Читать книгу Zurück in die Würfelwelt - Karl Olsberg - Страница 8

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5.

Es ist nicht mein Bett, in dem ich aufwache. Das Zimmer ist klein, mit gelb gestrichenen Wänden, an denen bunte Landschaftsaquarelle in Plastikrahmen hängen. In einer Ecke ist ein kleines Bad abgeteilt. Ich habe nur meine Unterwäsche an. Jeans, Hemd und Sweatshirt hängen über dem Stuhl neben einem Schreibtisch, auf dem ein Zettelblock und ein Stift liegen. Die mit Blumen gemusterten Vorhänge vor dem einzigen Fenster sind zugezogen.

Verwirrt setze ich mich auf. Wo bin ich? Als ich die Vorhänge zur Seite ziehe, fällt mein Blick auf einen kleinen Park. Ein junger Mann in der weißen Kleidung eines Pflegers und eine alte Frau in einem Bademantel gehen darin spazieren.

Ich blicke auf die Uhr: halb zehn. Ein Schreck durchfährt mich, als mir klar wird, dass ich die Nacht in der Nervenklinik verbracht habe. Ich versuche, die aufkeimende Angst zu unterdrücken. Vielleicht hat mich Dr. Johannsen bloß hierherbringen lassen, weil ich während der Hypnose auf seiner Liege eingeschlafen bin. Sicher wird mich Mam gleich abholen. Sie wird nicht zulassen, dass ich hier in der Irrenanstalt bleibe. Das wird sie bestimmt nicht!

Rasch ziehe ich mich an. Halb erwarte ich, dass die Tür abgeschlossen ist, doch sie lässt sich öffnen. Dahinter liegt ein schmaler Flur mit einem spiegelblank polierten Fußboden aus grauem Kunststoff.

Ich folge dem Gang bis zu einer Tür am Ende, hinter der ich Stimmengewirr höre. Sie führt in einen großen Raum. An mehreren Tischen sitzen Menschen und frühstücken. Ein alter Mann hockt auf einem Sofa vor einem an die Wand montierten Fernseher, auf dem ein Zeichentrickfilm läuft.

Eine stämmige Frau mit kurzen, grauen Haaren erhebt sich von ihrem Stuhl und kommt auf mich zu. Sie trägt einen weißen Anzug mit einem Namensschild.

„Du musst Marko sein“, sagt sie freundlich und reicht mir die Hand. „Ich bin Schwester Christa.“

„Wo ist meine Mutter?“, will ich wissen.

„Frühstücke doch erst einmal mit uns.“

„Ich habe keinen Hunger. Ich möchte nach Hause.“

Schwester Christa blickt mich mitleidig an. „Natürlich möchtest du das. Und ganz sicher wirst du bald wieder nach Hause gehen können. Aber erst mal musst du etwas essen, damit du bei Kräften bleibst. Damit der Geist gesund werden kann, muss erst der Körper gesund sein, wie wir hier sagen.“

„Bald? Was meinen Sie mit bald? Ich will mit meiner Mutter sprechen, jetzt sofort!“

Die übrigen Patienten haben aufgehört zu essen und starren uns an. Schwester Christas Gesicht verfinstert sich. Ihre Augen wirken plötzlich kalt und unbarmherzig. „So sprechen wir hier nicht mit dem Pflegepersonal“, sagt sie ruhig, aber mit einer unüberhörbaren Drohung im Unterton.

Erst jetzt komme ich auf die Idee, meine Taschen abzutasten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich gestern mein Handy eingesteckt hatte. Falls ja, hat man es mir offenbar abgenommen. „Kann ich bitte kurz mal telefonieren?“

Zu meiner Überraschung nickt Schwester Christa. „Natürlich. Komm mit.“ Sie führt mich zu einem altmodischen Schnurtelefon, das an die Wand montiert ist.

