Читать книгу Hieroglyphen ohne Geheimnis - Karl-Theodor Zauzich - Страница 8
1.2 Ästhetik statt Orthographie
ОглавлениеRichtig ist, was gut aussieht. Welch glückliche Nachricht wäre das für Schüler von heute! Tatsächlich ist Ästhetik beinahe die einzige Norm, unter der die ägyptische Hieroglyphenschrift steht. Das fängt schon mit der Schriftrichtung an. Ob man Hieroglyphen von rechts nach links oder von links nach rechts schreibt, richtet sich nach der Stelle, an der sie angebracht werden. Die einzelnen Schriftzeichen werden immer so ausgerichtet, daß sie dem Auge des Lesenden entgegenblicken. Das gilt für alle Hieroglyphen, ist aber für Laien am einfachsten an den tier- und menschengestaltigen Zeichen zu erkennen. Diese schauen immer zum Anfang der Zeile, bei einer nach links laufenden Schrift also nach rechts.
Wenn beispielsweise eine Inschrift um eine Tür herum angebracht werden soll, so werden die einzelnen Zeichen so ausgerichtet, wie es die Pfeile markieren. Auf diese Weise kann der durch die Tür Hindurchschreitende die Texte am leichtesten lesen; kein Zeichen wendet ihm »unhöflich« den Rücken zu. Bitte vergleichen Sie dazu die Abbildung auf S. 87.
Auch die Anordnung der einzelnen Hieroglyphen zueinander unterliegt ästhetischen Regeln. Die Ägypter haben sich immer bemüht, die Schriftzeichen so zu gruppieren, daß ausgewogene Quadrate entstanden. Ein Beispiel: Das Wort für »Gesundheit« besteht aus den drei Konsonanten ś – n – b. Diese hätte ein Ägypter schwerlich so geschrieben (Schriftrichtung von rechts nach links), denn das wäre ihm unschön und daher »falsch« erschienen. »Richtig« ist dagegen die Anordnung zu einem Quadrat, , vgl. die Abbildung auf Seite 52.
Die erstaunliche Kunstfertigkeit, mit der die Ägypter solche Quadrate konstruiert haben, können Sie bei allen in diesem Buch behandelten Inschriften selbst beobachten. Eine wesentliche Erleichterung für die Bildung der Quadrate war es, daß die einzelnen Zeichen ihre Größe verändern konnten und daß sich manche Hieroglyphen sowohl senkrecht als auch waagerecht schreiben ließen (z.B. die Buchrolle bzw. ). Sogar vor der Umstellung einzelner Zeichen schreckte man nicht zurück, wenn durch die eigentlich falsche Anordnung ein schöneres Schriftbild erzielt werden konnte.
So gab es für viele ägyptische Wörter mehrere verschiedene Schreibweisen, von denen eine so richtig wie die andere war, wenn sie nur dem eben genannten Kriterium entsprach (vgl. z.B. S. 79 und S. 105).