Читать книгу Zurück in die Würfelwelt - Karl Olsberg - Страница 4

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2.

Zehn Minuten später befinde ich mich vor dem Schreibtisch des Schuldirektors. Neben mir stehen der Winzling, seine beiden Freunde und der Junge mit dem Amulett, der, wie ich inzwischen weiß, Kasim heißt. Der Lehrer, der Pausenaufsicht hatte und uns hierher gebracht hat, steht neben der Bürotür, als wolle er verhindern, dass einer von uns abhaut.

Der Direktor sieht mich durch seine dicke, schwarze Brille an. „Marko, nicht wahr?“

„Ja, Herr Direktor.“

„Bist du dir bewusst, Marko, dass du eine schwerwiegende Verfehlung begangen hast, die mit Schulverweis geahndet werden kann?“

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Meine Konzentration und Selbstbeherrschung reichen gerade aus, um die Tränen zurückzuhalten.

„Gewalt gegen einen anderen Schüler, egal aus welchem Grund, können wir hier auf keinen Fall dulden!“, sagt der Direktor mit einer Stimme, als verkünde er das Urteil gegen einen Mörder.

„Das stimmt, Herr Direktor“, meldet sich der Winzling. „Er ist einfach so auf mich losgegangen und hat mir brutal ins Gesicht geschlagen!“ Er hält demonstrativ ein blutiges Taschentuch hoch. „Er hätte mir die Nase brechen können!“

Schrank sagt nichts. Er sieht aus, als sei es ihm peinlich, dass ihn ein so schmächtiger Junge wie ich im Kampf außer Gefecht gesetzt hat.

„Was hast du dir denn bloß dabei gedacht?“, fragt der Direktor. „Du bist doch sonst noch nie durch Gewalttätigkeit aufgefallen.“

Was soll ich darauf antworten? Dass ich Schrank für einen Zombie gehalten habe? Dass ich dachte, ich sei wieder ins Koma gefallen? Dann stecken sie mich bestimmt sofort ins Krankenhaus.

„Er wollte mir bloß helfen“, meldet sich Kasim zu Wort. „Die drei haben mich bedrängt und wollten mir mein Amulett wegnehmen. Es ist ein Andenken an meine leibliche Mutter.“

„Gar nicht wahr!“, protestiert der Winzling. „Ich wollte es nur mal ansehen. Ehrenwort, Herr Direktor!“

„Das stimmt“, bestätigt das Weichei wie ein Papagei. „Er wollte es nur mal ansehen. Wirklich, Herr Direktor!“

„Ganz egal, warum du das getan hast, Marko – wir können so etwas hier nicht dulden. Du bist 14 Jahre alt und damit vor dem Gesetz für deine Handlungen selbst verantwortlich. Körperverletzung ist, wie du sicher weißt, eine Straftat. Ich werde mit Frau Winsmann reden und hoffe, dass sie dich nicht anzeigt. Und mit deiner Mutter werde ich natürlich auch sprechen. Ich möchte, dass du jetzt erst Mal nach Hause gehst. Inzwischen überlege ich mir, welche Disziplinarmaßnahmen wir gegen dich verhängen werden.“

Ich nicke und kehre wie betäubt in meine Klasse zurück. Vor den staunenden Augen der anderen Schüler und der Deutschlehrerin packe ich meine Schultasche und gehe ohne ein Wort.

Mir ist gleichgültig, dass ich gleich am ersten Tag nach meinem Koma von der Schule verwiesen werde. Ich fürchte mich nicht vor Strafe. Was mir dagegen große Angst macht, ist das, was da gerade auf dem Schulhof passiert ist.

Wenn ich bloß mit Amelie sprechen könnte! Doch immer noch geht sie nicht an ihr Handy und antwortet nicht auf meine Kurznachrichten.

Meine Mutter weiß bereits, was los ist, als ich nach Hause komme. Sie macht mir keine Vorwürfe. Stattdessen nimmt sie mich in den Arm. „Ich habe ja geahnt, dass es zu früh war, dich wieder zur Schule zu schicken“, sagt sie. „Jetzt erzähl mal, was ist eigentlich passiert?“

Ich habe wirklich keine Ahnung, würde ich am liebsten antworten. Stattdessen erzähle ich ihr, wie der Winzling und seine Kumpanen Kasim bedrängt haben. „Dann habe ich mich eingemischt, es gab eine Rangelei, und da bin ich plötzlich irgendwie ausgerastet“, beende ich die Schilderung. „Ich weiß auch nicht genau. Auf einmal war ich so unendlich wütend. Ich kann mich gar nicht erinnern, was ich genau getan habe, bis der Kampf vorbei war.“

