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Wie kriegt der Typ das hin?

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Nein, danke! Nie wieder Karl Renz! Das war mir nach zwanzig Minuten klar. Christian Salvesen und ich besuchten damals verschiedene Satsanglehrer für unser Buch „Die Erleuchteten kommen“. Ganz zum Schluss war uns Karl Renz empfohlen worden. Wir mussten ihn aufnehmen ins Buch. Er hatte sein Erwachenserlebnis gehabt. Er hatte irgendetwas durchschaut, das wir nicht durchschaut hatten. Und er hatte in verschiedenen Städten ein treues Publikum.

Nur dass der Mann für mich persönlich nichts taugte, war deutlich. Er redete zuviel. Er war nicht still. Er nahm sich nicht die Zeit, jemandem lange in die Augen zu sehen. Er schuf keine spirituelle Atmosphäre. Er saß da wie ein Seminarleiter, ohne Blumen, ohne Kerze, ohne Foto eines weisen Lehrers, überhaupt ohne das geringste Zeichen der Spiritualität. Da hatte ich andere Satsanglehrer erlebt! Lehrer mit einer Aura. Solche, die am Anfang lange mit geschlossenen Augen verharrten, bis sich die Stille im ganzen Raum ausbreitete. Lehrer, die den Fragenden tief in die Seele blickten. Heilige beinahe, die jedes Wort wie eine Kostbarkeit ausgaben. Sie waren umgeben von Musik, Blüten, Weihrauch und den Ikonen großer Meister.

Nichts davon bei Karl Renz. Keine Andacht. Keine Atmosphäre. Nichts Meditatives. Schlimmer: Es war sogar anti-meditativ! Ich hatte zwanzig Jahre lang meditiert, jeden Morgen, jeden Abend. Dieser Karl erklärte meine Disziplin kurzerhand für völlig nutzlos! Wisch und weg! Und so ging es weiter. Jeder Weg ein Irrtum, jedes Bemühen zwecklos, jede Suche ein hoffnungsloser Fall. So redete er. Die anderen Zuhörer, offenbar eine Art Abonnementspublikum, amüsierten sich augenscheinlich. Ich war froh, als der Talk vorüber war. Aber dann war ich high. High gleich auf der Straße. Auf dem Weg nach Hause. Noch in der Wohnung. Noch am nächsten Tag. Es war, als hätte ich in dem Talk eine kleine ungesetzliche Glückspille verabreicht bekommen. Eine Injektion Sorglosigkeit. Oder ein tief wirkendes Entspannungsmittel. Das war sonderbar. Irgendetwas musste jenseits des Geredes geschehen sein.

Um das zu überprüfen, bin ich wieder hingegangen. Und wieder. Und seither lasse ich möglichst keinen Talk aus, wenn der Mann in die Stadt kommt. Er redet mir immer noch ein bisschen zuviel. Zwei Stunden am Stück, unterbrochen nur von den Fragen der Zuhörer. Und am Ende der zwei Stunden wirkt er bedrohlich frisch und würde am liebsten noch weitermachen. Die Zuhörer sind dann geschafft. Sie sind geschafft, weil alles, was sie gedacht und vorgebracht haben, in den Wind gepustet worden ist. Jedes Argument ist ausgehebelt worden.

Karl Renz lässt nichts gelten. Keine spirituelle Erkenntnis. Keinen goldenen Satz der Weltweisheit. Kein aus tiefer Erfahrung gewonnenes Wissen besteht. Nichts. Am Ende eines Talks ist nichts übrig geblieben. Nichts, was ein redlicher Mensch jemals gedacht und geglaubt hat, gilt mehr. Gar nichts. Das ist deprimierend. Aber vor allem erleichternd.

Gelegentlich gibt es Leute, die in eine Art Schockstarre verfallen und am Ende schnell aufbrechen, um nie wiederzukommen. Es kommt auch vor, dass jemand mitten im Talk grimmig schweigend oder laut protestierend den Raum verlässt. Doch die meisten amüsieren sich und lachen – desto mehr, je länger der Talk dauert. Es kommt zu Lachorgien wie im Kindergarten. Anfangs ist mir das erheblich auf die Nerven gegangen. Wenn ich mich mit einer ehrlichen Frage vorwage und die anderen prusten los, reagiere ich gereizt. Und jetzt noch stören mich Albernheiten, wenn ich das Gefühl habe, ich habe den Witz nicht mitgekriegt.

Doch das gibt sich. Denn der eigentliche Witz in den Talks von Karl Renz ist: Derjenige, der sich gestört fühlt, verschwindet. Derjenige, der gereizt reagieren könnte, ist nicht mehr da. Natürlich sitzt der Zuhörer am Ende noch auf demselben Platz. Aber nun unstörbar. All das, was er glaubte verteidigen zu müssen, hat sich verflüchtigt. Das, was die Person auszumachen scheint, die so genannte Identität, flattert im Laufe des Talks davon. Also das ganze Netz von Glaubenssätzen, Erfahrungen, Selbstbildern. Es schien komplex, nun löst es sich einfach auf. Die Vorstellungen, wie die Welt zu sein hat, wie ich selbst, wie die anderen sein sollten, verschwinden. Was geschehen müsste, damit ich glücklich bin, ja, dass überhaupt etwas geschehen müsste, wird bedeutungslos. Am Ende bleibt, was gern „Präsenz“ genannt wird, eine heitere Klarheit, die nichts braucht.