Als ich unsere Nummer wähle, erklingt statt eines Wähltons nur sanfte Musik aus dem Hörer. „Was soll das?“, rufe ich. „Das ist gar kein richtiges Telefon!“

„Ich sagte schon, so redet man hier nicht mit dem Pflegepersonal!“, erwidert Schwester Christa, und der letzte Rest von Freundlichkeit und Mitgefühl ist aus ihrem Gesicht verschwunden. „Wenn du dich nicht an unsere Regeln halten willst, muss ich dich ins Beruhigungszimmer sperren!“

Bei diesem Wort geht ein Aufstöhnen durch die Patienten, die uns immer noch beobachten. Eine zierliche Frau mit kurzen, schwarzen Haaren bricht in Tränen aus.

Endlich begreife ich, dass ich in der Falle sitze. Dr. Johannsen muss Mam irgendwie überredet haben, mich hierzubehalten. Vielleicht hat er ihr eingeredet, dass ich verrückt bin. Möglicherweise ist das alles von Amelies Stiefvater arrangiert worden, um mich als unliebsamen Zeugen auszuschalten. Mich als verrückt zu erklären ist fast noch effektiver, als mich umzubringen.

Ich wende mich an Schwester Christa. „Bitte, ich möchte nur einmal kurz meine Mutter sehen. Ist das möglich?“

Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. „Natürlich ist das möglich, mein Junge. Ich werde mich persönlich darum kümmern. Aber bis dahin musst du schön brav sein, ja?“

Ich schlucke meine Wut und Angst herunter und sage: „Ja, Schwester Christa.“

„So ist es schon viel besser. Und nun frühstücke erst mal. Danach wirst du dich bestimmt besser fühlen.“

Keiner der Patienten ist auch nur annähernd in meinem Alter. Also setze ich mich einfach auf einen freien Stuhl. An dem runden Tisch sitzen ein älterer Mann mit etwas zu großer Nase und beginnender Glatze, eine hübsche junge Frau und ein Dicker mit Hornbrille.

„Neu hier, was?“, fragt die Frau. Sie hat kurze strohblonde Haare und hellblaue Augen.

„Ja. Ich bin Marko.“

„Elfie.“ Sie reicht mir eine zierliche Hand und stellt die beiden anderen vor: „Das da ist Sir William, Mitarbeiter des Geheimdienstes Ihrer Majestät.“

„Pssst!“, macht der Dicke mit der Brille empört und bemüht sich sichtlich, mit britischem Akzent zu sprechen. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich undercover hier bin?“

„Und das da ist …“, beginnt sie und weist auf den älteren Mann.

„Gott“, fällt ihr dieser ins Wort. „Du kannst mich der Einfachheit halber Karl nennen. Freut mich, dich kennenzulernen, Marko.“

„Äh, ja, mich auch.“ Dann wende ich mich an Elfie. „Und wofür hältst du dich? Für eine Figur aus dem Herrn der Ringe?“

Sie sieht mich erschrocken an. „Wie … wie meinst du das?“

„Entschuldige. Ich … ich dachte nur … Ich wollte nicht … Ich meine, warum bist du hier?“

Sie lächelt. „Ist schon gut. Du kannst es ja nicht wissen.“

„Was kann ich nicht wissen?“

„Dass ich ein Gespenst bin.“

„Ein … Gespenst! Du meinst, du bist tot?“

Sie verdreht die Augen. „Wenn ich tot wäre, dann würde ich ja wohl nicht hier sitzen und frühstücken, oder?“

„Äh … nein, aber … ich dachte, Gespenster …“

„Das ist ein weit verbreiteter Irrtum“, erklärt sie mit vollem Ernst. „Gespenster sind nicht tot. Gespenster sind unsichtbar.“

„Mit wem redest du da eigentlich die ganze Zeit, Marko?“, fragt der Dicke und zwinkert mir über den Rand seiner Hornbrille zu.

„Aber ich sehe dich doch“, sage ich verwirrt.

„Aber nur, weil ich will, dass du mich siehst.“

Mir fehlen die Worte. Ich bin in eine waschechte Klapsmühle geraten und sitze mit einem Gespenst, einem britischen Geheimdienstmitarbeiter und keinem Geringeren als dem Allmächtigen höchstpersönlich an einem Tisch! Wenigstens scheinen sie nett zu sein.

