Читать книгу Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit oder wie der Mensch den Wolf zähmte. - Karl Reiche - Страница 8
Das Zusammenleben mit den Wölfen
ОглавлениеEins akzeptierte zwar, wenn auch etwas widerwillig, das neue Lager der Wölfe, aber den inneren Bereich der Höhle, wo die Menschen lebten, betrat er nie. Ihm waren die Enge durch die vielen dort miteinander lebenden Menschen, die brennenden Feuer und der Rauchgeruch, nicht geheuer. Die anderen jungen Wölfe waren weniger zurückhaltend. Nachdem sie die Hürde des Eingangs erst einmal überwunden hatten, begannen sie nach einer Weile, auch den Rest der Höhle zu erforschen.
Deshalb musste Kaar nach einigen Tagen mit einigen anderen Männern den inneren Zugang zu ihrer Vorratshöhle mit Bruchsteinen verschließen, als sie merkten, dass die jungen Wölfe zu interessiert an dem dort gelagerten Trockenfleisch waren.
Natürlich fanden die Wölfe diese Vorratshöhle schnell. Die getrockneten Körner und Früchte ließen sie liegen, aber über das geräucherte Fleisch machten sie sich her.
Als Aina genau in diesem Moment diese kleine Nebenhöhle betrat, weil sie einige Kräuter holen wollte, ertappte sie die Wölfe bei ihrer Tätigkeit. Sofort fing sie an, laut zu schimpfen. Bald kamen auch noch andere Sippenmitglieder hinzu und alle schimpften laut mit den Wölfen und wiesen sie aus der Höhle.
Die Wölfe ducken sich verunsichert mit angelegten Ohren und eingeklemmter Rute, waren sich aber keiner Schuld bewusst. Das Fleisch lag unbeaufsichtigt in einem Vorratsraum, den sie ohne Mühe erreichen konnten. Für sie war es deshalb selbstverständlich, dass es offenbar von den Menschen nicht beansprucht wurde und von ihnen gefressen werden konnte. Inzwischen hatten sie auch eine besondere Vorliebe für das geräucherte Aroma des Trockenfleisches entwickelt und der Duft aus dem Vorratsraum stieg ihnen permanent verführerisch in die Nasen. Obwohl den Wölfen der Zugang nach diesem Vorfall verbaut worden war, versuchten sie nach einer Weile, die Menschen zu überlisten und heimlich wieder in die Vorratshöhle zu gelangen, wurden erneut erwischt und wieder ausgeschimpft. Nach einigen weiteren Wiederholungen dieser Ereignisse hatten die Wölfe irgendwann gelernt, dass sie diese abgetrennte kleine Höhle nicht betreten durften, und gaben ihr Interesse an diesem Raum auf. Dass sie aber nicht ohne deren ausdrückliche Erlaubnis an das Essen der Menschen durften, lernten sie nie.
Nachdem die Wölfe in die Höhle gezogen waren und sich auch in dem von den Menschen bewohnten Teile der Höhle aufhielten, erkannte auch der Rest der Sippe, was Kaar schon bei der Wolfshöhle bemerkt hatte:
Dass die Wölfe sich ihnen auch mitteilen konnten. Sie konnten nicht, wie die Menschen, sprechen. Sie setzten aber, um sich mitzuteilen, ihren Körper ein, ihre Mimik und Gestik, zusätzlich auch noch unterschiedliche Laute, von Winseln über Bellen und Jaulen bis zum Knurren in unterschiedlicher Lautstärke und Tonhöhe.
Das Zusammenleben in einer Höhle war deshalb für beide Seiten erst einmal gewöhnungsbedürftig.
Die meiste Zeit hielten die Wölfe sich draußen auf oder gingen mit den Männern auf die Jagd. Wenn sie sich aber in der Höhle aufhielten, lagen sie oft in irgendeiner ruhigen Ecke und beobachteten die Menschen aufmerksam. Sie versuchten ihren Platz in der Rangordnung dieses Rudels, zu dem sie sich jetzt auch als zugehörig betrachteten, festzustellen. Durch dieses genaue Beobachten der Menschen fanden die Wölfe die Rangordnung dieses Zusammenlebens bald heraus.
Das ranghöchste Mitglied der Sippe war offensichtlich Kaar. Dann folgten die anderen Männer und danach die Frauen.
Sie hatten bisher ja auch in einer klar strukturierten hierarchischen Ordnung gelebt, in der der Leitwolf und seine Wölfin das Alphapaar waren, nach ihnen der Jungwolf kam und dann die Welpen.
Sie brauchten nicht lange, um zu erkennen, dass Aina und Sera zu Kaar gehörten und nach und nach erschloss sich ihnen das ganze Gefüge dieser Menschengruppe.
