Читать книгу Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit oder wie der Mensch den Wolf zähmte. - Karl Reiche - Страница 7

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Die Wölfe ziehen in die Höhle der Menschen.

Der Spätherbst war in einen frühen Winter übergegangen. Wenn auch noch nicht viel Schnee gefallen war und somit bisher noch keine Schneestürme über sie hereingebrochen waren, war es doch schneidend kalt geworden.

Die Sippe beschloss, bevor der Winter sie ganz mit seinen Klauen packen würde, noch eine große Jagd zu veranstalten. Dieses Mal wollten sie Wisente jagen, weil Sig und Bor, die als Späher ausgesandt worden waren, auf einer windgeschützten Lichtung im Wald eine große Herde dieser Tiere entdeckt hatten. Wie schon bei der Rentierjagd kam auch jetzt fast die ganze Sippe mit.

Als sie sich der Herde näherten, blieben die Frauen und Kinder im Schutz des Waldes zurück und die Männer bildeten eine lose Jägerkette am Waldrand. Die Jagd auf Wisente war gefährlicher als die auf Rentiere, denn im offenen Gelände konnten die Tiere sich gegen die Jäger wenden, diese angreifen und schwer verletzen. Deshalb schickte Kaar zuerst die Wölfe vor. Sie erwarteten, dass die Wölfe wieder einzelne Tiere aus der Herde absondern und auf sie zu treiben würden und es ihnen gelingen könnte, diese zu erlegen. Was dann geschah, überstieg aber alle ihre Erwartungen:

Die Wisente flohen nicht vor den Wölfen und ließen sich auch nicht auseinander treiben, sondern schlossen sich zusammen. Bullen und ältere Kühe bildeten einen Kreis mit den Köpfen nach außen und nahmen die Kälber und jungen Kühe in die Mitte. Die Tiere außen senkten die Köpfe und zeigten so den sie knurrend umkreisenden Wölfen ihre Waffen, die beeindruckenden Hörner.

Die Jäger betrachteten überrascht das Verhalten der Wisente. Rerr kam zu Kaar gelaufen. „Ich selbst habe so etwas noch nie gesehen, aber ich erinnere mich an eine Geschichte, die mein Großvater mir erzählt hat, als ich noch ein kleiner Junge war. Er hatte einmal mit anderen Jägern beobachtet, wie ein Wolfsrudel eine Wisentherde angriff und die Wisente haben sich genauso verhalten wie diese jetzt. Sie haben zusammen mit den Wölfen damals mehrere Wisente erlegt und den Wölfen eines überlassen. Wir haben ihm diese Geschichte damals nicht geglaubt.“

Rerr schüttelte immer noch erstaunt den Kopf, doch Kaar dachte sofort an den praktischen Nutzen für die Jäger, den diese Situation bot: „Diese Formation der Wisente zur Verteidigung gegen Wölfe mag zwar gegen diese erfolgreich sein, sie hat aber einen entscheidenden Nachteil für sie, der unser Vorteil ist: Die Wisentherde steht unbeweglich an einer Stelle. Vorwärts! Lasst uns näher herangehen und dann so viele Tiere wie möglich mit unseren Wurfspeeren erlegen!“

Immer hinter Buschwerk in Deckung bleibend arbeiteten sich Kaar und die anderen Jäger bis auf gute Wurfentfernung an die Wisentherde heran. Während die Wölfe die Herde immer noch knurrend umkreisten, wählten sie in aller Ruhe die Tiere aus, die sie erlegen wollten.

Erst als der Blutgeruch, und die Angst verwundeter Tiere, die Wisente in Panik versetzte, sie ihre Formation auflösten und flohen, zählte Kaar die Beute. Sie hatten siebzehn Wisente erlegt, überwiegend junge Tiere.

Da mehrere der geflohenen Wisente schwer verletzt waren, folgten die Jäger einer Gruppe von fünf Tieren und erneut bewiesen die Wölfe ihre Fähigkeiten bei der Jagd.

Die verletzten Wisente waren langsamer als der Rest der Herde und hatten sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Die Wölfe holten sie schnell ein, umkreisten sie und brachten sie zum Stehen. Noch bevor die Jäger heran waren, sprang Eins einem Bullen, in dessen Brustkorb zwei Wurfspeere steckten, an die Kehle und riss ihn nieder. Zwei und Drei brachten gemeinsam eine Wisentkuh zu Fall und die anderen Wölfe hinderten drei leichter verletzte Tiere an der weiteren Flucht. Den Jägern gelang, es mit Hilfe der Wölfe alle fünf Wisente zu erlegen.

Wegen des starken Frostes wurden die Wisente sofort ausgeweidet und zerlegt. Inzwischen war es zu einer festen Gepflogenheit am Ende einer jeden Jagd geworden:

Alle Menschen, auch die Frauen und Kinder, setzten sich in einem Kreis um einige der erlegten Tiere, und jeder aß von der noch frischen Wisentleber so viel, wie er wollte. Nach den Menschen kamen die Wölfe an die Reihe und Eins holte sich wie immer als Erstes die Reste der Leber.

Nachdem die Jagdbeute verarbeitet war, baute die Sippe wieder, wie schon für den Transport des Mammutfleisches, Gleitschlitten und belud sie mit den zerlegten Wisenten. Der Heimweg wurde bei der nur sehr dünnen Schneeschicht zwar eine harte und schweißtreibende Arbeit, aber niemand beschwerte sich. Sie brauchten fast zwei Tage bis zu ihrer Höhle und der strenge Frost konservierte ihre Beute bereits unterwegs.

