Читать книгу Zurück in die Würfelwelt - Karl Olsberg - Страница 7

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4.

„Es tut mir leid, Mam“, sage ich, als wir zu zweit an dem kleinen Esstisch in der Küche zu Abend essen. „Ich wollte dich nicht anbrüllen. Es ist nur … Dr. Johannsen hat mich ziemlich aufgeregt.“

Sie lächelt und legt eine Hand auf meine. „Ist schon gut.“

Eine Weile essen wir schweigend. „Ich mache mir Sorgen“, sage ich schließlich.

Sie runzelt die Stirn. „Sorgen? Worüber denn?“

„Um Amelie. Seit Sonntagmittag habe ich nichts mehr von ihr gehört.“

Mam lächelt. „Ist sie nicht mit ihrer Mutter zu ihren Großeltern gefahren?“

„Ja. Aber sie wollte Sonntag zurückkommen und Montag wieder in der Schule sein. Doch sie war nicht da.“

„Bestimmt ist sie noch länger in den Bergen geblieben. Vielleicht haben sie einen gemeinsamen Ausflug unternommen oder so und sie hat keinen Handyempfang. Ich bin sicher, sie meldet sich bald.“

„Kannst du … kannst du vielleicht mal bei der Polizei nachfragen, ob die etwas wissen? Du hast doch die Nummer dieses Kommissars, der mich im Krankenhaus vernommen hat, oder? Kannst du ihn nicht wenigstens fragen, ob Amelies Stiefvater noch in Haft ist?“

Sie sieht mich einen Moment schweigend an. Schließlich nickt sie. „Also gut. Aber ich bin sicher, es ist alles in Ordnung, Marko.“

Obwohl es bereits fast acht Uhr abends ist, erreicht sie den Kommissar tatsächlich unter der angegebenen Nummer. Er teilt ihr mit, dass Amelies Stiefvater immer noch in Haft sitzt. Der Untersuchungsrichter habe eine Freilassung gegen Kaution abgelehnt, weil Fluchtgefahr bestehe. Von Amelie und ihrer Mutter habe man nichts gehört, aber auch keine Hinweise darauf, dass etwas nicht in Ordnung sei. Man könne daher leider nichts unternehmen.

Trotzdem bin ich nicht beruhigt. Ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Wenn ich nur irgendetwas tun könnte!

Ratlos gehe ich zu Bett. Ich bin erschöpft, doch es dauert lange, bis ich einschlafen kann.

Mitten in der Nacht schrecke ich hoch. Ein leises Zischen hat mich geweckt. Verwirrt taste ich nach dem Schalter meiner Nachttischlampe. Als ich sie einschalte, stoße ich einen Schreckensschrei aus. Neben meinem Bett steht eine grüne Gestalt mit einem länglichen, rechteckigen Körper, einem würfelförmigen Kopf und vier Stummelfüßen. Ihr Mund sieht aus wie ein dunkler Halbmond, dessen Spitzen herabgezogen sind. Obwohl das eindeutig nicht sein kann, wirkt der Kriecher völlig real.

Das Zischen wird lauter. Er wird jeden Augenblick explodieren!

Alles, was mir einfällt, ist mich unter der Bettdecke zu verstecken.

Angespannt liege ich da. Doch die erwartete Explosion bleibt aus. Als ich die Decke schließlich wieder vom Kopf nehme, ist das Monster verschwunden. Ich stehe auf und durchsuche mein Zimmer, finde jedoch nichts Ungewöhnliches.

Mam öffnet die Tür zu meinem Zimmer. „Marko! Was ist denn los? Ich habe dich schreien gehört. Ist alles okay?“

„War bloß ein Alptraum.“

„Und wieso liegst du dann nicht im Bett?“

„Hab Durst.“ Um meine Ausrede glaubhaft wirken zu lassen, hole ich mir aus der Küche ein Glas Wasser.