Dabei hatten sie anfangs etwas Schwierigkeiten, die Kinder einzuordnen. Bei den Säuglingen und Kleinkindern bis zu vier Jahren war es klar: Das waren die Welpen der Menschen und sie behandelten sie genauso, wie sie Wolfswelpen behandeln würden, also sehr rücksichtsvoll.
Auch bei den größeren Kindern über zehn Jahre hatten sie keine Schwierigkeiten. Die waren den Erwachsenen fast gleichgestellt. Manche von denen gingen bereits mit auf die Jagd, waren den Wölfen also übergeordnet.
Schwierigkeiten hatten sie bei der Einordnung der Kleinkinder zwischen vier und zehn Jahren, die sie anfangs als sich selbst gleichrangig ansahen. Entsprechend versuchten sie ihre eigene Rangordnung mit den Kleinkindern durch Einnehmen der Imponierhaltung, durch Gerangel, Knurren, Schubsen und leichte Bisse festzulegen.
Erst als Kaar energisch eingriff, verstanden die Wölfe, dass alle Menschen ihnen übergeordnet waren, und stellten die Rangeleien mit den Kleinkindern ein.
Der Umstand, dass die menschliche Gemeinschaft in der Höhle aus zwei Gruppen bestand, die ursprünglich unterschiedliche Sprachen gesprochen hatten, hatte dazu geführt, dass die Mitglieder der Sippe, um sich zu verständigen, vieles, was sie sagten, mit Handzeichen betonten.
Diese Gebärden erleichterten den Wölfen das Verstehen der Menschen, denn auch sie verständigten sich untereinander durch Körperhaltung, Gebärden und Mimik. Sie mussten nur lernen, was diese Signale der Menschen bedeuteten. Wenn die Menschen sich riefen, winkten sie sich heran. Wenn sie von einem anderen Mitglied der Sippe etwas gereicht haben wollten, zeigten sie auf diesen Gegenstand. In ihren Diskussionen unterstrichen sie das Gesagte oft mit ihren Händen.
Zudem begann Kaar, den Wölfen gegenüber bestimmte Handbewegungen zu verwenden. Wenn er mit einem der Wölfe schimpfte, weil der etwas getan hatte, was er nicht sollte, hob er mit ausgestrecktem Zeigefinger die Hand. Wenn er sie beruhigen wollte, hob er beschwichtigend beide Hände. Er unterstrich seine Kommandos an die Wölfe, z. B. die Aufforderung Wild zu suchen, mit entsprechenden Handzeichen und die anderen Menschen in der Höhle machten es ihm bald nach.
Die letzte Scheu vor den Wölfen schwand bei den meisten Mitgliedern der Sippe, als die jungen Wölfe anfingen, mit den größeren und kleineren Kindern in der Höhle zu spielen. Die Wölfe waren ebenfalls noch sehr jung und entsprechend verspielt. Als die ersten Schneestürme über das Land fegten und dafür sorgten, dass alle, auch die Wölfe, sich lieber in der warmen Höhle aufhielten, anstatt draußen herumzustreifen, freundeten sich die Wölfe mit den Kindern an.
Wollte einer der Wölfe ein Kind zum Spielen auffordern, dann hockte er sich mit nach vorn gestreckten Pfoten vor das Kind hin und wedelte mit der Rute. Wenn das auch noch nicht half, dann folgten kurze helle Belllaute, bis das Kind reagierte und beim Spiel mitmachte.
Oft trieben die Wölfe auch Schabernack, entweder mit den Kindern oder auch untereinander.
Wenn einer der Wölfe einen anderen spielerisch überfallen oder gutmütig ärgern wollte, dann näherte er sich dem leise, mit vorgestrecktem Kopf und waagerecht gehaltener Rute. Dann sprang er plötzlich vor und stieß den anderen um. Das taten sie auch mit den größeren Kindern. Die machten sich bald einen Spaß daraus, diese Annäherung scheinbar nicht zu bemerken. Sie ließen sich anspringen und dann entstand auf dem Boden der Höhle ein fröhliches Handgemenge, aber vonseiten der Wölfe immer ohne den Einsatz der Zähne. Die Krallen wurden dafür häufiger mal eingesetzt und so hatte einige Kinder an Armen und Beinen oft deutliche Kratzer.
Ihre Spiele waren manchmal reichlich wild und ab und zu mussten die Erwachsenen eingreifen. Nicht, um die Kinder vor den Wölfen zu schützen, sondern umgekehrt, um ihre größeren Sprösslinge daran zu hindern, den Wölfen Schmerzen zu bereiten und dadurch eventuell eine negative Reaktion der Wölfe auszulösen.