Sie sieht mich sorgenvoll an. „Der Direktor hat gesagt, du hast einen der Schüler blutig geschlagen. Du sollst äußerst brutal gewesen sein.“ Sie schüttelt den Kopf. Ihre Augen glänzen, als sie sagt: „Ich verstehe das nicht. Du bist doch sonst nicht gewalttätig. Ich hätte nicht mal gedacht, dass du besonders gut kämpfen kannst. Und gleich gegen drei andere Schüler!“

Ich senke den Blick. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich eine Rüstung und ein Schwert aus Diamant hatte – mit dieser Ausrüstung sind drei Zombies kein großes Problem.

Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und lächelt schief. „Aber irgendwie bin ich auch stolz auf dich! Du hast dich für einen schwächeren Schüler eingesetzt. Sei nur nächstes Mal etwas vorsichtiger, okay? Du musst sie ja nicht gleich blutig prügeln!“

„Ja, Mam.“ Ich gehe auf mein Zimmer und lege mich auf mein Bett. Eine Weile starre ich auf das Poster meiner Lieblings-Rockband an der Wand, dann auf das Bild eines Kriechers daneben. Trotz seiner herabgezogenen Pixel-Mundwinkel wirkt es, als sehe er mich mitleidig an.

Was ist bloß mit mir los? Die Frage tobt in meinem Kopf herum wie ein Schwarm wütender Hornissen. Doch eine Antwort finde ich nicht.

Am Nachmittag ruft der Direktor noch einmal an und teilt Mam mit, dass er mit der Mutter des Winzlings gesprochen habe, die auf eine Anzeige verzichte. Man erteile mir einen offiziellen Tadel, sehe aber angesichts der besonderen Umstände (damit meint er wohl mein Koma) von weiteren Disziplinarmaßnahmen ab. Ich könne daher am nächsten Tag wieder zum Unterricht kommen, wenn sie es für richtig halte.

Mam hält das natürlich nicht für richtig, aber ich beknie sie, bis sie schließlich nachgibt. Ich weiß selbst nicht genau, warum ich unbedingt wieder in die Schule will. Vielleicht, weil ich immer noch die schwache Hoffnung habe, Amelie dort wiederzusehen, obwohl sie auf all meine Kommunikationsversuche nicht reagiert. Möglicherweise auch, weil ich mir selbst beweisen will, dass die Sache heute Morgen ein einmaliger Ausrutscher war, eine seltsame Fehlfunktion des Gehirns als Nachwirkung meines Komas. So was kann ja mal vorkommen. Aber es wird ein Einzelfall bleiben. Schließlich bin ich nicht verrückt. Oder?

Etwas ist anders, als ich am nächsten Tag in die Schule komme. Ich kann es nicht genau erklären, aber ich habe das Gefühl, die anderen werfen sich Blicke zu, wenn ich nicht hinsehe. Wahrscheinlich halten sie mich für ein Monster, einen brutalen Schläger, mit dem keiner was zu tun haben will. Das denke ich jedenfalls, bis in der ersten Pause Anne auf mich zukommt, begleitet von zwei Freundinnen, die sich dauernd ansehen und kichern.

„Marko, du bist doch gut in Mathe, oder?“, fragt sie.

Verdutzt blicke ich sie an. Anne ist nach übereinstimmender Ansicht aller Jungs das schönste Mädchen der Klasse. Sie hat lange, goldene Haare und Augen, die so blau und klar sind wie der Sommerhimmel. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass diese Beschreibung nicht von mir stammt, sondern von Jan, der ganz schön in sie verschossen ist. Bisher hat Anne allerdings nichts getan, das darauf schließen ließe, dass sie überhaupt von Jans Existenz weiß, geschweige denn von meiner.

„Mathe? Ja, geht so, wieso?“

„Kannst du mir vielleicht mit den Hausaufgaben helfen? Ich hab’s gestern nicht mehr ganz geschafft. Und du weißt ja, wie Braukmann ist.“ Ein leichtes Lächeln umspielt ihre geschminkten Lippen. Ihre beiden Freundinnen kichern.

