Читать книгу Die Stunde der Narren - Karsten Flohr - Страница 5

»Der Keim des Todes lauert überall«

Оглавление

Zur Dorfversammlung am nächsten Tag ging der Vater dann doch nicht. Denn die Mutter erlebte gerade eine neue Marien-Erscheinung. Diese hatte sich wie üblich angekündigt, indem sie Psalmen und Bibelverse murmelte, sodass schleunigst Pater Gotwinus geholt wurde – eine Aufgabe, die Jakob zufiel. Der Gottesmann brauchte seiner nur angesichtig zu werden, schon eilte er herbei, da er wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Und daran tat er gut, denn was die Heilige Muttergottes diesmal mitzuteilen hatte, war von allergrößter Bedeutung.

Niemand außer dem Pfarrer durfte an ihrem Bett sitzen, wenn die Mutter von ihrer Vision berichtete. Entsprechend neugierig waren alle, als er endlich aus der Tür trat, und umringten ihn. Der Pfarrer aber winkte Jakob und den Vater herbei und ging mit ihnen einige Schritte hinter das Haus. Dort senkte er den Blick, faltete die Hände, atmete tief durch und sagte bedeutungsschwer: »Das Antoniusfeuer6

Jakob sah seinen Vater verständnislos an, der ebenso ratlos dreinblickte. »Das Antoniusfeuer!«, wiederholte der Pfarrer. »Es kehrt zurück!«

Nun werden wohl allenfalls die Älteren unter Euch, verehrte Leser, eine Vorstellung davon haben oder gar eine eigene Erinnerung an den Schrecken und das Grauen, das diese Seuche verbreitet. Für die Jüngeren will ich es kurz schildern: Diese todbringende Erkrankung, die den Körper des Menschen binnen weniger Stunden von innen heraus wie ein Feuer aufzehrt, gilt von alters her als die schlimmste Strafe Gottes, die er sich je für die Menschen einfallen ließ, abgesehen vielleicht von der Sintflut oder – wenn wir denn ganz weit zurückgreifen wollen – von der Vertreibung aus dem Paradies. Und immer, wenn die Krankheit die Menschen heimsucht, beginnt das Rätselraten: Wofür straft der Herr uns diesmal? Welche Sünde wurde begangen? Und vor allem: von wem? Einen oder am besten mehrere Schuldige galt es dann schnellstens zu finden, denn sie zu richten, ist der erste und wichtigste Schritt zur Heilung. So war es seit jeher: Meistens erschlug man einige Juden, verbrannte Krüppel und Wahnsinnige oder vierteilte schwarze Katzen. Die grauenhafte Krankheit zog sich dann sehr schnell zurück, zumindest wurde nicht mehr viel über sie geredet. Aber dass sie jetzt noch einmal wiederkehren würde –wer hätte das für möglich gehalten? Es musste Schreckliches geschehen sein.

Er würde sofort damit beginnen, in den umliegenden Roggenfeldern die Saat des Bösen zu beschwören, verkündete der Pfarrer, da man ja mittlerweile wisse, dass die Seuche gewöhnlich hier ihren Ausgang nahm. Sollte sie es aber wagen, sich dem Zeichen des Allmächtigen zu widersetzen, würde er sie in aller Heiligen Namen verfluchen! So sprach der fromme Mann, und gleich darauf sah man ihn mit über den Kopf erhobenem Kreuz singend durch die Felder gehen und zwischendurch Beschwörungen ausstoßen.