Mam sieht mir mit sorgenvoller Miene zu. „Gute Nacht, Marko!“

„Gute Nacht, Mam.“

Doch es ist keine gute Nacht, jedenfalls nicht für mich. Ich liege da und starre in die Dunkelheit, bis mich der Wecker von meinen düsteren Grübeleien erlöst.

Als ich beim Frühstück sitze, sagt Mam: „Du siehst nicht gut aus.“

„Hab schlecht geschlafen.“

„Du solltest heute nicht in die Schule gehen.“

Diesmal widerspreche ich nicht. Ich bin so müde, dass ich kaum die Augen offenhalten kann. Und Amelie wird ohnehin nicht dort sein. Ich habe ihr heute Nacht zwei neue Kurznachrichten geschickt, aber wieder keine Antwort erhalten.

Mam ruft in der Schule an, um mich krankzumelden. Als sie die Schulsekretärin am Apparat hat, fragt sie, ob Amelies Mutter sie ebenfalls entschuldigt hat. Die Sekretärin teilt ihr jedoch nur mit, dass sie über andere Schüler keine Auskunft geben dürfe.

„Danke, Mam.“

Sie lächelt. „Schon gut.“

Nachdem ich mein Frühstück ohne großen Appetit beendet und meine Medikamente genommen habe, gehe ich in mein Zimmer und checke mein Handy. Keine Nachricht von Amelie. Ohne große Hoffnung wähle ich ihre Nummer. Umso überraschter bin ich, als nach drei Klingelsignalen plötzlich das Gespräch angenommen wird.

„Amelie? Hier ist Marko. Endlich erreiche ich dich! Wie geht es dir?“

Keine Antwort. Nur ein leises Zischen ist am anderen Ende zu hören.

„Amelie? Melde dich bitte! Bist du okay?“

Das Zischen wird lauter. Dann bricht plötzlich die Verbindung ab. Ich wähle erneut Amelies Nummer, doch diesmal nimmt niemand ab. Ich spreche ihr eine Antwort auf Band. Dann erzähle ich Mam, die gerade die Küche aufräumt, was passiert ist.

„Irgendetwas stimmt da nicht. Wir müssen die Polizei informieren!“

„Da war nur ein Zischen?“, erwidert Mam. „Dann hat sie wohl einfach keine gute Verbindung. Hast du nicht gesagt, sie ist in die Berge gefahren? Da hat man oft schlechten Handyempfang.“

„Aber so war es nicht“, widerspreche ich. „Es klang nicht, als wäre die Verbindung gestört. Da war nur dieses merkwürdige Geräusch, fast wie …“ Ich stocke, als mir klar wird, wonach es sich angehört hat.

„Fast wie was?“

„Schon gut. Ich glaube, du hast recht. Es war wahrscheinlich doch einfach bloß schlechter Empfang.“

Mam zieht eine Augenbraue hoch. Sie ist es nicht gewohnt, dass ich so schnell klein beigebe. Aber ich kann ihr ja schlecht erzählen, dass es sich angehört hat, als habe ein Kriecher meinen Anruf auf Amelies Handy entgegengenommen.

Verwirrt kehre ich in mein Zimmer zurück. Bilde ich mir das alles nur ein? Aber ich habe doch das Zischen deutlich gehört! Ich habe …

Mein Blick fällt auf die Wand hinter meinem Schreibtisch. Dort hängt das grüne Poster mit dem Logo des Spiels. Doch das Monster, das dort bisher zu sehen war, fehlt, als habe es sich einfach aus dem Poster davongeschlichen.

Ich bekomme eine Gänsehaut. Das kann doch nicht sein! Langsam nähere ich mich dem Bild, streiche mit den Fingern über das bedruckte, glatte Papier. Kein Zweifel: Der Kriecher ist verschwunden!

Wie in Trance gehe ich in die Küche. „Mam? Kannst du bitte mal kommen?“

Sie sieht mich erschrocken an. „Was ist denn nun schon wieder?“

„Komm einfach bitte mit in mein Zimmer!“

Sie folgt mir. „Was willst du mir denn zeigen?“

Mit zitternder Hand zeige ich auf das Poster über dem Schreibtisch. Der Kriecher darauf blickt mich traurig an.