„Ich fürchte, ich habe die Hausaufgaben auch nicht. Ich war … krank.“

„Ja, ich weiß. Aber kannst du nicht mal kurz draufgucken?“ Sie stellt sich neben mich und hält mir ihr Heft hin, so dass wir beide hineinsehen können. Ein Duft wie von Heu und frischen Blumen geht von ihr aus. Dort, wo die Hausaufgaben für heute stehen sollten, ist nur das gestrige Datum eingetragen.

„Du hast ja noch gar nichts gemacht!“, stelle ich fest.

Das findet sie offensichtlich lustig, denn sie kichert. „Au Backe, du hast recht! Verdammt, was mach ich denn jetzt bloß? Wir haben doch schon in der übernächsten Stunde Mathe!“

Erwartet sie ernsthaft, dass ich ihre Hausaufgaben mache? Während der Kunststunde? Ich sehe sie fragend an, doch sie zeigt mir nur ihr aufreizend-unschuldiges Lächeln.

„Du … du weißt nicht zufällig, was mit Amelie ist, oder?“, frage ich.

Es ist, als zögen dunkle Gewitterwolken vor den blauen Himmel in ihren Augen. „Amelie? Welche Amelie?“, fragt sie in einem Tonfall, als hätte ich ihr eine äußerst unanständige Frage gestellt.

„Amelie aus der Parallelklasse. Sie hat dunkle lockige Haare. Sie war zwei Wochen nicht in der Schule, sollte aber eigentlich seit gestern wieder da sein.“

Annes Freundinnen finden das aus irgendeinem Grund sehr lustig. Anne dagegen offensichtlich nicht. „Kenn ich nicht“, sagt sie, klappt das Matheheft zu und verschwindet, ihre kichernden Begleiterinnen im Schlepptau. Als sie ein paar Schritte gegangen sind, blafft sie ihre Freundinnen an, die daraufhin aufhören, zu kichern.

Kurz darauf kommt Jan zu mir. „Hi Marko. Was wollte denn Anne von dir?“ Er versucht, gleichgültig zu wirken, was ihm gründlich misslingt.

„Sie wollte, dass ich ihr die Mathe-Hausaufgaben mache. Weiß auch nicht, wieso sie damit ausgerechnet zu mir kommt.“

Er wirft einen sehnsüchtigen Blick zu Anne, die am anderen Ende des Schulhofs steht und uns den Rücken zu gedreht hat. „Na, ist doch klar“, sagt er, und seine Stimme klingt traurig. „Seit gestern bist du doch der Held!“

„Der Held? Ich? Wieso denn das?“

„Na, weil du dem Winzling eine verpasst hast. Den mag doch keiner. Selbst Schrank will auf einmal nichts mehr mit ihm zu tun haben. Der kann einem fast leidtun.“ Er grinst.

„Gestern hast du gesagt, dass das gar nicht gut war.“

„Klar, im ersten Moment bin ich ein bisschen erschrocken. So kannte ich dich gar nicht. Aber im Nachhinein … Er hat es auf jeden Fall verdient. Und jetzt bist du eben der tolle Hecht der Klasse!“

Ich verziehe den Mund. Auf diese zweifelhafte Ehre würde ich gern verzichten. „Vielleicht solltest du Anne mal fragen, ob du ihr bei den Mathe-Hausaufgaben helfen kannst.“

Eigentlich habe ich es sarkastisch gemeint, aber Jans Gesicht hellt sich auf. „Meinst du? Ja, vielleicht hast du recht!“ Ehe ich ihn zurückhalten kann, ist er schon unterwegs zum anderen Ende des Schulhofs.

Als ich ihm nachsehe, stellen sich plötzlich meine Nackenhaare auf. Am Zaun, der den Schulhof umgibt, steht ein dunkel gekleideter Mann, der in meine Richtung zu starren scheint. Er trägt einen Hut, der sein Gesicht in tiefe Schatten taucht. Ich glaube, darunter zwei violett leuchtende Punkte wahrzunehmen. Doch ehe ich mir sicher sein kann, wendet er sich ab und verschwindet hinter einer Mauer.

Ich fühle mich, als hätte mir jemand in den Magen geschlagen.

Die Pausenglocke erlöst mich aus meiner Starre. Wir haben Kunst bei Frau Dr. Hennigmeier, einer zierlichen Frau Anfang fünfzig mit kurzen grauen Haaren. Sie erklärt uns anhand einer Gliederpuppe, wie der Körper Gefühle ausdrücken kann. Dann verteilt sie Zeichenblöcke und Farbkästen. Wir sollen einen traurigen Mann malen, jedoch ohne sein Gesicht auszuarbeiten.