Jakob und der Vater beobachteten ihn von Ferne. »Er ist ein Mann Gottes und weiß es nicht besser«, sagte der Vater nach einer Weile, »wir Bauern jedoch kennen die wahre Ursache der Seuche. Ich sprach schon einmal davon, erinnerst du dich, Sohn? Der Keim des Todes lauert in der Ähre des Roggens: die schwarzen Spelze, schwarz wie der Teufel – sie sind’s, die das Gift enthalten! Also: Wenn der fromme Mann sein Werk vollendet hat, geh’ auf den Acker und betrachte jeden einzelnen Halm. Und solltest du hier oder dort tatsächlich einen schwarzen Spelz entdecken, brich ihn ab und nimm ihn mit! Wir werden ihn am Abend verbrennen.«

Und so kam es, dass Jakob während der nächsten Tage damit beschäftigt war, Halm für Halm den Roggenacker zu durchkämmen auf der Suche nach dem schwarzen Spelz. Er tat dies sehr gewissenhaft, denn die Worte seiner Mutter waren ihm heilig. Aber nach sechs Tagen stand fest: Es war kein schwarzer Spelz vorhanden, das Antoniusfeuer würde zumindest hier nicht wüten. Was Jakob insgeheim beschäftigte, war allerdings die Frage, ob die teuflische Krankheit ohne die Warnung der Heiligen Muttergottes und die Verfluchungen durch den Pfarrer vielleicht doch ausgebrochen wäre und er nur deshalb keine schwarzen Ähren gefunden hatte, weil sie bereits verdammt und verflucht worden waren. Aber er verwarf diesen Gedanken schnell und wandte sich erleichtert seinem Buch zu, denn er fand, nach erfolgreicher Erledigung einer so wichtigen Aufgabe hätte er das verdient.

Der Vater war allerdings nicht dieser Ansicht, und als er Jakob in seinem bevorzugten Leseplatz unter dem Kirschbaum sitzend fand, befahl er ihn herein. »Die Tinte ist zu hell!«, sagte er erzürnt. »Wir müssen sie neu aufkochen. Und wenn sie dann immer noch nicht genügend dunkel ist, müssen wir roten Wein hinzugeben.«

»Aber wir haben keinen«, erwiderte Jakob.

»Denkst du, das weiß ich nicht? Lass dir etwas einfallen, besorge welchen, statt dir mit dem ständigen Lesen die Augen zu verderben.«

Jakob musste lächeln, als er aus dem Haus trat: So knurrig war der Vater nur, wenn er über sich selbst erzürnt war, und das war er wohl gerade. Denn er selbst war es, der den Schlehensud nicht lange genug gekocht hatte. Und nun war guter Rat teuer …

Jakob ging auf direktem Weg zum neuen Dorfschulzen – der, den alle hassten und der das Amt dennoch erhalten hatte, weil keiner es gewagt hatte, offen gegen ihn zu stimmen. Der Schulze sah Jakob erstaunt an, als dieser vor seiner Tür stand und sein Begehr vortrug. »Messwein?«, fragte er, »du fragst nach Messwein?«

»Ich frage nicht für mich!«, beeilte sich Jakob zu erklären. »Der Herr Pfarrer schickt mich. Er war drei Tage lang bei meiner lieben Mutter, die wieder Visionen hatte, und so wird in der Kirche ein großer Andrang erwartet, weil alle wissen wollen, was der Pfarrer zu berichten hat. Und da benötigt er natürlich mehr Messwein als gewöhnlich, ist das schwer zu verstehen?«

Der Schulze sah den Jungen erbost an: So hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen! Er holte schon zu einer Ohrfeige aus, als er den Jungen sagen hörte: »Wenn Ihr das tut, wird das Antoniusfeuer Euch verzehren – Euch und Eure gesamte Brut.«

Dem Schulze klappte der Unterkiefer herunter, grunzend drehte er sich um, verschwand im Haus und kam kurz darauf mit zwei Krügen roten Weines wieder heraus. »Mein letzter!«, sagte er. »Hätt’s denn nicht auch weißer getan?«

»Jesu Blut«, raunte Jakob, »Jesu Blut! Hat je schon einer gehört, dass es weiß gewesen wäre?«

»Verschwinde!«, knurrte der Schulze, »und wehe, du hast mich hinters Licht geführt!«

Diese Drohung klang in Jakobs Ohren noch eine Weile nach, aber als er und sein Vater mithilfe des Messweines der Tinte ihre richtige, tiefrote Farbe verliehen hatten und der Vater seinem Sohn anerkennend auf die Schulter klopfte, vergaß er sie. Stattdessen schlug er flugs die Seite des Buches auf, die er schon vor einigen Stunden zu lesen beabsichtigt hatte.