„Das Poster …“

„Du meinst dieses Gurkenmonster? Was ist denn damit?“

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. „Gerade … war es nicht da. Ich meine, das Poster war da, aber der Kriecher darauf war verschwunden.“

„Ich verstehe nicht ganz. Was meinst du mit ‚verschwunden‘?“

Meine Augen füllen sich mit Tränen. „Ich glaube, etwas stimmt nicht mit mir.“

Wir setzen uns auf mein Bett, und ich erzähle ihr alles: Wie ich mich in der Würfelwelt wiederfand, ohne Erinnerungen daran, wer ich war und wie ich dorthin gekommen war. Wie ich durch die Würfelwelt irrte, die mir so real vorkam. Wie ich vor Zombies und Kriechern floh, bis ich mit Gronkhs Hilfe in den Raum der Rätsel gelangte und endlich begriff, was mit mir los war. Wie ich zwischendurch immer wieder kurz im Krankenhaus aufgewacht bin, ohne mich bewegen zu können, und wie ich dann doch jedes Mal wieder zurück in die Würfelwelt fiel.

Mam hört schweigend zu, den Arm um mich gelegt. Sie fragt nur manchmal nach, wenn sie etwas nicht versteht: „Was ist denn ein Schattenmann?“, oder: „Zombie-Schweinemenschen? Sehen die wirklich aus wie untote Schweine?“

Als ich schildere, wie ich schließlich mit Hilfe des Drachens einen Reflex in meinem Arm auslöste, dadurch ein Kabel aus einem Überwachungsapparat zog und die Ärzte auf mich aufmerksam machte, drückt sie mich ganz fest an sich. „Mein armer Junge!“, sagt sie immer wieder. „Mein armer, armer Junge! Wie tapfer du gewesen bist!“

Schließlich löst sie sich von mir und sieht mich mit geröteten Augen an. „Aber das war noch nicht alles, was du mir erzählen wolltest, oder?“

Ich schüttele den Kopf und erzähle ihr, wie der Winzling und seine beiden Mitläufer plötzlich zu Zombies wurden, wie ich einen Schattenmann am Schulzaun gesehen habe, wie heute Nacht ein Kriecher in meinem Zimmer stand und was das Zischen am Telefon bedeutete. „Und vorhin war der Kriecher in dem Poster da drüben plötzlich nicht mehr da“, ende ich.

Mam betrachtet lange das Bild über meinem Schreibtisch, als warte sie darauf, dass sich der Kriecher noch einmal aus dem Staub machen könnte, doch natürlich geschieht nichts dergleichen. „Also hatte Dr. Johannsen recht“, sagt sie mehr zu sich selbst.

„Glaubst du, ich … ich bin verrückt?“, frage ich.

Sie schüttelt energisch den Kopf. „Nein! Du hast bloß Halluzinationen. Das Koma hat dein Gehirn etwas in Mitleidenschaft gezogen. Dr. Johannsen hat angedeutet, dass so etwas passieren könnte. Er meinte, dass man das relativ gut behandeln kann, gerade bei Jugendlichen. Ich rufe ihn gleich mal an.“

Ein Schreck durchfährt mich. Dieser Dr. Johannsen macht mir Angst. Doch ich unternehme keinen Versuch, Mam zurückzuhalten. Immerhin hat der Psychiater mich gleich durchschaut, also weiß er wahrscheinlich, was er tut. Ob er mir nun sympathisch ist oder nicht – wenn er mir helfen kann, diese Halluzinationen loszuwerden, dann bin ich bereit, alles zu tun, was er sagt.