„Der sieht aber nicht traurig aus“, sagt sie etwas später zu mir. „Eher … böse.“

Ich schrecke hoch. Die anderen Schüler sind schon dabei, die Pinsel zu reinigen und die Malkästen und Blöcke in das Regal zurück zu räumen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass die Kunststunde schon vorbei ist.

Die Figur, die mir von meinem Zeichenblock entgegenstarrt, hat einen schwarzen, rechteckigen und sehr schlanken Körper mit unnatürlich langen Armen und Beinen. Ihre Augen sind zwei lilafarbene Schlitze. Darum herum habe ich konzentrische Kreise in derselben Farbe gemalt, so dass es aussieht, als gingen hypnotische Strahlen von der Gestalt aus.

„Wow, ein Schattenmann!“, sagt Jan, der sich zu uns gesellt hat. „Der sieht aber unheimlich aus!“

Frau Dr. Hennigmeier sieht mich mit einem seltsamen Blick an. „Was ist das?“, fragt sie.

Ich kann nicht antworten. Kalter Schweiß bricht mir aus allen Poren. Das Bild macht mir Angst. Ich will es zerreißen, doch ich bin wie gelähmt.

„Das ist eine Figur aus einem Computerspiel, das wir beide gerne spielen“, erklärt Jan.

„Geht es dir nicht gut?“, fragt die Lehrerin.

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. „Nein, nein, ich bin okay“, bringe ich heraus.

„Du siehst nicht gut aus“, stellt sie fest. „Ich frage mich, ob du nicht lieber noch ein paar Tage zuhause bleiben solltest.“

Ich schüttele energisch den Kopf. „Nein! Ich sagte doch schon, es geht mir gut!“

Sie hebt beruhigend eine Hand. „Schon gut, Marko! Ich weiß, du hattest eine schwere Zeit. Wenn dir der Schulalltag hilft, zur Normalität zurückzufinden, dann ist das sicher gut.“

Sie löst das Bild des Schattenmanns vorsichtig von dem Zeichenblock und hält es hoch. „Das ist außergewöhnlich. Es entspricht nicht der Aufgabe, die ich euch gestellt habe, aber es ist sehr ausdrucksstark. Hast du etwas dagegen, wenn ich es da drüben aufhänge?“ Sie deutet auf eine Wand, an der die besten Bilder ihrer Schüler angepinnt sind. Ich habe kein besonderes Zeichentalent, deshalb hat es noch nie eines meiner Werke dorthin geschafft.

Ich schüttele mit dem Kopf, obwohl ich ihr am liebsten sagen würde, dass sie das Bild verbrennen soll. Auf keinen Fall will ich, dass es mich anstarrt, wenn ich das nächste Mal diesen Raum betrete.

Frau Dr. Hennigmeier mustert mich aufmerksam. Sie legt das Bild beiseite. Als ich mit den anderen Schülern den Raum verlassen will, hält sie mich am Arm zurück. „Einen Moment noch, Marko. Ich würde gern noch etwas mit dir besprechen.“

Als nur noch wir beide im Raum sind, sagt sie: „Diese Figur, die du gemalt hast … sie bedeutet etwas, oder?“

Ich schüttele den Kopf. Ich will nicht darüber sprechen. Nicht über das, was Amelies Vater ihr und mir angetan hat. Und erst recht nicht darüber, was ich während meines Komas erlebt habe. „Es ist bloß ein Monster aus einem Spiel“, erwidere ich. „Ich hatte einfach Lust, es zu malen. Tut mir leid, wenn das nicht Ihrer Aufgabe entsprach.“

„Marko, wenn es etwas gibt, über das du sprechen möchtest, dann möchte ich dir sagen, dass ich dafür immer zur Verfügung stehe. Die Kunst kann uns manchmal helfen, Dinge auszudrücken, für die uns die Worte fehlen. Vielleicht kann ich dir ja helfen, herauszufinden, warum dich diese Entenmann-Figur so belastet.“

„Schattenmann. Er bedeutet nichts. Absolut gar nichts! Kann ich jetzt gehen? Ich muss zum Matheunterricht. Herr Braukmann hat es nicht gern, wenn wir uns verspäten.“

Sie nickt. „Du weißt, du kannst jederzeit zu mir kommen“, sagt sie noch einmal.

Ich wende mich wortlos ab und versuche zu verbergen, dass meine Hände und Knie zittern.

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