Das Mädchen war entzückend anzusehen, las er mit klopfendem Herzen. Sie trug ein grünes Kleid, das völlig durchlöchert war und ganz verschlissen, sodaß ihr Leib hindurch schimmerte, weiß wie Schwanengefieder. Es heißt, daß kein Mädchen je von solch vollendeter Gestalt war. Wär sie reich gewesen, dann hätte ihr nichts zu einer vollkommenen Ehefrau gefehlt. Ihr Leib schimmerte durch die ärmlichen Kleider wie eine weiße Lilie, die inmitten schwarzer Dornen steht. Ich glaube, Gott hat seine ganze Sorgfalt auf sie verwendet, daß sie so schön und so anmutig wurde. Es tat Erec leid, daß sie sich so viel Mühe machte. Er sagte zu ihrem Vater: Das sollten wir ihr nicht zumuten, daran ist sie nicht gewohnt. Das ist eher meine Aufgabe. Da sagte der Alte: Man soll dem Gastgeber seinen Willen lassen, so ist es richtig. Aber wir haben keine Knechte. So ist es in Ordnung, daß sie es tut. Und das Mädchen tat, was der Vater ihr auftrug. Mit ihren weißen Händen versorgte sie das Pferd. Und wäre Gott auf Erden unterwegs gewesen, glaube ich, daß selbst er mit einem solchen Pferdeknecht zufrieden gewesen wäre. Auch wenn ihre Kleidung armselig war, hat doch sicher keiner je einen so reizenden Schildknecht gehabt wie Erec, fils de roi Lac, als sie sein Pferd versorgte. Von solchem Knecht gefüttert zu werden, ließ sich das Pferd gern gefallen.

*

Was Jakob in dieser Nacht träumte, ließ ihn später rätseln, ob es eine vom Gelesenen ausgelöste Erinnerung war oder eine Vision. Er träumte nämlich, ein wunderschönes Mädchen stünde plötzlich schneeweiß vor ihm und sähe ihn still an, als wäre sie eine Offenbarung. Erst mit dem Hahnenschrei löste sich das Bild des Mädchens in Luft auf.

Egal was es war: Jakob sollte das Mädchen seines Traumes tatsächlich am Vormittag des nächsten Tages sehen, als er nämlich zum Weizenfeld geschickt wurde, wo das Brot der hohen Herren heranwuchs7, um zu prüfen, ob das Korn auch schicklich gedieh. Dies war durchaus der Fall, wie Jakob zufrieden feststellte, als er sich wieder aufrichtete – und unvermittelt dem schönsten Wesen gegenüberstand, das er je gesehen hatte! Reglos stand er da und konnte nichts anderes tun, als es anzusehen, kein Wort formte sich in seinem Kopf, geschweige denn auf seinen Lippen. Und dem Mädchen ging es anscheinend ebenso: Es stand wie angewurzelt da und sah Jakob so tief in die Augen, dass er das Gefühl hatte, sie berühre den Grund seiner Seele. Stundenlang standen sie einander gegenüber, so erschien es Jakob. In Wahrheit waren es nur einige Wimpernschläge, bis eine Nonne herbeieilte, die in einer Hand einen Strauß Kräuter hielt, mit der anderen das Mädchen packte und mit sich zog.

Nun erst bemerkte Jakob, dass auch das Mädchen als Nonne gewandet war und einen Strauß in der Hand hielt. Die beiden waren offenbar Kräuter sammeln gewesen und eilten in Richtung des Klosters davon, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Erst als sie aus seinem Blickfeld entschwanden, nahm Jakob das Atmen wieder auf und schaffte es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Selig schwebte er zum Hof zurück und hörte dabei die himmlischen Heerscharen singen.

