Читать книгу Die Gregoriuslegende Arnolds von Lübeck - Karoline Harthun - Страница 4
II. Die beiden Textzeugen
ОглавлениеII.1 Entstehung
Der Gregorius Hartmanns von Aue nimmt im Gesamtwerk des Autors zeitlich eine mittlere Stellung ein. Stilanalysen ergaben, daß der Text höchstwahrscheinlich nach der Klage und nach dem Erec-Roman, aber vor dem Armen Heinrich und dem Iwein-Roman verfaßt wurde.3 Wenn Hartmann tatsächlich an einem Kreuzzug teilgenommen hat, wie man aus der Liedstrophe MF 218, 5 schließen könnte, so dürfte es sich eher um den Kreuzzug von 1189 / 90 als um den von 1197 / 98 gehandelt haben.4 Da der Erec vor dem fraglichen Kreuzzug entstanden zu sein scheint,5 ist es naheliegend, in der Phase nach dem Kreuzzug die Entstehungszeit des Gregorius zu vermuten. Für den Iwein, das letzte große Werk Hartmanns, und somit auch für den Gregorius läßt sich hingegen ein eindeutiger Terminus ante quem bestimmen, weil Wolfram von Eschenbach den Iwein in Teilen seines Parzival (253, 10 - 14; 436, 4 - 10) erwähnt, die nicht nach 1205 entstanden sind. Demnach schrieb Hartmann seinen Gregorius zwischen 1190 und 1205, vielleicht sogar zwischen 1198 und 1205.
Die Übersetzung Arnolds von Lübeck läßt sich leichter datieren. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Arnold sie erst begonnen, nachdem seine Slawenchronik zumindest in großen Teilen vorlag, weil diese Chronik6 dem Auftraggeber vielleicht als Empfehlung für den relativ unbekannten Autor Arnold von Lübeck diente. Außerdem erwähnt er die Gesta Gregorii Peccatoris im autobiographischen Abschnitt ihres Prologes nicht. Sie endet im Jahre 1209. Die Übersetzung des Gregorius dürfte Arnold vor dem Tode seines Auftraggebers, des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg, abgeschlossen haben, weil er im Widmungsprolog als lebende Person begrüßt wird. Wilhelm von Lüneburg schied am 12. 12. 1213 aus dem Leben, Arnold zwischen 1211 und 1214, als seine Testate in Lübecker Urkunden abreißen.7 Sein Nachfolger wird 1214 erstmals als Abt erwähnt.8 Arnold hat also, wenn er denn die Chronik vorher abgeschlossen hat, recht konzentriert und nicht länger als höchstens vier Jahre an der Übersetzung gearbeitet, etwa von 1210 bis 1213.
II.1.1 Auftrag
Wilhelm von Lüneburg trat außer durch den Auftrag für die Übersetzung des Gregorius durch kein weiteres Mäzenatenverhalten hervor, starb aber auch im Alter von nur 29 Jahren. Warum er gerade Arnold als Übersetzer auswählte, ist nicht zu beantworten. Der Abt könnte ihm durch seine Slawenchronik bekannt geworden sein. Dennoch ist zu bedenken, warum Wilhelm nicht einen gelehrteren, berühmteren Mann aufforderte, der bereits Erfahrung mit literarischen, gar metrischen Texten hatte. Im Fürstentum Braunschweig-Lüneburg wären zum Beispiel Mönche des Braunschweiger Ägidienklosters,9 an dem Arnold von dessen weitgereistem Abt Heinrich10 erzogen wurde, oder des Lüneburger Michaelisklosters in Frage gekommen. Die kulturelle Stellung dieser Klöster war dank ihrer Nähe zum herzöglichen Hofe und ihrer längeren Tradition bedeutender als die des Lübecker Johannesklosters, dessen erster Abt Arnold selbst war. Zäck vermutet, daß sich Wilhelm mit jenen in der Frage der Kanonisierung des Gregorius nicht einig wußte und sich darum an den Außenseiter Arnold wandte.11
Dieser war über Wilhelms Anliegen wohl auch überrascht, wie er im Prologus praeter rem zu verstehen gibt: „opus, quod nobis iniunxistis [Wilhelme de Lunenburch] de teutonico transferre in latinum, nobis satis est onerosum, quia usum legendi talia non habemus et modum locucionis incognitum formidamus.“12 Sicherlich liegt in der Formulierung „modum locucionis13 incognitum“ eine Übertreibung im Sinne topischer affektierter Bescheidenheit,14 mit der sich Arnold dagegen absichern möchte, daß ihm etwaige Übersetzungsfehler zur Last gelegt würden. Insgesamt ist aber von einer topischen Einleitung wenig zu spüren; im Prologus ante rem15 vermeidet Arnold affektierte Bescheidenheit oder Captatio benevolentiae.16
II.2 Überlieferung
Die Überlieferung der Hartmannschen Version des Gregorius ist um ein Vielfaches reicher als die von Arnolds Text. Wir kennen insgesamt elf Handschriften und Fragmente des 13., 14. und 15. Jahrhunderts.17 Die wichtigste Handschrift ist die Leithandschrift A (Vat. regin. lat. 1354) von der Hand eines ostoberdeutschen Schreibers aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts, in der nur der Prolog und der Schluß des Epilogs fehlen. Auf sie stützt sich fast ausschließlich die heutige Edition des Hartmannschen Textes, denn sie ist nicht nur die älteste, sondern auch die beste Überlieferung des Werks.