Die Säuglinge und Kleinkinder, insbesondere Daar und Sita, hatten den Wölfen gegenüber absolute Narrenfreiheit. Nur ihnen erlaubten sie es, sie an den Schwänzen zu ziehen, auf ihnen herumzukrabbeln und ihnen ohne Furcht die Händchen ins Maul zu stecken.
Eines Tages fand Kaar einen seiner Winterstiefel vollkommen zerfetzt in der Höhle liegen. Offensichtlich war Zwei der Übeltäter, denn der lag noch mit zufriedener Schnauze neben den Resten des Stiefels. Wütend nahm Kaar den zerfetzten Stiefel auf, packte Zwei am Genick, drückte ihn auf den Boden, stülpte ihm seine linke Hand über die Schnauze, drückte fest zu und hielt ihm den zerfetzten Stiefel unter die Nase.
Zwei verstand in diesem Augenblick die Welt nicht. Dass er den Stiefel zerfetzt hatte, hatte er längst vergessen. Dass er bestraft wurde, verstand er, aber nicht wofür. Verunsichert zog er sich in eine Ecke der Höhle zurück, legte sich in der Demutshaltung auf den Boden und beobachtete Kaar eine Weile.
Als sich die Situation für ihn scheinbar wieder beruhigt hatte, ließ seine Verunsicherung etwas nachließ. Auf einmal sah er den zweiten Stiefel in der Höhle herumliegen. Sofort erinnerte sich wieder daran, welch ein Spaß es gewesen war, diesen Stiefel zu packen, in die Luft zu wirbeln, ihn wieder zu packen und zu zerfetzen. Also schnappte er sich den zweiten Stiefel.
Ohne Vorwarnung für Zwei packte Kaar ihn wieder am Genick und stülpte ihm die Hand über die Schnauze. Aha, jetzt verstand Zwei. So viel Spaß es auch machte, er durfte nicht mit den Stiefeln von Kaar spielen.
Es gab viele solcher Beispiele, die zeigten, dass sich Menschen und Wölfe in ihrem Verhalten unterschieden und das Zusammenleben in einer Höhle erst lernen mussten.
Dagegen verstanden die Männer die Signale der Wölfe bei der Jagd sofort. Genau, wie Kaar es bereits sehr früh gelernt hatte, machten sie die Erfahrung, dass die Wölfe sie durch ihre Körperhaltung auf sich in der Nähe befindendes Wild aufmerksam machten. Sie nahmen dann eine „Achtung Stellung“ ein: Nach vorn gerichtete Ohren, gerade nach hinten gestreckte Rute und hoben oft auch eine ihrer Vorderpfoten.
Eine besondere Rolle nahm dabei die alte Frau ein. Sie konnte sich nicht mehr gut bewegen und saß deshalb oft an einem Platz, von dem aus sie das Geschehen in der Höhle übersehen, manchmal den Frauen Ratschläge oder Anweisungen geben konnte und im Übrigen nicht im Wege war. Die jungen Wölfe gewöhnten sich bald an, wenn sie von der Jagd mit den Männern zurückkamen, sie freudig mit der Rute wedelnd zu begrüßen und sich dann um sie herum zu legen. Die Alte streichelte sie oft, sprach mit ihnen und fütterte sie gelegentlich mit Kleinigkeiten. Für die Höhlenbewohner wurde es ein gewohnter Anblick, die alte Frau in ihrer Ecke sitzen zu sehen, umgeben von vier bis fünf jungen und fast ausgewachsenen Wölfen.
Es kam immer wieder mal vor, dass die Menschen sich über die Wölfe ärgerten, weil die wieder etwas ausgefressen hatten. Sie wurden dann zurechtgewiesen, aber niemals geschlagen. Genauso wenig, wie die Menschen ihre Kinder jemals schlugen, erhielten auch die Wölfe für Missetaten keine Schläge. Zwar kommt es in freier Wildbahn durchaus vor, dass die Alphawölfe rangniedere Mitglieder ihres Rudels mit schmerzhaften Bissen disziplinieren, so dass auch schmerzliche Zurechtweisungen den Wölfen nicht unbekannt waren, aber die Menschen taten es nie. Vielleicht tat der eine oder andere Mensch dies auch nur aus Vorsicht nicht. Immerhin hatten die Wölfe am vorderen Ende sehr scharfe und kräftige Zähne. Dieses Verhalten trug aber viel zum Aufbau eines gegenseitigen Vertrauens bei.
Mit der Zeit lernten die Menschen, manche mehr, andere weniger gut, die Signale der Wölfe oder zumindest ihre Stimmung so weit zu verstehen und zu begreifen, dass das Miteinander in der Höhle zu keinen ernsthaften Schwierigkeiten führte.