*

Es dauerte nicht lange, da unternahm der Pfarrer erneut die beschwerliche Wanderung von seiner Kirche in das kleine Dorf, in dem Jakob lebte. Ob es wegen des Antoniusfeuers war, das ihm keine Ruhe ließ, oder ob es andere, geheime Gründe dafür gab – wer weiß? Auf jeden Fall war es unzweifelhaft so, dass Jakob und sein Vater, als sie um die Mittagszeit die Hütte betraten, den frommen Mann am Bett der schlafenden Mutter vorfanden. Er kniete dort, hatte sein Haupt auf den Rand des Strohsackes neben den Leib der Mutter gelegt und schnarchte wie ein Wildschwein. Vater und Sohn, die eben aus dem Bienenstock am Waldrand Wachs geholt hatten, das sie für die Kerzen benötigten, mit denen sie das Kloster zu beliefern hatten, blieben wie angewurzelt stehen. Erst als eines der Kinder der neuen Mutter über die Türschwelle gekrochen kam und einen schrillen Laut ausstieß, schrak der Gottesmann auf. Das kleine bunte Holzkreuz, das er in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden, und als er sich der Peinlichkeit seiner Situation bewusst wurde, erhob er sich behände und nahm eine würdevolle Haltung ein. »Ihr seht mich hier, weil ich mich vergewissern musste, ob es Neues über das Antoniusfeuer gibt«, erklärte er. »Gott sei Dank ist dies nicht der Fall! Meine Fürbitten haben ihre Wirkung gezeigt.«

»Natürlich, natürlich«, entgegnete der Vater, nahm seine Mütze ab und verbeugte sich. »Und was gedenkt Ihr nun zu tun?«

»Ich werde zur Vorsicht ein weiteres Mal auf den Acker gehen und mich selbst davon überzeugen.«

Als der Vater nichts erwiderte, sah sich der Pfarrer unbehaglich im Raum um, bis sein Blick auf das krabbelnde Kind fiel, das ihn um seinen Schlaf gebracht hatte. »Weiß er nicht, dass es dem Herrn missfällt, wenn Kinder auf diese Weise über den Boden kriechen?«, fragte er den Vater scharf. »Es ist animalisch, Gott missbilligt dies! Wozu hat er den Menschen vom Tier unterschieden, frage ich dich. Sorg’ er dafür, dass dieses Kind nicht länger wie ein Tier über den Boden kriecht!« Und damit verließ er energischen Schrittes das Haus.

Jakob und der Vater sahen ihm nach, wie er den Weg zum Roggenacker einschlug und wenig später mit erhobenem Kreuz durch das Getreide schritt und dabei lauthals sang. Der Vater sah Jakob an: »Und du hast wirklich keinen schwarzen Spelz übersehen?«, fragte er. Jakob überlegte ausgiebig, bevor er antwortete: »In der Natur der Sache liegt es, dass man nie weiß, ob man etwas übersehen hat, denn wenn man dies wüsste, hätte man ja noch einmal nachgesehen und wäre dann sicher, nichts übersehen zu haben. So kann ich Euch nur antworten: Sollte sich eine Ähre des Teufels auf dem Feld befinden, wird sie sich jetzt wohl so sehr fürchten, dass sie verdorrt zu Boden fällt und niemandem mehr schadet.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte der Vater und konnte ein Grinsen nicht verbergen. »Und nun lass uns die Kerzen ziehen, damit wir morgen den Nonnen von der Heiligen Katharina den Wachszins überbringen können.«

*

Nachdem dies getan war und die Familie am Abend an dem langen Holztisch beisammensaß, erschien plötzlich ein unerwarteter Gast, er fiel förmlich mit der Tür ins Haus! Es war der Ziegenbauer –äußerst erregt und heftig gestikulierend. »Beruhige dich!«, sagte der Vater, »es ist noch reichlich Rübenmus vorhanden. Nimm davon und sättige dich.«