Arnolds Arbeit scheint dagegen niemals eine nennenswerte Rezeption erfahren zu haben. Sie ist nur durch eine Handschrift P und ein Fragment B in die Neuzeit gelangt, die mittlerweile beide verloren sind. Der Codex unicus18 stammt aus dem westfälischen Augustinerchorherrenstift Böddeken19 und befand sich noch unlängst in der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek in Paderborn (P a 54),20 wo er 1981 gestohlen wurde. Er wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts geschrieben. Daß der Codex über zweihundert Jahre nach der Niederschrift der Gesta Gregorii Peccatoris nur unweit von Lübeck entstand, weist darauf hin, daß Arnolds Werk geographisch nur wenig Verbreitung fand. Schilling nennt die Qualität der Handschrift zwar mäßig, nimmt jedoch nicht an, daß sie den Wortlaut des Archetyps entstelle.21 Die Überlieferungskette dürfte nur kurz sein; möglicherweise lag dem Schreiber von P sogar das Original vor.
Das Fragment B von 38 Versen war Teil einer Handschrift des 13. Jahrhunderts. Es verschwand im 19. Jahrhundert aus der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Schilling schätzt die Qualität der Mutterhandschrift von B geringer ein als die der Handschrift P, obwohl erstere deutlich älter war.22
II.3 Vorlagen
Hartmanns Vorlage war die altfranzösische Verslegende La Vie de Saint Grégoire aus dem zwölften oder noch elften Jahrhundert.23 Zwar sind zwei Fassungen dieses Textes überliefert, doch sind alle vorhandenen Handschriften jünger als Hartmanns Übersetzung. Fassung A ist in einer Handschrift aus der Mitte des 13. Jahrhunderts in Tours und in einer von 1469 in der Bibliothèque Nationale von Paris vorhanden. Fassung B liegt in drei Handschriften vor, nämlich vom Anfang des 13. Jahrhunderts im British Museum London, aus dem 14. Jahrhundert in der Pariser Arsenalbibliothek, aus dem frühen 15. Jahrhundert in Cambrai, und in einem Fragment vom Ende des 13. Jahrhunderts im British Museum. Fassung B steht dem Archetyp näher und gehört dem gleichen Überlieferungsstrang an wie Hartmanns Vorlage. Gleichwohl unterscheiden sich beide Fassungen so deutlich von Hartmanns Übersetzung, daß es sich verbietet, sie für einen Textvergleich als Stellvertreter der verlorenen Vorlage heranzuziehen.24
Die Handschrift von Hartmanns Gregorius, die Arnold für seine Übersetzung benutzte, ist ebenfalls nicht erhalten. Schilling bezeichnet sie im Anschluß an die belegte Gregorius-Überlieferung als Handschrift N. Sie ist enger mit dem Archetyp verwandt als alle uns bekannten Handschriften, wurde sie doch schon vor dem Jahre 1209 und möglicherweise in Hartmanns unmittelbarer Umgebung angefertigt.25 Von allen Handschriften stimmt die Leithandschrift A am ehesten mit ihr überein, doch zeigt die Kapiteleinteilung, die Arnold aus seiner Vorlage übernommen hat, einige Abweichungen.26
II.4 Rezeptionsästhetischer Kontext
Die Frage nach dem Lesepublikum der Gesta Gregorii Peccatoris kann hier zunächst nur angerissen werden. Um sich ihr anzunähern, muß man ohnehin zwischen verschiedenen denkbaren Publika differenzieren. Schon einen konkreten Adressaten zu benennen, stellt sich als schwierig heraus; richtet er sich doch einmal nach der Intention des Auftraggebers, einmal nach der des Übersetzers Arnold von Lübeck. Beide weichen unter Umständen voneinander ab. Dies soll in den Anmerkungen zur möglichen Motivation beider Urheber (Kapitel IX) geklärt werden. Aus Arnolds Bemerkungen im Prolog und im zweiten Epilog können wir schließen, daß er zumindest kein elitäres Publikum ansprechen wollte, sondern auch „einfache, unwissende“ Leser, also Laienbrüder oder gar Adlige.27
Als Rezipient interessiert vor allem das zeitgenössische Lesepublikum des frühen 13. Jahrhunderts. Die Rezeption späterer Jahrhunderte, besonders nach der Entstehung des Codex unicus, kann vernachlässigt werden, weil man angesichts der spärlichen Überlieferung der Gesta Gregorii Peccatoris davon ausgehen kann, daß die Neuzeit vor der wissenschaftlichen Beschäftigung kein Interesse an dem Werk hatte.
Das Interesse des Schreibers der Handschrift P aus dem 15. Jahrhundert kann man am Kontext ablesen, in den die Gesta Gregorii Peccatoris innerhalb des Codex gestellt werden. Es handelt sich um eine historiographische Handschrift mit hagiographischem Schwerpunkt. Außer den Gesta Gregorii Peccatoris findet man darin eine Chronik mit dem Titel Flores temporum, den Liber quadrupertiti apologetici, eine Schrift von Pseudo-Seneca über die vier Kardinaltugenden und die Viten Papst Leos IX. und des Hl. Robert.