Am Nachmittag fährt Mam mit mir in Dr. Johannsens Praxis. Sie befindet sich in einer großen Jugendstilvilla auf einem parkähnlichen Gelände. Neben dem Eingang hängt ein Messingschild mit dem Aufdruck Edgar-Johannsen-Privatklinik für Neuropsychiatrie. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als wir den geräumigen Empfangsbereich betreten und von einer hübschen Empfangsdame in ein Wartezimmer geleitet werden. Aber ich werde jetzt nicht kneifen!

Dr. Johannsen lächelt, als er mich kurz darauf empfängt, doch seine Augen wirken immer noch raubvogelhaft. „Es ist schön, dass du dich entschlossen hast, herzukommen.“ Er streckt mir seine schlaffe Hand entgegen.

„Ich warte dann draußen“, sagt Mam. Ich möchte sie am liebsten bitten, bei mir zu bleiben, doch das wäre albern – schließlich bin ich kein kleines Kind mehr.

Der Psychiater deutet auf eine Liege. „Mach es dir doch da drüben bequem“, sagt er. „Und dann erzähl mir einfach, was geschehen ist.“

Ich setze mich auf die Liege. „Gut. Aber vorher möchte ich eines klarstellen: Auch wenn ich einige merkwürdige Dinge erlebt habe und unter Halluzinationen leide, bedeutet das nicht, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Amelies Stiefvater hat mir gegen meinen Willen eine Spritze gegeben, als ich ihn in seiner Praxis zur Rede stellte. Das war der Grund dafür, dass ich ins Koma fiel. Und ich weiß, dass er mehrfach im Krankenhaus war und versucht hat, mich dort zu töten.“

Der Psychiater nickt. „Aha. Ja, ja, natürlich, natürlich. Nun leg dich hin und tu genau, was ich dir sage. Ich werde dich jetzt in einen tiefen Entspannungszustand versetzen, damit du mir ohne Angst alles erzählen kannst, was du erlebt hast.“ Seine Stimme wird etwas tiefer und ruhiger. „Schließ die Augen. Und dann atme ganz tief ein. Halte die Luft einen Moment an. Und jetzt atme langsam aus. Gut so. Noch einmal: Einatmen … Luft anhalten … ausatmen. Sehr gut. Du spürst, wie deine Arme schwer werden …“

Ich öffne die Augen und richte mich auf der Liege auf. „Moment mal! Wollen Sie mich etwa hypnotisieren?“

Er lächelt beruhigend. „Du musst dir keine Sorgen machen. Hypnose kommt vom griechischen Wort für Schlaf. Es ist einfach nur ein tiefer Entspannungszustand, der die Barrieren absenkt, die zwischen dir und deinem Unterbewusstsein bestehen. Wir können damit herausfinden, was wirklich geschehen ist. Keine Angst – was immer du über Hypnose im Fernsehen gesehen hast, es ist völlig unmöglich, jemanden unter Hypnose gegen seinen Willen zu etwas zu zwingen.“

„Und wenn ich Ihnen unter Hypnose erzähle, was wirklich passiert ist, werden Sie mir dann glauben?“

„Ah, na ja, natürlich, Marko! Genau deshalb machen wir das. Vertrau mir. Ich will dir nur helfen.“

So richtig überzeugt bin ich immer noch nicht, doch als ich die Augen schließe und Dr. Johannsen mit seiner beruhigenden Stimme auf mich einredet, entspanne ich mich allmählich. Als mir der Psychiater sagt, dass mein ganzer Körper warm und schwer wird, scheint das tatsächlich zu passieren. Es ist ein angenehmes Gefühl. Und plötzlich bin ich wieder dort, an dem Strand in der Würfelwelt, ohne zu wissen, wer ich bin und wie ich dorthin kam.

Ich beginne zu erzählen: „Irgendetwas stimmt nicht, aber ich weiß nicht, was. Ich weiß nicht einmal, woher ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Da ist nur dieses merkwürdige Gefühl, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Die Welt, das ist ein Strand, dahinter treppenartige, bewaldete Hügel. Wellen schwappen leise gegen den Sand. Ein kühler Wind weht vom Meer herein. Die Luft riecht salzig …“

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