Klingt gut! Wie kriegt der Typ das hin? Er wird behaupten, dass er gar nichts macht. Und auf eine Weise stimmt das. Der Lehrer, der seine „wahre Natur“ erkannt hat, der also gemerkt hat, dass er die Leinwand ist und nicht der abrollende Film, dass er der Himmel ist und nicht die vorüber treibenden Wolken, der also weiß, dass er Stille ist – der tut nichts. Der will nichts, der hat keine Absicht, der ist einfach nur da. Doch seine Anwesenheit bewirkt offenbar etwas. Sie saugt die Unruhe ein. Da gilt das Wort von Paul Brunton über Ramana Maharshi: „Er ist eine Leere, in die die Gedanken der anderen fallen können.“ Fertig. Mehr ist nicht nötig.

Doch bei Karl Renz läuft natürlich noch etwas anderes ab. Deshalb wird er in so viele Länder eingeladen. Und deshalb wird es brechend voll, wenn er Anfang Januar in Tiruvannamalai eintrifft, am Mekka des Advaita. Da strömen dann Amerikaner und Israelis herbei, Australier und Engländer, Deutsche sowieso, ein paar Inder auch. Und in unbekümmertem Englisch läuft Karl zu großer Form auf in einem Fach, das zweifellos in der Bauernkneipe seiner Eltern gefördert wurde: Er ist Komödiant. Witzbold. Entertainer.

Ein Komiker vor allem mit Worten und ihrer tieferen Bedeutung. Er verdreht sie, zerpflückt sie, spielt und jongliert mit ihnen, entdeckt einen zweiten und dritten Sinn und kommt so – nicht selten zur eigenen Überraschung – auf erleuchtende Pointen. Er ist der Heinz Erhardt der Erleuchtung.

Dass dazu noch ein Sokrates in ihm steckt, gibt der Jonglierkunst den magischen Hintergrund. Wie der altgriechische Weisheitslehrer führt er die fragenden und tapfer argumentierenden Zuhörer in die Aporie. Das ist das freundliche philosophische Wort für Ausweglosigkeit. Sokrates zeigte im Gespräch jedem, der etwas zu wissen glaubte, dass er in Wahrheit nichts wisse. Das läuft bei Karl Renz genauso. Jeder, der in seine Talks kommt, glaubt anfangs noch, etwas zu wissen, hofft zumindest, etwas verstanden zu haben und ein wenig vorangeschritten zu sein auf dem Pfad zur Erleuchtung. Davon bleibt nichts. Mit Witz und Unnachgiebigkeit wird jedes Wissen zermahlen.

Egal, wieviele Fragen und Entgegnungen ein Zuhörer investiert, der Mann da vorne ist ein Spielautomat, der immer gewinnt. Am Schluss gibt der Zuhörer – und jeder, der mitgedacht hat - erleichtert auf. Doch der Gewinn des einen und das Aufgeben des anderen sind dasselbe. Da trifft man sich. Deshalb ist die Erleichterung da. Sie besteht in der befreienden Erkenntnis, dass es der Verstand selbst ist, der sich die Probleme schafft und sich dann abmüht sie zu lösen. Und dass die Wahrheit, die Essenz, das Selbst eines jeden „vor“ dem Verstand ist. Da darf der Verstand gern weiter im Hamsterrad rennen, das Selbst wird davon nicht berührt.

Dass dieses Selbst ungetrennt ist, dass es dasselbe ist in der Person des Zuhörers und der Person des Lehrers, lässt Karl gelegentlich sagen: „Ich spreche nur zu mir selbst.“ Auf Englisch nennt er seine Auftritte doppeldeutig „Self Talks“. Also „Selbstgespräche“ und „das Selbst spricht“. Natürlich hört das Selbst auch zu. Denn die Unterschiede, die gemacht werden, sind Unterschiede in Gedanken.

Das ist die Essenz der indischen Philosophie des Advaita („adual“, „nicht-zwei“), der Karl Renz sich verbunden fühlt: Trennung ist nur eine Illusion, die vom Verstand aufrecht erhalten wird. Sobald die Gedanken ruhen, ist auch die Trennung verschwunden. Ist auch der Wunsch verschwunden, etwas haben zu wollen. Ist die Angst verschwunden. „Die anderen sind die Hölle“, sagte Jean Paul Sartre. Karl Renz variiert: „Solange du glaubst, dass es andere gibt, lebst du in der Hölle.“

Hölle ist vielleicht übertrieben. Stress reicht schon. Aber wenn es etwas gibt, das die Hölle aufhebt, den Stress beendet, dann sind es solche Dialoge. Solche Gespräche mit einem Lehrer, der weiß, das es die Hölle nicht gibt, dass es die Trennung nicht gibt. Natürlich ist besonders die lebendige Präsenz eines Lehrers pure Erholung. Aber die gedruckte Präsenz hat auch ihre Vorzüge. Erstens enthält sie nicht den Leerlauf, den es in jedem Talk auch gibt. Den haben wir herausgekürzt. Zweitens muss man nicht auf harten Stühlen oder unbequem auf dem Boden ausharren. Drittens kann man die Worte dieses redefreudigen Komödianten jederzeit unterbrechen und zu genehmerer Zeit wieder hervorholen. Und man muss nicht jedesmal zehn Euro Eintritt bezahlen!

Sommer 2003, Dietmar Bittrich

Das Buch Karl

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