nach befreit. Auch wenn er ausging, brachte mir das keine Erlösung, sondern er nahm mich mit. Wenn ich meine Altersgenossen auf dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte, / war dies höchst gefährlich. Saß ich dann betrübt oder gar mit heimlichen Tränen bei meinem Buch, so kam es vor, dass Mutter mich leise zur Tür hinaussteckte und erbarmend sagte: „So geh schnell ein bisschen hinaus; aber komm ja in zehn Minuten wieder, sonst schlägt er dich. Ich sag, ich habe dich wohin geschickt!“ Oh, diese Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da wissen will, wie und was ich noch heute über sie denke, der schlage in meinen ‚Himmelsgedanken‘ die Gedichte ‚An die Mutter‘ und ‚Des Kindes Seligkeit‘ auf. Und das dem erstgenannten folgende bezieht sich auf Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh herausgewachsen ist, jener orientalischen Königstochter, die für mich und meine Leser als ‚Menschheitsseele‘ gilt24.

Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernstthal von Büchern jeden Genres in Privathänden befand, zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon abgeschrieben resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen Quellen um. Es gab deren drei, nämlich die Bibliotheken des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich auch hier als der Vernünftigste von allen. Er sagte, Bücher zur Unterhaltung habe er nicht, sondern nur Bücher zum Lernen, und für die sei ich jetzt noch viel zu jung. Aber er gab doch eins von ihnen her, denn er meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr nützlich, den lateinischen Text unserer Kirchengesänge in die deutsche Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch war eine lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte, doch auf dem nächsten Blatt stand zu lesen:

„Ein puer lernen muss, wenn er will werden dominus; lernt er aber mit Verdruss, so wird er ein asinus! “ /

Vater war ganz entzückt von diesem Vierzeiler und meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, dass ich kein asinus, sondern ein dominus werde. Also nun schnell und fleißig Lateinisch lernen!

Bald darauf fassten einige Ernstthaler Familien den Entschluss, im nächsten Jahr nach Amerika auszuwandern. Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist so viel wie möglich Englisch lernen. Da verstand es sich ganz von selbst, dass ich mitzutun hatte! Und sodann geriet auf irgendeine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein Buch in unseren Besitz, das französische Freimaurerlieder mit Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre 1782 in Berlin gedruckt und ‚Seiner Königlichen Hoheit, Friedrich Wilhelm, Prinzen von Preußen‘ gewidmet. Darum musste es gut und von sehr hohem Wert sein! Der Titel lautete ‚Chansons maçonniques‘, und zu der Melodie, die mir am besten gefiel, waren sieben vierzeilige Strophen zu singen, deren erste hierhergesetzt sein mag:

„Nous vénérons de l’Arabie

La sage et noble antiquité,

Et la célèbre Confrérie

Transmise à la postérité.“

Das Wort ‚Freimaurerlieder‘ reizte ganz besonders. Welch eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei eindringen zu können! Glücklicherweise erteilte der Herr Rektor für Privatschüler auch französischen Unterricht. Er gestattete mir, in diesen ‚Cercle‘ einzutreten, und so kam es, dass ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen und Französischen zugleich zu befassen hatte.

Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen weniger zurückhaltend als der Herr Kantor. Sein Lieblingsfach war Geografie. Er besaß Hunderte von geografischen und ethnografischen Werken, die er / meinem Vater alle für mich zur Verfügung stellte. Ich fiel über diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und der gute Herr freute sich darüber, ohne irgendein doch so naheliegendes Bedenken zu hegen. Obgleich er auf eine Pfarrstelle reflektierte, war er in seinem Innern mehr Philosoph als Theolog und einer freieren Richtung zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in seinen Worten als vielmehr in den Büchern aus, die er besaß. Zu derselben Zeit öffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek. Er war ganz und gar nicht Philosoph, sondern nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine mit ihm nicht unseren alten, guten Pfarrer, von dem ich schon gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir zunächst alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften von Redenbacher und anderen guten Menschen fügte. So kam es, dass ich vom Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung der islamitischen Wohltätigkeit vor mir liegen hatte und vom Herrn Pastor daneben einen Missionsbericht, in welchem über das offensichtliche Nachlassen der christlichen Barmherzigkeit bittere Klage geführt wurde. In der Bibliothek des einen lernte ich Humboldt, Bonpland und alle jene ‚Großen‘ kennen, welche der Wissenschaft mehr als der Religion vertrauen, und in der Bibliothek des zweiten alle jene anderen ‚Großen‘, denen die religiöse Offenbarung himmelhoch über jedem wissenschaftlichen Ergebnis steht. Und dabei war ich nicht etwa ein Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz dummer Junge; aber noch viel törichter als ich waren die, welche mich in diese Konflikte fallen und sinken ließen, ohne zu wissen, was sie taten. Alles, was in diesen so verschiedenen Büchern stand, konnte gut, ja konnte vortrefflich sein; mir aber musste es zum Gift werden. /

Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche Privatunterricht, den ich jetzt bekam, musste bezahlt werden, und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Für eine Hohensteiner Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder Kegelaufsetzer gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine Übung besaß, und bekam die Stelle. Da habe ich freilich Geld verdient, sehr viel Geld, aber wie! Durch welche Qualen! Und was habe ich noch außerdem dafür geopfert! Der Kegelschub war vielbesucht, zugebaut und heizbar, sodass er zur Sommer- und zur Winterzeit und bei jeder Witterung benutzt werden konnte. Es wurde täglich geschoben. Von jetzt an hatte ich keine freie Viertelstunde mehr, besonders auch keinen Sonntagnachmittag. Da ging es gleich nach der Kirche los und dauerte bis zur späten Abendstunde. Der Haupttag aber war der Montag, denn da war Wochenmarkt, an dem die Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre Erzeugnisse zu bringen, ihre Einkäufe zu machen und – last not least – eine Partie Kegel zu schieben. Aus dieser einen aber wurden fünf, wurden zehn, wurden zwanzig, und es kam an diesen Montagen vor, dass ich mich von mittags zwölf Uhr an bis nach Mitternacht zu schinden hatte, ohne auch nur fünf Minuten ausruhen zu können. Zur Stärkung bekam ich des Nachmittags und des Abends ein Butterbrot und ein Glas abgestandenes, zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, dass ein mitleidiger Kegler, welcher sah, dass ich kaum mehr konnte, mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister anzuregen. Ich habe mich ob dieser übermäßigen Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie notwendig man das, was ich verdiente, brauchte. Der Betrag, den ich da wöchentlich zusammenbrachte, war gar / nicht unbedeutend. Ich bekam pro Stunde ein Fixum und außerdem für jedes Honneur, das geschoben wurde, einen festbestimmten Satz. Wurde nicht gespielt, sondern frei gewettet oder gar hasardiert, so bekam dieser Satz eine doppelte oder dreifache Höhe. Es hat Montage gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach Hause brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu unserer Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg.

Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung? Nicht den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde zwar nur einfaches, billiges Bier, aber besonders viel Schnaps getrunken. Ich werde an anderer Stelle nachweisen, dass es sich hier nicht um Leute handelte, welche das kannten, was man unter Rücksicht oder gar Zartgefühl versteht. Man platzte mit allem, was auf die Zunge kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was ich da alles zu hören bekam! Der langgestreckte, zugebaute Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr. Jedes Wort, welches da vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich heraus zu mir. Alles, was Großmutter und Mutter in mir aufgebaut hatten, der Herr Kantor und der Herr Rektor auch, das empörte sich gegen das, was ich hier zu hören bekam. Es war viel Schmutz und auch viel Gift dabei. Es gab da nicht jene kräftige, kerngesunde Fröhlichkeit wie z. B. bei einem oberbayrischen Kegelschieben, sondern es handelte sich um Leute, welche aus der brusttötenden Atmosphäre ihres Webstuhls direkt in die Schnapswirtschaft kamen, um sich für einige Stunden ein Vergnügen vorzutäuschen, das aber nichts weniger als ein Vergnügen war, für mich jedenfalls eine Qual, körperlich sowohl als auch seelisch.

Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähn- / liche böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar was für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche Büchersammlung, wie diese war, wieder gesehen! Sie rentierte sich außerordentlich, denn sie war die einzige, die es in den beiden Städtchen gab. Hinzugekauft wurde nichts. Die einzige Veränderung, die sie erlitt, war die, dass die Einbände immer schmutziger und die Blätter immer schmieriger und abgegriffener wurden. Der Inhalt aber wurde von den Lesern immer wieder von Neuem verschlungen, und ich muss der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner Schande gestehen, dass auch ich, nachdem ich einmal gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden steckte, gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war, mögen einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager25. Sallo Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini, der wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle auf dem Monte Viso. Bellini, der bewundernswürdige Bandit. Die schöne Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten Richters. Der Hungerturm oder die Grausamkeit der Gesetze. Bruno von Löweneck, der Pfaffenvertilger. Hans von Hunsrück oder der Raubritter als Beschützer der Armen. Emilia, die eingemauerte Nonne. Botho von Tollenfels, der Retter der Unschuldigen. Die Braut am Hochgericht. Der König als Mörder. Die Sünden des Erzbischofs usw. usw.

Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher, einstweilen darin zu lesen. Später sagte er mir, ich könne sie alle lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und ich las sie; ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch! Ich nahm sie mit nach Hause. Ich saß ganze Nächte / lang, glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, die gar wohl verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen. Sie wussten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir zusammenbrach. Dass die wenigen Stützen, die ich, der seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nämlich mein Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.


Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und Seele zu unterscheiden. Man versucht, sie beide auseinanderzuhalten, sie scharf zu definieren, ihre Unterschiede nachzuweisen. Man behauptet, dass der Mensch nicht Einzelwesen, sondern Drama sei. Soll ich mich dem anschließen, so darf ich das, was auf meinen kleinen, erst im Entstehen begriffenen Geist, und das, was auf meine kindliche Seele wirkte, nicht miteinander verwechseln. Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen gewesen war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon gehabt, aber was für eine Wirkung! Es war zu einem kleinen, monströs dicken, wasserköpfigen Ungeheuer aufgestopft und aufgenudelt worden. Der sehr gut, ja vielleicht außergewöhnlich veranlagte Knabe hatte sich in eine unartikulierte geistige Missgestalt verwandelt, die nichts Wirkliches besaß als nur ihre Hilflosigkeit. Und seelisch war ich ohne Heimat, ohne Jugend, hing nach oben nur an dem erwähnten starken, unzerreißbaren Tau und wurde nach unten nur dadurch an der Erde festgehalten, dass ich für König und Vaterland, Gesetz und Gerechtigkeit diejenige mehr poetische als materielle / Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an denen die elf Heldenkompanien Ernstthals sich gebildet hatten, den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und seine Regierung vom Untergang zu erretten. Nun aber wurde mir auch dieser Halt genommen, und zwar durch die Lektüre dieser schändlichen Leihbibliothek. Alle die Räuberhauptleute, Banditen und Raubritter, von denen ich da las, waren edle Menschen. Was sie jetzt waren, das waren sie durch schlechte Menschen, besonders durch ungerechte Richter und durch die grausame Obrigkeit geworden. Sie besaßen wahre Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe, eine grenzenlose Wohltätigkeit und warfen sich zum Ritter und Retter aller Armen, aller Bedrückten und Bedrängten auf. Sie zwangen die Leser zu Hochachtung und Bewunderung; alle Gegner dieser herrlichen Männer aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. Und vor allen Dingen die Fülle des Lebens, der Tätigkeit, der Bewegung, die in diesen Büchern herrschte! Auf jeder Seite geschah etwas, und zwar etwas Hochinteressantes, irgendeine große, schwere, kühne Tat, die man zu bewundern hatte. Was dagegen war in all den Büchern geschehen, die ich bisher gelesen hatte? Was geschah in den Traktätchen des Pfarrers? In seinen langweiligen, nichtssagenden Jugendschriften? Und was geschah in den sonst ganz guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors? Da waren große, weite und ferne Länder beschrieben, aber es ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde Menschen und Völker geschildert; aber sie bewegten sich nicht, sie taten nichts. Das war alles nur Geografie, nur Geografie, weiter nichts; jede Handlung fehlte. Und nur Ethnografie, nur Ethnografie; aber die Puppen standen still. Es war kein Gott, kein Mensch und auch / kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden in die Hand zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es gibt doch einen, der diese Belebung ganz unbedingt verlangt, nämlich der Leser. Und auf den kommt doch alles an, weil er allein es ist, für den die Bücher geschrieben werden. Die Seele des Lesers wendet sich von jeder Bewegungslosigkeit ab, denn diese bedeutet für sie den Tod.

