Читать книгу Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit oder wie der Mensch den Wolf zähmte. - Karl Reiche - Страница 6
ОглавлениеDie erste Jagd mit den Wölfen
Eines Abends kam Rerr zu Kaar. „Unsere Vorräte sind immer noch zu knapp für den Winter. Unsere Gruppe ist durch die neugeborenen Kinder gewachsen und dann sind da noch die Wölfe, für die wir ebenfalls Futter brauchen. Ich werde morgen mit Ian, Petr und Bor zu einem der Hochtäler aufbrechen, um weiteres Wild zu erlegen. In dieser Jahreszeit kommen dort die großen Rentierherden aus dem Norden zurück. Kommst du mit?“
„Noch nicht. Erst will ich die Jagdtechnik mit den Wölfen noch etwas verbessern.“
Rerr sah ihn überrascht an. „Jagdtechnik mit den Wölfen? Was hast du vor?“
Kaar hatte der Gruppe bisher verheimlicht, was genau er in der letzten Zeit mit den Wölfen geübt hatte. Jetzt tat er etwas geheimnisvoll und schüttelte nur den Kopf.
Zwei Tage später kam die Jagdgruppe vollkommen erschöpft und enttäuscht zurück. Es war ihnen nicht gelungen, irgendwelche nennenswerte Beute zu erlegen.
„Wir haben eine große Rentierherde entdeckt und versucht, uns an sie heranzuschleichen. Aber die Tiere haben uns immer zu früh gewittert oder entdeckt und sind geflüchtet“, berichtete Rerr.
„Dann wird es Zeit, dass wir es jetzt einmal zusammen mit den Wölfen versuchen“, antwortete ihm Kaar. „Wenn ihr euch erholt habt, brechen wir einfach noch einmal mit allen Männern auf. So viele der Frauen wie möglich sollen uns begleiten, denn wir werden viele Helfer zum Tragen der Beute brauchen.“
Rerr sah ihn skeptisch an. „Du glaubst doch wohl nicht, dass du mit den Wölfen mehr Erfolg haben wirst als wir. Die Rentiere werden die Wölfe viel früher bemerken als uns. Und die Wölfe jagen doch auch ganz anders. Sie hetzen das Wild und gehen ihm dann mit ihren Zähnen an die Kehle. Sie werden die ganze Jagd verderben.“
„Warte es ab.“
Diese Jagd erforderte einige Vorbereitungen, weil sie mindestens einmal oben im Gebirge übernachten wollten. Nur die stillenden Frauen blieben mit den kleineren Kindern in der Höhle zurück. Sera ließ es sich nicht nehmen, mitzukommen. Sie ließ Sita in der Obhut von Aina zurück, die für den Zeitraum genug Milch für beide Säuglinge hatte. Alle zurückbleibenden Frauen wollten mit achtgeben und ihre Milch teilen. Als Sechs merkte, dass Sera mit ihnen aufbrach, trabte sie zu ihr und wich ihr auf dem Marsch zum Jagdgebiet nicht mehr von der Seite.
Noch während die Frauen in einem Hochtal an einer windgeschützten Stelle das Lager errichteten, brachen die Männer zur Jagd auf. Kaar ging mit den Wölfen in einigem Abstand hinter ihnen her. Bald sahen sie eine große Rentierherde, die, aus dem Norden kommend, in großer Entfernung an ihnen vorbeizog. Wenn sie einige dieser Tiere erbeuten wollten, mussten sie sich beeilen, bevor die sich in den Tälern verteilten.
„Die sind zu weit weg. Die kriegen wir nicht“, kommentierte En diese Herde. „Lasst uns nach anderem Wild Ausschau halten.“ Kaar pfiff die Wölfe heran.