Aber der Ziegenbauer schüttelte wild den Kopf, immer noch mit Worten ringend, die ihm nicht über die Lippen kommen wollten. »Was treibt dich denn so um?«, fragte der Vater, »ist’s wegen dem schwarzen Mann im Feld? Das ist nur der Pfarrer, du kennst ihn doch recht gut! Er verflucht gerade das Ungeziefer, und dafür sollten wir ein wenig dankbar sein …«

»Nein, nein, das ist es nicht!« stammelte der Ziegenbauer. »Es ist – es ist wegen denen vom Dorf am anderen Ende des Waldes …«

»Was ist mit denen?«, fragte der Vater, »mit denen haben wir’s nicht! Wann bekommt man die schon mal zu sehen? Auf dem Weihnachtsmarkt in der Stadt vielleicht, aber gesprochen habe ich nie mit einem.«

Der Ziegenbauer sah düster in die Runde, bevor er plötzlich wild den Vater fixierte. »Das wirst du nun auch nimmermehr können«, sagte er, »nimmermehr!« Als alle ihn ratlos anblickten, fügte er leise hinzu: »Sie haben das Dorf dem Erdboden gleichgemacht.«

Jakobs Vater und die neue Mutter erhoben sich gleichzeitig und traten an den Ziegenbauern heran. »Wer?«, fragten sie.

»Landsknechte waren’s – die Landsknechte des Grundherrn.«

Da es daraufhin so still im Raum war, dass man nur die schlafende Mutter in ihrem Bett atmen hörte, dröhnte die Stimme umso lauter, die von der Tür her ertönte: »Und dafür gibt es allen Grund!«

Im Türrahmen stehend, vom letzten Tageslicht beschienen, sah der Pfarrer wie ein Waldgeist aus. Langsam betrat er den Raum. »Und wenn ihr vermeiden wollt, dass es euch ebenso ergeht wie denen, solltet ihr euch stets bewusst sein, dass es Gottes Ordnung ist, in der ihr lebt! Jeder, der glaubt, daran etwas ändern zu müssen, erhebt sich gegen den Allmächtigen. Und diese straft er fürchterlich!«

Majestätisch näherte er sich dem Tisch. »Der Mensch muss sein, was Gott will«, sprach er langsam und drohend. »Wer sollte uns den Acker bestellen, wenn alle Herren wären?« Er ließ den Blick von einem zum anderen gleiten und fragte dann: »Ihr wisst, wer dies gesagt?«

»Ich denke: nein!«, ließ sich Jakob vernehmen.

Der Pfarrer schnellte herum. »Ah, der hinkende Narr meldet sich zu Wort, er kommt mir gerade recht!«, dröhnte er. »Der Heilige Thomas8 war’s! Und er sagte außerdem: Die einen beten, die anderen kämpfen, die dritten arbeiten. Der Kopf, das ist die Kirche; die kämpfenden Hände, das sind die Ritter; die Füße, die das Gewicht aller tragen, das sind die Bauern …«

»Und wenn’s den Füßen zu beschwerlich wird?« Jakob hatte sich von seinem Stuhl erhoben und näherte sich dem Pfarrer so weit, dass er dessen Nase mit der seinen berührte.

Die Augen des Gottesmannes weiteten sich, als er die Arme ausbreitete und mit hocherhobenem Kopf rief: »Dann – dann ist der Zweck erreicht! Wisst ihr nicht die Worte, die Gott Adam und seinem verfluchten Weib hinterher schleuderte, als er sie aus dem Paradies vertrieb? Er sprach: Verdammt sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf ernähren in alle Ewigkeit! So sprach der Herr, und wer sich dem entgegenstellt, der wird ein schreckliches Ende nehmen.«

»Aber gilt das nur für die Bauern, hoher Herr? Ich habe noch nie gehört, dass der Allmächtige auch die Edlen, die Ritter und die Könige verflucht hat …«