Welch ein Reichtum des Lebens dagegen in dieser Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen auf die Eigenheiten und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch in die Hände nimmt! Kaum fühlt er während des Lesens einen Wunsch, so wird dieser auch schon erfüllt. Und welche bewundernswerte, unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. Jeder gute ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal Räuberhauptmann sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder böse Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König, Feldherr, Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft. Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit und Unumstößlichkeit der göttlichen und der menschlichen Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch Unrecht! Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den Rinaldo Rinaldini geschrieben!

Das Schlimmste an dieser Lektüre war, dass sie in meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. Nur Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je länger, desto mehr; sie wurde aber von uns anderen überstimmt. Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuss, von ‚edlen‘ Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer verschenkten. / Dass sie diese Reichtümer vorher anderen gestohlen und geraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das nicht! Wenn wir lasen, wie viel bedürftige Menschen durch so einen Räuberhauptmann unterstützt und gerettet worden seien, so freuten wir uns darüber und bildeten uns ein, wie schön es wäre, wenn so ein Himlo Himlini plötzlich hier bei uns zur Tür hereinträte, zehntausend blanke Taler auf den Tisch zählte und dabei sagte: „Das ist für euern Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der Theaterstücke schreibt!“ Das war mir nämlich, seit ich den ‚Faust‘ gesehen hatte, zum Ideal geworden.

Ich muss bekennen, dass ich diese verderblichen Bücher nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich zunächst meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine einzige solche Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive geht verloren, und schließlich bleibt nur die traurige Negation zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wird immer unzuverlässiger. Das führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat, die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht etwa schon ganz unten im Abgrund angelangt, sondern es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum äußersten Verbrechertum.

Das war zur Zeit, als bestimmt werden musste, was nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf die Universität. Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle Mittel. Ich musste mit meinen Wünschen weit herunter und kam zuletzt beim Volksschullehrer an. Aber auch hierzu / waren wir zu arm. Wir sahen uns nach Hilfe um. Der Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen können, aber er versäumte keinen Kirchgang, sprach gern von Humanität und Nächstenliebe und war unser Gevatter. Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns einen Überschlag gemacht. Wenn wir recht arbeiteten, recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur eines Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber wir glaubten, dass es stimmte. Meine Eltern hatten nie auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zuliebe zu einer Anleihe entschlossen. Mutter ging zum Herrn Layritz. Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete die Hände und ließ sich ihr Anliegen vortragen. Sie schilderte ihm alles und bat, uns fünf Taler zu borgen, nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten, also wenn ich die Aufnahmeprüfung bestanden haben würde. Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit. Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: „Meine liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie sind arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen hat, so wird er auch Ihnen weiterhelfen. Ich habe auch Kinder wie Sie und muss für sie sorgen. Ich kann Ihnen also die fünf Taler nicht leihen. Aber gehen Sie getrost nach Hause und beten Sie recht fleißig, so wird sich ganz gewiss zur rechten Zeit jemand finden, der sie übrig hat und sie Ihnen gibt!“

Das war abends. Ich saß da und las in einem / Räuberbuch. Da kam Mutter heim und erzählte, was Herr Layritz gesagt hatte. Sie weinte, mehr aus Empörung über solche Art der Frömmigkeit als über die Abweisung selbst. Vater saß lange Zeit still; dann stand er auf und ging. Unter der Tür aber sagte er: „Einen solchen Versuch machen wir nicht mehr! Karl geht auf das Seminar, und wenn ich mir die Hände blutig arbeiten muss!“ Als er fort war, saßen wir anderen noch lange Zeit traurig beisammen. Dann gingen wir schlafen. Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf Hilfe. Ich rang nach einem Entschluss. Das Buch, in dem ich gelesen hatte, führte den Titel ‚Die Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller Bedrängten‘. Als Vater nach Hause gekommen und dann eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett, schlich mich aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: „Ihr sollt euch nicht die Hände blutig arbeiten; ich geh nach Spanien; ich hole Hilfe!“ Diesen Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete die Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über Lichtenstein nach Zwickau führte, Spanien zu, nach Spanien, dem Land der edlen Räuber, der Helfer aus der Not. /



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