Trotz allem habe ich auf einmal Hunger. Also nehme ich mir ein Brötchen aus dem Korb und bestreiche es mit Butter und Marmelade. Als ich nach der Kanne Milch greife, hält der Dicke meinen Arm zurück. „Ich würde das nicht trinken. Sie tun da irgendein Zeug rein, um uns gefügig zu machen. In die Marmelade übrigens auch.“

Erschrocken starre ich auf das Brötchen auf meinem Teller, dann auf den dicken Mann, der sich für einen Geheimagenten hält. Als ich seinen Rat gerade ignorieren will, fällt mir ein, was Schwester Christa gesagt hat: Und nun frühstücke erst mal. Danach wirst du dich bestimmt besser fühlen.

Der ältere Mann namens Karl streckt seine Hand aus, fährt damit durch die Luft über meinem Teller und murmelt etwas. „Jetzt ist es harmlos“, sagt er. „Ich habe einfach das Diazepam in Zuckermoleküle verwandelt.“

„Danke, aber ich glaube, ich habe doch keinen Hunger“, erwidere ich.

Sir William nickt anerkennend und tippt sich an die Stirn, während er mit dem Kopf auf Karl deutet.

Ein Anflug von Verzweiflung überkommt mich. Wenn tatsächlich Amelies Stiefvater dahinter steckt, dass ich hier bin, werde ich vielleicht nie wieder hier rauskommen! Dann schießt mir ein neuer Gedanke durch den Kopf: Vielleicht ist Amelie auch in eine Nervenklinik gesteckt worden. Vielleicht ja sogar in dieselbe!

„Habt ihr zufällig …“, beginne ich, doch Karl unterbricht mich.

„Sie ist nicht hier.“

Ich starre ihn an. „Was?“

„Sie ist nicht hier“, wiederholt er.

„Wer ist nicht hier?“, fragt Elfie.

„Ihre Majestät“, antwortet Sir William. „Sie ist im Buckingham Palace in Sicherheit. Dafür habe ich gesorgt.“

„Was hast du damit gemeint, sie ist nicht hier?“, frage ich nach.

„Das Mädchen, das du suchst, ist nicht hier.“

„Woher … weißt du das?“

„Ich bin Gott, schon vergessen?“

Einen Moment lang bin ich sprachlos. Dann wird mir klar, dass das nichts anderes ist als ein billiger Trick, wie ihn Wahrsager auf dem Jahrmarkt oder Zauberer im Fernsehen verwenden. Ich bin ein 14 Jahre alter Junge, da ist es wohl nicht so unwahrscheinlich, dass ich mich für ein Mädchen interessiere. „Gott“ hat einfach gut geraten.

Er schüttelt langsam den Kopf, als wüsste er, was ich denke. Aber das ist natürlich auch bloß ein Trick.

Das Gefühl der Ohnmacht wird übermächtig. Ich wische mir mit einer Papierserviette die Tränen aus den Augen.

Karl lächelt, als wolle er mich trösten. „Keine Sorge, ich kann dir helfen, hier rauszukommen.“

„Lass mich in Ruhe!“, erwidere ich. „Lasst mich einfach alle in Ruhe!“

Schwester Christa kommt an unseren Tisch. „Na, schmeckt’s?“, fragt sie mit aufgesetzter Freundlichkeit.

Alle nicken pflichtschuldig. Ich nehme einen Bissen von dem Marmeladenbrot und hoffe, dass Sir William nur fantasiert hat.

„Der Junge gehört nicht hierher“, sagt Karl unvermittelt.

„Das ist nicht deine Entscheidung“, erwidert Schwester Christa ruhig.

„Doch, ist es. Aber ich werde sie bald rückgängig machen.“

„Ja, ja, tu das.“ Sie wendet sich an mich. „Er denkt, er ist Gott. Das darfst du nicht so ernst nehmen.“

Ich nicke bloß.

„Und Sie, Schwester Christa, kommen in die Hölle!“, sagt Karl.

