Читать книгу "Ich" - Karl May - Страница 26

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Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit gewährt. Sie tollten im Walde herum und holten sich kräftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May war der Jüngste und Kleinste von allen, aber er tat wacker mit. Und er passte auf; er lernte und merkte. Er wollte alles wissen. Er fragte nach jedem Gegenstand, den er noch nicht kannte. Bald wusste er die Namen aller Pflanzen, aller Raupen und Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge, die es in seinem Bereich gab. Er trachtete, ihren Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennenzulernen. Diese Wissbegierde erwarb ihm die besondere Zuneigung des Oberförsters, der sich sogar herbeiließ, den Jungen mit sich gehen zu lassen. Ich muss das erwähnen, um Späteres erklärlich zu machen. Der nachherige Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte auf den Knaben doch nicht glücklich wirken.

In dieser Zeit war es, dass Großmutter während des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag; Großmutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider. Sie sah und hörte alles, das Weinen, das Jammern um sie. Sie verstand jedes Wort, das gesprochen wurde. Sie sah und hörte den Tischler, der erschien, um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit der Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der Scheintoten zu nehmen. Man denke sich deren Qual! / Drei Tage und drei Nächte lang hatte sie sich alle mögliche Mühe gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen, dass sie noch lebe – – vergeblich! Jetzt kam der letzte Augenblick, an dem noch Rettung möglich war. Hatte man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung mehr. Sie erzählte später, dass sie sich in ihrer fürchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Mühe gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln, als einer nach dem andern kam, um ihre Hand zum letzten Mal zu ergreifen. So tat auch das jüngste Mädchen des Oberförsters, das besonders sehr an Großmutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken auf: „Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!“ Und richtig, man sah, dass die scheinbar Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd öffnete und schloss. Von einem Begräbnis konnte nun selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Es wurden andere Ärzte geholt. Großmutter war gerettet. Aber von da an war ihre Lebensführung noch ernster und erhobener als vorher. Sie sprach nur selten von dem, was sie in jenen unvergesslichen drei Tagen auf der Schwelle zwischen Tod und Leben gedacht und empfunden hatte. Es muss schrecklich gewesen sein. Aber auch hierdurch ist ihr Glaube an Gott nur noch fester und ihr Vertrauen zu ihm nur noch tiefer geworden. Wie sie nur scheintot gewesen war, so hielt sie von nun an auch den sogenannten wirklichen Tod nur für Schein und suchte jahrelang nach dem richtigen Gedanken, dies zu erklären und zu beweisen. Ihr und diesem ihrem Scheintode habe ich es zu verdanken, dass ich überhaupt nur an das Leben glaube, nicht aber an den Tod.

Dieses Ereignis war innerlich noch nicht ganz überwunden, als Großmutter infolge der Versetzung und / Wiederverheiratung des Oberförsters mit ihren beiden Kindern in ihre früheren Verhältnisse zurückgestoßen wurde. Sie kehrte nach Ernstthal zurück und hatte nun wieder jeden Pfennig direkt zu verdienen, den sie brauchte. Ein braver Mann, der Vogel hieß und auch Weber war, hielt um ihre Hand an. Jedermann redete ihr zu, sie müsse ihren Kindern doch einen Vater geben; das sei sie ihnen schuldig. Sie tat es und hatte es nicht zu bereuen; war aber leider schon nach kurzer Zeit wieder Witwe. Er starb und hinterließ ihr alles, was er besessen hatte, die Armut und den Ruf eines braven, fleißigen Mannes. Hierauf wurde es still und stiller um sie. Sie tat ihr Mädchen zu einer Näherin und ihren Knaben zu einem Weber, der ihn von früh bis abends am Spulrad beschäftigte. Denn dass der Junge nun weiter nichts als nur ein Weber zu werden hatte, das verstand sich ganz von selbst. Die Lust dazu war ihm freilich während seines Aufenthalts im Forsthaus völlig vergangen; er hatte sich schon ganz anderes gedacht, und es ist gewiss erklärlich, dass er später, nachdem er in dieses ungeliebte Handwerk hineingezwungen worden war, auf die Idee kam, sich durch den Taubenhandel wieder daraus zu befreien. Doch tat er sowohl als Knabe wie auch als Jüngling seine Pflicht. Er war fleißig und wurde ein tüchtiger Weber, dessen Ware so viel Sauberkeit und Akkuratesse zeigte, dass jeder Unternehmer ihn gern für sich arbeiten ließ. In seinen Freistunden aber strich er durch Feld und Flur, um zu botanisieren und alle die Kenntnisse festzuhalten, die er sich bei dem Oberförster erworben hatte. Darum machte es ihm große Freude, dass sich unter der oben erwähnten Erbschaft unserer Mutter auch einige alte, hochinteressante Bücher befanden, deren Inhalt ihm bei diesen seinen Freibeschäftigungen / von großem Nutzen war. Ich denke da besonders an einen großen, starken Folioband13, der gegen tausend Seiten zählte und folgenden Titel hatte:


Es verstand sich ganz von selbst, dass Vater dieses Buch sofort hernahm und fleißig durchstudierte. Es enthielt sogar mehr, als der Titel versprach. So waren die Namen der Pflanzen oft auch französisch, englisch, russisch, böhmisch, italienisch und sogar arabisch angegeben, was später besonders mir ganz außerordentlich vorwärtshalf. Auch Vater ging von Seite zu Seite dieses köstlichen Buches, von Pflanze zu Pflanze. Er lernte viel, viel / mehr zu dem, was er bereits wusste. Nicht nur die Kenntnis der Gewächse an sich, sondern auch ihrer ernährenden und technischen Eigenschaften und ihrer Heilwirkungen. Die Vorfahren hatten diese Wirkungen geprüft und den Band mit sehr vielen Randbemerkungen versehen, welche sagten, wie diese Prüfungen ausgefallen waren. Dieses Buch wurde mir später eine Quelle der reinsten, nützlichsten Freuden, und ich kann wohl sagen, dass Vater mich dabei vortrefflich unterstützte.

Ein anderes dieser Bücher war eine Sammlung biblischer Holzschnitte, wahrscheinlich aus der ersten Zeit der xylografierenden Kunst. Ich besitze es, ganz ebenso wie das Kräuterbuch, noch heut. Es enthält sehr viele und ganz vortreffliche Bilder; einige fehlen leider. Das erste ist Moses, und das letzte ist das Tier aus dem elften Kapitel der Offenbarung Johannis. Das Titelblatt ist nicht mehr vorhanden. Darum weiß ich nicht, wer der Verfasser ist und aus welchem Jahre das Werk stammt14. Es war Großmutters Hilfsbuch, wenn sie uns die biblischen Geschichten erzählte. Jede dieser Erzählungen war für uns ein Hochgenuss, und damit komme ich auf den größten Vorzug, den Großmutter für uns Kinder hatte, nämlich auf ihre unvergleichliche Gabe, zu erzählen.

Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so hatte jeder Einzelne von den zwanzig den Eindruck, dass sie das, was sie erzählte, ganz nur für ihn allein erzähle. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer reichen Märchenwelt berichten, stets ergab sich am Schluss der innige Zusammenhang zwischen / Himmel und Erde, der Sieg des Guten über das Böse und die Mahnung, dass alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen sondern nur im höheren Leben liege. Ich bin überzeugt, dass sie das nicht bewusst und in klarer Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug; sondern es war angeborene Gabe, war Genius, und der erreicht bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet. Großmutter war eine arme, ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von Gottes Gnaden und darum eine Märchenerzählerin, die aus der Fülle dessen, was sie erzählte, Gestalten schuf, die nicht nur im Märchen, sondern auch in Wahrheit lebten.