Besonders an der Stellung ihrer Ohren, dem Ausdruck ihrer Schnauze und der Haltung der Rute konnten die Menschen die Gemütslage der Wölfe gut ablesen.
Waren sie entspannt und ihre Gemütslage ausgeglichen, dann waren ihre Ohren meistens zur Seite gerichtet. Manchmal sah ihre Schnauze dann aus, als würden sie grinsen. Dabei hielten sie ihre Rute in einer entspannten Haltung nach unten.
Nach vorn gestellte Ohren signalisierten Aufmerksamkeit, ob sie nun bei der Jagd Wild bemerkten oder die Tätigkeit der Menschen in der Höhle beobachteten. Dabei hielten sie ihre Rute meistens waagerecht nach hinten.
Wedeln mit der Rute war fast immer ein Zeichen des Vertrauens, der Freundschaft oder der Beschwichtigung.
Aber nach vorn gestellte Ohren, geöffnetes Maul und gezeigte Zähne waren eine Warnung beziehungsweise eine Drohung. Dieses Signal sagte: bis hierher und nicht weiter. Die Menschen in der Höhle sahen diese Mimik fast nie, eigentlich nur bei Sechs, wenn sie Daar und Sita bewachte, oder wenn einer von ihnen sich den Wölfen näherte, während sie fraßen. Nur Kaar durfte dann in ihrer Nähe sein. Die Menschen, vor allen Dingen die Kinder, lernten es schnell und richteten sich danach. Aber im Gelände nahmen die Wölfe diese Drohhaltung oft anderen Fleischjägern wie Füchsen oder anderen Wölfen gegenüber ein und vertrieben diese damit.
Dagegen zeigten sie mit angelegten Ohren und eingeklemmter Rute, dass sie verunsichert waren oder sogar angst hatten.
Je besser die Menschen die Signale der Wölfe kennenlernten und je mehr die Wölfe erkannten, dass die Menschen zumindest meistens verstanden, was sie mitteilen wollten, desto besser und vertrauensvoller wurde die Beziehung von Menschen und Wölfen zueinander.
Eines Nachmittags waren Aina und Sera mit ihren Kindern im Tal und sammelten letzte noch an den Bäumen hängende Früchte. Sechs war wie immer bei ihnen, untersuchte schnüffelnd die Umgebung, entfernte sich aber nie weit von den beiden Frauen. Als die Sonne unterging, machten sie sich wieder auf den Rückweg zur Höhle. In der Abenddämmerung waren inzwischen viele Kaninchen aus ihren Bauen gekommen und hoppelten am Rande der Wiese im Schnee umher. Bei Sechs löste der Anblick der Kaninchen einen unwiderstehlichen Jagdtrieb aus und sie verschwand für einen Moment aus dem Blickfeld der beiden Frauen. Als sie wieder auftauchte, lachte Aina, denn Sechs trug ein Kaninchen im Maul.
„Sie bringt das Abendessen mit“, sagte sie lachend zu Sera. Sechs kam freudig auf Aina und Sera zu. Ihre ganze Körperhaltung drückte den Stolz auf ihre erste allein gefangene Jagdbeute aus. Freudig mit der Rute wedelnd legte sie das Kaninchen den beiden Frauen vor die Füße.
Doch sie hatte das Kaninchen nur gefangen, es aber nicht totgebissen. Sobald sie das Kaninchen losließ, löste sich bei dem die Schreckstarre, es sprang auf und verschwand mit schnellen Sprüngen in den Büschen.
Der Ausdruck in der Schnauze von Sechs war für Aina und Sera so urkomisch, dass jetzt beide lachen mussten. Man konnte ihr die Verblüffung regelrecht ansehen. Der Ausdruck ihrer Schnauze war eine Mischung aus Verlegenheit und dem Weichen der Zufriedenheit über ihren ersten Fang.
Als Aina und Sera Kaar von diesem Vorfall berichteten, meinte der als Erklärung: „Sechs ist die jüngste der Welpen und hat noch nicht gelernt, wie man als Wolf seine Beute tötet.“
Mit der Zeit gewöhnten sich Menschen und Wölfe aneinander, lernten sich gegenseitig immer besser zu verstehen und das Zusammenleben in der Höhle wurde immer partnerschaftlicher.
Aja und ihre Freundinnen dagegen legten ihren Widerwillen gegen die Wölfe nicht ab. Sie hatten sich zwar damit abgefunden, dass sie mit ihrer Meinung in der Minderzahl waren und sich der Mehrheit der Sippe fügen mussten. Das hinderte sie aber nicht daran, an den Wölfen herumzukritisieren, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Insbesondere die kleine Sechs, die häufig um Aina und Sera herum wimmelte, wurde häufig das Objekt ihrer Schimpfattacken.