Bei der Höhle angekommen stellte sich heraus, dass sie langsam ein Platzproblem bekamen. Der Vorratsraum im nördlichen Teil der Höhle war bereits bis zur Decke mit ihren Vorräten an getrocknetem Fleisch sowie mit Körben, gefüllt mit Nüssen, Körnern, getrockneten Früchten und Pilzen, gefüllt. Sie wollten das Fleisch tiefgefroren lagern und dafür war der Überhang vor der Höhle der beste Platz.

Den aber bewohnten im Moment die Wölfe.

Kaar rief deshalb alle Mitglieder der Sippe zusammen. „Wenn wir dieses Fleisch gefroren lagern wollen, dann wisst ihr, wo der beste Platz dafür ist. Wir haben auch früher unser Fleisch unter dem Überhang gelagert, weil es dort kalt genug ist und es gefroren bleibt. Das sollten wir jetzt wieder tun. Dort ist auch genügend Platz, falls wir noch ein Mammut erlegen. Ich schlage deshalb vor, dass ab jetzt der Schlafplatz der Wölfe in einem der beiden Eingangsbereiche der Höhle zwischen den dort hängenden Fellen ist.“

Sofort widersprachen Aja, Lia und ihre beiden Freundinnen Ina und Eta. „Du hast uns zugesichert, dass die Wölfe nicht mit uns in der Höhle leben werden.“

„Dann nennt mir eine andere Lösung.“

„Ja, jagt die Wölfe wieder davon. Schickt sie fort, wieder zurück in ihre Wolfshöhle. Dort können sie ja von uns aus weiter leben.“

Doch jetzt ernteten sie Protest von allen anderen Mitgliedern der Sippe. Selbst ihre eigenen Männer wandten sich gegen sie.

Zornig schrie En ihnen ins Gesicht: „Habt ihr denn immer noch nicht mitbekommen, dass wir unsere großen Jagderfolge in der letzten Zeit in erster Linie den Wölfen verdanken? Gerade bei der letzten Jagd auf die Wisente waren sie unentbehrlich! Habt ihr nicht gesehen, wie sie die Wisente zweimal aufgehalten haben, so dass wir so viele von ihnen erlegen konnten? Nein, die Wölfe bleiben bei uns. Oder wollt ihr riskieren, dass sie uns verlassen und wir in Zukunft wieder ohne sie jagen müssen? Wollt ihr noch einmal, wie während unseres ersten Winters, hungern, weil wir nicht genügend Fleischvorräte anlegen konnten?“

„Aber wenn sie im Eingang der Höhle hausen, kommen sie doch sicher auch hinein.“

Kaar ärgerte sich schon lange über die Uneinsichtigkeit dieser vier Frauen. Jetzt wurde es ihm zu viel. Es wurde Zeit für eine abschließende Entscheidung.

„Haben die Wölfe euch, seit sie in unserer Nähe leben, jemals bedroht?“

Kleinlaut mussten die vier Frauen zugeben, dass das nicht der Fall war. Sie fühlten sich einfach nur unwohl in der Nähe der Wölfe.

Doch gegen den Rest der Sippe konnten sie sich nicht durchsetzen und so wurde beschlossen, dass die Wölfe künftig, wie Kaar vorgeschlagen hatte, im Haupteingang der Höhle zwischen dem Mammutfell und den innen hängenden Wisentfellen hausen sollten.

Der Platz unter dem Überhang wurde sauber gefegt, einige Wisentfelle auf den Boden gelegt und die zerlegten und gefrorenen Wisente dort eingelagert. Dann wurde die Mauer aus Bruchsteinen wieder davor aufgerichtet. Alle waren zufrieden, nur die Wölfe hatten dem Treiben der Menschen erstaunt zugesehen und waren etwas verunsichert.

Bisher hatten sie die Eingänge der Höhle, auch wegen der dort hängenden Mammutfelle, gemieden. Deshalb hatte Kaar einige Mühe, sie dazu zu bewegen, in den Bereich des Haupteingangs umzuziehen.

Schließlich musste er wieder, dick in Felle eingewickelt, einige Nächte im Eingangsbereich mit den Wölfen zusammen verbringen, bis die sich an die neue Situation gewöhnt hatten.

In diesen Nächten kam Sera zu ihm unter sein Fell und legte sich kichernd neben ihn. „Ich will auch wissen, wie es ist, mitten in einem Rudel Wölfe zu schlafen.“

Als Kaar sie am nächsten Morgen fragte, wie es denn gewesen war, sah sie ihm tief in die Augen und lächelte: „Etwas eng, aber im Übrigen bin ich sehr zufrieden.“

Am Anfang gab es auch andere Bedenken einiger Frauen: „Die Wölfe werden den Boden des Eingangsbereichs voll pinkeln und auch ihre Kothaufen dort hinterlassen. Den Gestank wollen wir nicht.“

Da irrten sie sich aber:

Es fanden sich nie auch nur eine einzige Urinpfütze in diesem Bereich und auch kein Kothaufen.

Die Wölfe waren sehr reinliche Tiere und verließen zur Erledigung ihrer Geschäfte immer den Bereich der Höhle.

Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit oder wie der Mensch den Wolf zähmte.

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