Eins und Zwei hielten schon seit einer ganzen Weile ihre Nasen in die Luft und witterten. Jetzt deutete er mit dem Arm auf die Rentiere und rief:
“Los!“
Eins rannte los und alle anderen Wölfe folgten ihm in schnurgerader Linie. Anstatt aber, was die anderen Jäger erwartet hatten, direkt auf die Rentierherde zu zustürmen, schlugen sie einen Bogen und verschwanden nach einer Weile aus dem Blickfeld der Menschen.
„Die sind weg“, kommentierte Ian höhnisch grinsend, „die siehst du so schnell nicht wieder.“
Kaar lächelte nur und wartete ab. Ungläubig sahen die Jäger plötzlich, wie sich eine kleinere Gruppe von etwa dreißig Tieren von der Hauptherde absonderte, umdrehte und zurück gelaufen kam, genau auf sie zu.
Hinter den Rentieren kamen in einer hufeisenförmigen Formation die Wölfe. Die Spitzen dieses Halbkreises bildeten Eins und Zwei auf den Flügeln und die anderen vier Wölfe formten den Rest des Hufeisens. Die beiden gaben Hetztöne von sich - eine Mischung aus tiefem Knurren und Bellen - und bestimmten so die Richtung, während die anderen Wölfe das Ausbrechen einzelner Tiere zur Seite verhinderten.
„Geht in Deckung und versteckt euch, damit die Rentiere euch nicht zu früh sehen!“, brüllte Kaar den anderen Jägern zu.
Alle Jäger verschwanden hinter Büschen und machten ihre Speere wurfbereit. Jeder legte einen Speer auf die Wurfschiene und hielt noch mindestens zwei weitere in der anderen Hand einsatzbereit. Erst als sie an dem lauten Klappern der Hufe hörten, dass die Rentiere ganz nahe sein mussten, sprangen sie aus ihrer Deckung und ihre Speere flogen in schneller Folge.
Die Rentiere sahen die Jäger auftauchen und gerieten vollends in Panik. Einigen Tieren gelang es durch die Reihe der Jäger hindurch zukommen und zu fliehen, andere versuchten, zur Seite auszubrechen. Aber die Wölfe waren sofort da. Sie versperrten den seitlich ausbrechenden Tieren den Weg und die Rentiere hatten nur die Wahl zwischen den Zähnen der Wölfe und den Speeren der Jäger. Die uralte und tief sitzende Angst vor den Wölfen siegte und sie kehrten wieder um, zurück in die Speere der Jäger.
„Seht bloß zu, dass ihr mir nicht aus Versehen einen der Wölfe trefft!“, schrie Kaar, „das würde ich euch nie verzeihen!“
Einige der Männer lachten leise, aber kein Wolf wurde getroffen.
Wieder versuchten einige der Tiere, auszubrechen. Ein starker Hirsch wollte genau vor Kaar zur Seite springen und Kaar hatte in diesem Moment keinen Wurfspeer bereit. Er legte gerade seinen letzten Speer in die Abwurfschiene. Doch Eins war schneller. Er sprang dem Hirsch an die Kehle und brachte ihn damit zu Fall. Zwei hatte das beobachtet und riss auf die gleiche Weise eine Rentierkuh nieder. Kaar und En sprangen hinzu und erledigten den Rest mit den Steinäxten.
Schon nach kurzer Zeit war alles vorüber. Und während Kaar vor unbändigem Stolz auf die Wölfe fast platzte und zufrieden lächelte, blickten die anderen Männer der Sippe fassungslos auf ihre Jagdbeute. Sie hatten 21 Rentiere erlegt und das auch noch, ohne sich durch eine lange Verfolgungsjagd übermäßig anstrengen zu müssen.