In meiner Erinnerung tritt zuerst nicht das Märchen von Sitara, sondern das Märchen ‚von der verloren gegangenen und vergessenen Menschenseele‘ auf. Sie tat mir so unendlich leid, diese Seele. Ich habe mit meinen blinden, lichtlosen Kindesaugen um sie geweint. Für mich enthielt diese Erzählung die volle Wahrheit. Aber erst nach Jahren, als ich das Leben kennengelernt und mich mit dem Innern des Menschen eingehend beschäftigt hatte, erkannte ich, dass die Kenntnis der Menschenseele in Wirklichkeit verloren und vergessen wurde und dass alle unsere Psychologie bisher nicht im Stande war, uns diese Kenntnis zurückzubringen. Ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt, um nachzudenken, wohin die Verlorene und Vergessene gekommen sei. Ich wollte und wollte sie finden. Da nahm Großmutter mich auf ihren Schoß, küsste mich auf die Stirn und sagte: „Sei still, mein Junge! Gräme dich nicht um sie! Ich habe sie gefunden. Sie ist da!“ / „Wo?“, fragte ich. „Hier, bei mir“, antwortete sie. „Du bist diese Seele, du!“ „Aber ich bin doch nicht verloren“, warf ich ein. „Natürlich bist du verloren. Man hat dich herabgeworfen in das ärmste, schmutzigste Ardistan. Aber man wird dich finden; denn wenn alle, alle dich vergessen haben, Gott hat dich nicht vergessen.“ – Ich begriff das damals nicht, ich verstand es erst später, viel, viel später. Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele. Ich sah nichts. Es gab für mich weder Gestalten noch Formen, noch Farben, weder Orte noch Ortsveränderungen. Ich konnte die Personen und Gegenstände wohl fühlen, hören, auch riechen; aber das genügte nicht, sie mir wahr und plastisch darzustellen. Ich konnte sie mir nur denken. Wie ein Mensch, ein Hund, ein Tisch aussieht, das wusste ich nicht; ich konnte mir nur innerlich ein Bild davon machen, und dieses Bild war seelisch. Wenn jemand sprach, hörte ich nicht seinen Körper, sondern seine Seele. Nicht sein Äußeres, sondern sein Inneres trat mir näher. Es gab für mich nur Seelen, nichts als Seelen. Und so ist es geblieben, auch als ich sehen gelernt hatte, von Jugend an bis auf den heutigen Tag.

Das ist der Unterschied zwischen mir und anderen. Das ist der Schlüssel zu meinen Büchern. Das ist die Erklärung zu allem, was man an mir lobt, und zu allem, was man an mir tadelt. Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine so tief gegründete und so mächtige Innenwelt besaß, dass sie selbst dann, als er sehend wurde, für lebenslang seine ganze Außenwelt beherrschte, nur der kann sich in alles hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich schrieb, und nur der besitzt die Fähigkeit, mich zu kritisieren, sonst keiner! /

Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern bei Großmutter. Sie war mein Alles. Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das kam von ihr. So wurde ich ihr ganz selbstverständlich ähnlich. Was sie mir erzählte, das erzählte ich ihr wieder und fügte hinzu, was meine kindliche Fantasie teils erriet und teils erschaute. Ich erzählte es den Geschwistern und auch anderen, die zu mir kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte. Ich erzählte in Großmutters Ton, mit ihrer Sicherheit, die keinen Zweifel duldete. Das klang altklug und überzeugte. Es verlieh mir den Nimbus eines über sein Alter hinaus sehr klugen Kindes. So kamen auch Erwachsene, um mir zuzuhören, und ich wäre vielleicht zum Orakel oder zum Wunderkind verdorben worden, wenn Großmutter nicht so sehr bescheiden, wahr und klug gewesen wäre, da, wo ich in Gefahr stand, einzuspringen. Einem blinden Kind wird wenig Arbeit gegeben. Es hat mehr Zeit, zu denken und zu grübeln als andere Kinder. Da kann es leicht klüger erscheinen, als es ist. Leider besaß Vater nicht diese kluge Bescheidenheit der Großmutter und auch nicht die schweigsame Bedachtsamkeit der Mutter. Er sprach sehr gern und übertrieb, wie wir bereits wissen, in allem, was er tat und was er sagte. So kam es, dass ich dem Schicksal, dem ich hier entging, später doch noch verfiel, dem entsetzlichen Schicksal, totgelobt zu werden.

Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart entwickelt und in seinen späteren Grundzügen festgelegt, dass selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. / Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein umso größeres Kind, je größer ich wurde, und zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besaß und noch heute besitzt, dass keine Rücksicht auf die Außenwelt und auf das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich für seelisch richtig befunden habe. Und solange ich lebe, habe ich unausgesetzt die Erfahrung gemacht, dass es dem Volk genau ebenso ergeht wie mir. Es handelt am liebsten nicht aus äußerlichen Gründen, sondern aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus. Die größten und schönsten Taten der Nation wurden aus ihrem Inneren heraus geboren. Und wäre der Geist eines Dichters auch noch so stark und noch so erfinderisch, so wird er es doch niemals fertigbringen, der Geschichte eines Volkes den Stoff zu einem großen, nationalen Drama aufzuzwingen, der diesem Volke nicht seelisch gegeben war. Und gründen wir Hunderte von Jugendschriftenvereinen, von Jugendschriftenkommissionen und Tausende von Jugend-, Schüler- und Volksbibliotheken, wir werden das Gegenteil von dem erreichen, was wir erreichen wollen, falls wir Bücher wählen, deren Bedürfnis nur in unserem Pedantismus und in unserer Methodik liegt, nicht aber in den Seelen derer, denen wir sie aufzwingen. Ich habe diese Seelen kennengelernt, habe sie studiert seit meiner Jugendzeit. Ich bin selbst eine solche Seele gewesen, bin sie sogar noch heut. Darum weiß ich, dass man dem Volk und der Jugend keine Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will Wahrheit, will Natur. Er hasst die sittlichen Haubenstöcke, die immer genauso stehen, wie man sie stellt, weder Fleisch noch Blut besitzen und genau nur das anhaben, was ihnen von der Putzmacherin Schulmoralität angezogen wird. Die Aufgabe des Jugend- / schriftstellers besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so überaus köstlich einwandfrei handeln, dass man ihrer unbedingt überdrüssig wird, sondern seine größte Kunst besteht darin, dass er von seinen Figuren getrost die Fehler und Dummheiten machen lässt, vor denen er die jugendlichen Leser bewahren will. Es ist tausendmal besser, er lässt seine Romanfiguren zu Grunde gehen, als dass der ergrimmte Knabe hingeht, um das Böse, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach geschehen musste, nun seinerseits aus dem Buch in das Leben zu übertragen. Hier liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie stoßen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen. –

Nachdem wir zur Miete gezogen waren, wohnten wir am Marktplatz, auf dessen Mitte die Kirche stand. Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder. Gegen Abend versammelten sich da die älteren Schulknaben unter dem Kirchentor zum Geschichtenerzählen. Das war eine höchst exklusive Gesellschaft. Es durfte nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht wollte, so machte man keinen ‚Sums‘; er wurde fortgeprügelt und kehrte gewiss nicht wieder. Ich aber kam nicht, und ich bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst fünf Jahre alt war, die anderen aber dreizehn und vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch niemals da gewesen! Das hatte ich der Großmutter und ihren Erzählungen zu verdanken! Zunächst verhielt ich mich still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir das nicht übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde / von allen geschont. Dann aber, als das vorüber war, wurde ich herangezogen. Alle Tage ein anderes Märchen, eine andere Geschichte, eine andere Erzählung. Das war viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar mit Vergnügen. Großmutter arbeitete mit. Was ich in der Dämmerstunde zu erzählen hatte, das arbeiteten wir am frühen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe aßen, durch. Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor kam, wohl vorbereitet. Unser schönes Buch ‚Der Hakawati‘ gab Stoff für lange Zeit. Hierzu kam, dass dieser Stoff sich mit der Zeit ganz außerordentlich vermehrte, doch freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war die sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, dass ich nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare Welt der Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen hatte. Dadurch entstanden unzählige Variationen und Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, dass ich sie erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte.

Inzwischen hatte Vater es erreicht, dass ich in die Schule gehen konnte. Das durfte man erst vom sechsten Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch als Lokalschulinspektor sehr gern erfüllte, und mit dem Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater wöchentlich zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen, und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen und schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei, und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen. Es sollte sich nämlich an mir erfüllen, was sich an ihm nicht erfüllt hatte. Er hatte im Forsthause einen Blick / in bessere und menschlichere Verhältnisse tun dürfen. Und er musste immer daran denken, dass es unter unseren Vorfahren bedeutende Männer gegeben hatte, von denen wir, ihre Nachkommen, sagen mussten, dass wir ihrer nicht würdig seien. Er hatte das werden wollen, war aber von den Verhältnissen gewaltsam niedergehalten worden. Das kränkte und das ärgerte ihn. Für sich hatte er mit diesen Verhältnissen abgeschlossen. Er musste bleiben, was er war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber er übertrug seine Wünsche und Hoffnungen und alles andere nun auf mich. Und er nahm sich vor, alles Mögliche zu tun und nicht zu versäumen, aus mir den Mann zu machen, der zu werden ihm versagt gewesen war. Das kann man gewiss nur löblich von ihm nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was für mich gut und glücklich war. Das konnte er nur mit guten und glücklichen Mitteln erreichen. Leider aber muss ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, dass meine ‚Kindheit‘ jetzt, mit dem fünften Jahr, zu Ende war. Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum Sehen öffnete. Was diese armen Augen von da an bis heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende peinigt. – /



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