»Dir wird man eines Tages noch die Zunge aus dem Maul entfernen, listige Schlange! Aber vorher sage ich dir: Nein, diese nicht! Denn diese sind es, die Gott der Herr liebt – diese, die ihm frommen und die sein Werk auf Erden vollenden. Diese sind die Besseren, weshalb der Herr sie an seiner statt auf Erden herrschen lässt.«

Er drehte sich langsam einmal im Kreis, sah alle im Raum der Reihe nach an, auch die Kleinsten. »Merkt euch das und richtet euch danach, wenn ihr nicht wollt, dass es euch ebenso ergeht wie jenen hinter dem Wald, welche die heilige Ordnung missachteten und zerstören wollten! Jeder einzelne von ihnen wurde gerichtet, auch das Vieh, die Ungeborenen und die Idioten …«

Während er diese Worte sprach, verließ er den Raum.

»Er ist wahnsinnig!«, entfuhr es Jakob, der darauf eine schallende Ohrfeige von seinem Vater erhielt und gleich darauf noch eine mit dem Handrücken quer über den Mund. »Schweig!«, zischte er, »wenn du uns nicht alle dem Zorn des Allmächtigen ausliefern willst!«

Eilig verließ Jakob den Raum und ging zur Rückseite des Hauses, wo er unter dem Stroh des Kuhstalls sein Buch verborgen hielt, von dem er sich nun Trost erhoffte. Erec war niedergeschlagen von der Schande, die ihm widerfahren war, las er da. Doch als das Pferd versorgt war, sagte der Alte zu seinem Gast: ›Nun macht es Euch bequem!‹ und er berichtete seinem Gast von seinem Unglück, das ihn all sein Hab und Gut verlieren und in dieser halb verfallenen Herberge sein Dasein fristen ließ. Und als er alles erzählt hatte, war Erec aufgestanden und sagte: Nun erlaubt mir, edler Gastgeber, mich ganz offen auszusprechen. Der Mann, von dem ihr soeben berichtetet, hat auch mir so Böses zugefügt, daß ich es auf immer beklagen muss, wenn ich es nicht rächen kann. In der Hoffnung darauf bin ich ihm nachgeritten. Nun bitte ich Euch um Rat: Wenn Ihr mir irgendwie zu einer Rüstung verhelfen könntet, dann müsste jener kämpfen. Ein gutes Pferd habe ich selbst. Erlaubt mir auch, Eure Tochter Enite auf das Turnier, wo ich ihn stellen will, mitzunehmen. Erwägt nun, ob das möglich ist, tut das mit der Zusicherung daß ich, wenn ich Glück habe und mir der Sieg zufällt, sie zu meiner Frau machen werde. Ihr dürft deshalb nicht nein sagen, weil sie mit mir nicht schlecht fährt, es bringt ihr vielmehr Ehre. Ich will Euch sagen, wer mein Vater ist: König Lac heißt er. Mein Land, meine Leute, mein Leben und alles, was mein ist, soll ihr untertan sein, und sie wird darüber herrschen.

Da traten dem Alten wegen seines heimlichen Schmerzes Tränen in die Augen, denn sein Herz war erschüttert von diesen Worten …

Jakob wischte sich die Tränen fort, die nicht wegen des Schmerzes des Alten seine Augen füllten, sondern wegen der Trauer über seine eigene Fehlerhaftigkeit. Wie hatte er nur solche Worte im Beisein des Pfarrers aussprechen können! Jetzt hörte er, wie der Ziegenbauer die Hütte verließ und noch einige Worte mit dem Vater wechselte. Jakob wünschte sehr, der Vater würde danach zu ihm kommen. Aber das tat er nicht. Und Jakob wusste, er hatte es nicht besser verdient.

Stattdessen schlüpfte die neue Mutter zu später Stunde in den Stall, als Jakob schon über dem Buch eingeschlafen war. Sie bedeckte ihn mit einer Handvoll Stroh, um ihn vor der Nachtkühle zu schützen, und eilte dann ins Haus und in das Lager des Vaters, der seinen Liebestrank folgsam geleert hatte.