Rerr kam strahlend auf Kaar zu: „Ich habe doch die richtige Entscheidung getroffen, dich, was die Wölfe anbelangt, zu unterstützen. Durch sie sind wir bei der Jagd ja wirklich enorm erfolgreich.“
Selbst Ian und mit ihm Petr traten fröhlich lachend zu Kaar. „Wir werden niemals wieder ein schlechtes Wort über die Wölfe sagen. Diese Jagdbeute haben wir nur ihnen zu verdanken. Wie hast du sie dazu gebracht, dass sie die Rentiere auf uns zu getrieben haben?“
„Ich habe ihnen nicht viel beibringen müssen. Ich habe sie nur beobachtet und das ist eine ihrer typischen Jagdmethoden: Die jüngeren Wölfe treiben das Wild auf die älteren und erfahrenen Wölfe zu, die irgendwo in Deckung versteckt liegen und die Altwölfe töten dann das Wild. Ich habe ihnen nur klar gemacht, dass ich die Beute töte.“
Die Wölfe saßen, vom schnellen Lauf hechelnd und erschöpft, erwartungsvoll in der Nähe.
„Schaut euch einmal die Wölfe an“, hörte Kaar En plötzlich erstaunt sagen. „Es sieht so aus, als wären sie mit ihrer Leistung sehr zufrieden.“
Kaar sah genauer zu den Wölfen hinüber und auch er meinte, so etwas wie einen zufriedenen Ausdruck in den Wolfsschnauzen zu erkennen.
Er wandte sich an En und die anderen Jäger. „Kommt alle mit.“ Mit diesen Worten ging er zu der Rentierkuh, die Zwei zu Fall gebracht hatte und begann, ihr das Fell abzuziehen. Anschließend schnitt er die frische Leber heraus, schnitt sie in Stücke und gab jedem der Männer ein Stück.
„Ich gebe euch jetzt die erste Lektion im Umgang mit den Wölfen: Wölfe leben in einer klar gegliederten hierarchischen Ordnung, die durch ihre Stärke bestimmt wird.“
Er erklärte den Männern, was er bei seinen Beobachtungen über die Rangfolge der Wölfe gelernt hatte und wie er sich als nun Ranghöchster im Rudel zu verhalten hatte. Er zeigte ihnen, wie auch sie ihre obere Position in der Rangordnung klarstellen konnten.
„Wenn ihr wollt, dass die Wölfe auch euch als über ihnen in der Rangordnung stehend betrachten sollen, dann dürft ihr sie niemals zuerst an eine Jagdbeute lassen. Ihr müsst immer zuerst ein Stück der Beute essen, denn so machen es die ranghöheren Wölfe.“
Die Männer hockten sich rund um das Ren und aßen ihr Stück Leber.
„Beobachtet, was geschieht, wenn wir das Ren gleich verlassen. Und lasst ein Stück der Leber für Eins übrig. Ich weiß, dass er sie gerne frisst.“
Eins hatte zugesehen, wie die Männer von der Leber aßen. Ihm lief bereits vor Vorfreude auf den Rest der Leber das Wasser aus dem Maul. Sobald sie aufstanden - Kaar pfiff wieder - und das Ren verließen, stürzte er vor und holte sich diesen. Erst als er genügend gefressen hatte, ließ er auch die anderen Wölfe an das Futter.
Die erlegten Rentiere wurden in die Nähe des von den Frauen vorbereiteten Lagers geschleift und dort ausgeweidet. Da sie sehr viele Tiere erlegt hatten, dauerte das, im Schein von mehreren in einem großen Kreis angelegten Feuern, fast die ganze Nacht.
Die Wölfe hatten inzwischen einen großen Teil ihres Anteils an der Jagdbeute gefressen. Ein ganzes Rentier war aber selbst für sechs fast ausgewachsene Wölfe zu viel und sie waren satt und träge. Zu Kaars Erstaunen kamen sie jetzt zur Gruppe der Menschen und legten sich mitten im Kreis der Feuer nieder. Einige blinzelten, andere gähnten, alle beobachteten die geschäftige Tätigkeit der Menschen noch eine Weile, dann aber beachteten sie die um sie herrschende Aktivität nicht weiter und schliefen einfach ein.
Von da an wurden die Wölfe als Jagdgefährten von allen Jägern akzeptiert. Selbst die Skeptiker Ian und Petr bemühten sich, das Jagen mit ihnen zu erlernen.