Sie fährt herum. „Was hast du gesagt?“

Karl grinst breit. „Sie kommen in die Hölle, wo Sie hingehören! Das volle Programm: Schwefelbäder, Dämonen, die ihnen mit Dreizacken in den Hintern pieken …“

„Mein lieber Freund, ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass wir hier nicht so reden!“

„Sie können mir gar nichts!“ Er macht eine ausladende Geste, die den ganzen Raum umfasst. „Ich habe mir das alles hier ausgedacht. Wenn ich wollte, könnte ich sie jederzeit in einen Truthahn verwandeln!“

„Jetzt reicht’s! Noch ein Wort, und du kommst ins Beruhigungszimmer!“

Karl grinst immer noch, aber er schweigt. Anscheinend hat selbst der Allmächtige Respekt vor dieser Pflegerin.

„Schwester Christa, darf ich bitte Dr. Johannsen sprechen?“, frage ich höflich.

„Der Doktor ist gerade in einem Termin“, sagt sie. „Aber später wird er sich bestimmt um dich kümmern.“

Sir William beugt sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: „Das sagt sie jedes Mal. Aber der Doktor kommt nie zu uns.“

„Das habe ich gehört, Willi!“, sagt Schwester Christa.

Der Dicke zuckt zusammen. „Oh Mist!“, murmelt er. „Die Geheimhaltung wurde verletzt! Ich muss sofort das Hauptquartier in Kenntnis setzen!“ Er hält sein mit Butter beschmiertes Frühstücksmesser ans Ohr. „London? Can you hear me? London?“

Schwester Christa seufzt. „Leg das Handy wieder hin, Willi! Hier drin ist kein Empfang, das weißt du doch!“

Sir William starrt das Messer an, dann nickt er und legt es wieder neben den Teller.

„Da drüben sind übrigens Bücher und Spiele, Marko.“ Schwester Christa deutet auf ein Regal an der Wand. „Du kannst dir nehmen, was du möchtest. Behandle die Sachen nur sorgfältig und stell sie wieder zurück, wenn du sie nicht mehr brauchst.“ Sie lächelt mir zu. „Und keine Sorge, ich weiß, dass du nicht so verrückt bist wie die anderen hier. Du kommst bestimmt bald wieder nach Hause!“

„Wer ist hier verrückt?“, fragt Sir William. Aber die Pflegerin beachtet ihn nicht und lässt uns allein.

„Wie wär’s mit einer Partie Mensch ärgere dich nicht?“, schlägt Karl vor.

„Au ja“, stimmt Elfie zu.

„Ohne mich“, meint Sir William. „Du gewinnst ja doch immer.“

„Ach komm schon!“, sagt Karl. „Diesmal lasse ich die Würfel garantiert völlig zufällig rollen.“

„Das hast du letztes Mal auch gesagt. Und dann hast du ganz zufällig immer die richtige Zahl gewürfelt, um mich rauszuwerfen!“

„Was kann ich dafür, wenn ich einfach Glück habe?“

„Hört auf, euch zu streiten!“, sagt Elfie. „Was ist mit dir, Marko? Spielst du mit?“

Ich schüttele den Kopf. „Nein danke. Ich fühle mich nicht danach.“

Karl zwinkert mir zu. „Na, vielleicht findest du ja da drüben noch was anderes Interessantes.“

Da ich nichts Besseres zu tun habe, folge ich seinem Vorschlag und gehe zu dem Regal. Eine Menge Bücher stehen darin. Ein paar Titel kommen mir bekannt vor: Lewis Carrols Alice im Wunderland zum Beispiel, Der Zauberer von Oz von L. Frank Baum, Die unendliche Geschichte von Michael Ende, Der 35. Mai von Erich Kästner und Coraline von Neil Gaiman.

Zwischen mehreren Stapeln mit Brettspielen zieht eine würfelförmige Schachtel meine Aufmerksamkeit an – ein Legoset zu meinem Lieblingscomputerspiel. Während ich die Schachtel aus dem Regal hole und sie von allen Seiten betrachte, frage ich mich, ob das Zufall ist oder ob Dr. Johannsen sie hier absichtlich platziert hat, extra für mich.

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