*

Der Hahn hatte eben seinen ersten Schrei getan und Jakob aus unruhigem Schlaf gerissen, als der Vater vor ihm stand. »Komm!«, sagte er, »die frommen Frauen haben es nicht gern, wenn man sie bei ihrer Frühmesse stört. Wir sollten also zeitig das Kloster erreichen.« Er verhielt sich so, als wäre am Abend nichts vorgefallen, und Jakob durchflutete darüber eine Woge des Glücks. Er nahm den Krug mit der Tinte, der Vater trug den Korb mit den Kerzen.

Das Kloster der Nonnen von der Heiligen Katharina war winzig im Vergleich zu dem der Brüder vom Heiligen Johannes, das einen halben Tagesmarsch entfernt auf einem Hügel lag und dessen Mauern und Kirchturm man in der Ferne sehen konnte. Die Nonnen lebten bescheidener, ihr Wohnsitz ähnelte einer Ansiedlung von Häusern, wie man sie von den Dörfern der Bauern kennt. Das größte Haus in der Mitte bewohnte die Äbtissin, wo auch Gäste und Pilger empfangen und beköstigt wurden, in fünf kleinen Gebäuden, die darum angeordnet waren wie eine Wehrburg, lebten die Nonnen sowie die Klosterschülerinnen, Köchinnen, Wäscherinnen, Gärtnerinnen und die Skribentinnen. Gebetet und gesungen wurde in einer hölzernen Kirche mit einem kleinen spitzen Turm, der – hätte man ihn rot angestrichen – einer Narrenkappe nicht unähnlich gewesen wäre.

Obwohl die Anlage durch keine Mauer geschützt war, verfügte sie doch über ein Wachhäuschen mit einem hölzernen Torbogen, den jeder durchschreiten musste, der die frommen Frauen besuchen wollte. Darin lebte der einzige Mann des Klosters, Pförtner und Wächter zugleich, der uralt war, seit ewigen Zeiten die Nonnen schützte und sein Häuschen noch nie weiter als bis zum nächsten Gebüsch verlassen hatte, wo er seine Notdurft verrichtete. Zweimal täglich wurde ihm das Essen gebracht von der ältesten Nonne des Klosters, von der man annehmen durfte, dass er für sie keinerlei Anfechtung darstellte.

Der brave Mann saß nun also in seinem Häuschen bei offener Tür auf einem Stuhl, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schlief tief und fest, wie der Speichel verriet, der ihm aus dem Mundwinkel tropfte. Dennoch schreckte er auf, als Jakob und der Vater vor ihm standen und ihn ansahen. Er musste ihre Anwesenheit gespürt haben. »Euer Begehr?«, fragte er schlaftrunken.

»Wie immer«, erwiderte der Vater.

»Ah, ihr seid’s!«, grunzte der Pförtner und zog sogleich an einer Schnur, die unter der Decke des Raumes angebracht war. »Ich will hoffen, es ist euch wohl ergangen seit eurem letzten Besuch …«

Nun sollte ich Euch wohl, mein verehrter Leser, die Bewandtnis dieser Schnur erklären. Denn mit ihr hatte es wahrlich etwas Besonderes auf sich, verlief sie doch von der Hütte des Wachmannes bis zum Haus der Mutter Oberin, dort durch eine Öffnung in ihre Zelle hinein und direkt zu einer Glocke, an die sie angebunden war. Und nun gebt Acht: Zog also der Pförtner an der Schnur, klingelte es in der Zelle der Mutter Oberin und diese wusste, dass jemand Einlass in ihr Kloster begehrte!

So war es bisher immer gewesen und so geschah es auch an diesem frühen Morgen. Der Vater wusste bereits, wie lange es von diesem Moment an dauern würde, bis jemand aus dem Skriptorium ins Freie trat und sich auf den Weg zum Wachhäuschen machte. Denn da die Tinte für die Skribentinnen bestimmt war, erschien es der Mutter Oberin praktisch, wenn es von diesen selbst in Empfang genommen würde, denn sie war eine praktische Frau. So dauerte es also nur wenige Minuten, bis sich die Tür des Skriptoriums öffnete, in dem, so klein es auch war, fünfzehn Nonnen den lieben Tag lang schrieben, und eine von ihnen ins Freie trat. Es wäre also alles so wie immer gewesen – wenn nicht an diesem Tag eine zweite Person aus dem Haus gekommen wäre und neben ihr den gewundenen Sandpfad zum Pförtnerhäuschen eilte!

Schon als Jakob sie aus der Ferne sah, krampfte sich in seiner Körpermitte alles zusammen wie eine Mischung aus starkem Hunger und dem Tritt eines Pferdes. Er wusste sofort, dass sie es war – das Mädchen aus seinem Traum, obwohl es seinen Kopf gesenkt hielt, der überdies von der großen Kapuze bedeckt war! Ihr weißes Gewand der Novizin9 erschien ihm neben dem schwarzen der Nonne so leicht und luftig, als würde das Mädchen den Boden nicht berühren.

So also schwebte es heran, immer einen halben Schritt hinter der anderen, bis sie das Wachhaus erreichten. »Wie immer siehst du mich erfreut über deine Pünktlichkeit!«, sagte die Skribentin zum Vater. Der übergab dem Pförtner den Krug mit der Tinte, dieser reichte ihn an die Nonne weiter, woraufhin Jakob seinem Vater den Korb mit den Kerzen aushändigte, der diesen nun dem Pförtner gab. Und als der ihn der Nonne reichen wollte, trat nach einem kurzen Wink der Nonne die zweite Person hervor und streckte eine Hand aus, in die der Pförtner den Korb legte.

So eine umständliche Prozedur, werdet Ihr jetzt denken, mein verehrter Leser. Und Ihr habt recht. Wenn es nach Jakob gegangen wäre, hätte sie jedoch noch viel länger dauern mögen. Er hörte das Rauschen des Blutes in seinen Ohren so laut wie nie zuvor, als das Mädchen unter ihrer Haube heraus zuerst auf den Korb und dann direkt in sein Gesicht blickte! Wie bei der Begegnung am Rande des Ackers erschien es Jakob als eine Ewigkeit, bis das Mädchen den Blick wieder senkte und hinter die Nonne zurücktrat.

So stand es noch einige Augenblicke da, während die Skribentin dem Vater das Geld für die Tinte in einem kleinen Säckchen aushändigte. »Wir sind glücklich über deine Tinte, eine bessere können wir für unsere Arbeit wahrlich nicht wünschen!«, fügte sie hinzu. »Und dafür möchten wir dir danken, indem wir dir dieses Büchlein schenken. Es ist mit deiner eigenen Tinte geschrieben!« Sie griff in ihre Kutte, zog ein schmales Bändchen hervor und legte es ihm direkt in die Hand.

Der überraschte Vater rang noch nach Worten, als sich die Nonne mit einem »Gott vergelt’s« umwandte, um den Rückweg anzutreten. Dabei ergriff sie die Hand des Mädchens, das Jakob noch mit einem kurzen Blick streifte.

»Nun müssens eilen«, sagte der Pförtner gut gelaunt, »sonst kommens zu spät …« Und tatsächlich begannen in diesem Augenblick die Glocken zum Gebet zu läuten, und aus allen Häusern eilten die Frauen zum Morgengebet in die Kirche. Jakob und der Vater standen noch da, bis die Nonne und das Mädchen aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Dann hob der Vater das Buch vor die Augen und reichte es danach an Jakob weiter. Tiere und Pflanzen und wie Gott in ihnen wohnt stand darauf – geschrieben in herrlich leuchtender Tinte!

»Grüßt Gott, die Herren!«, rief der Wachmann ihnen nach, »falls ihr ihn trefft!« Der Vater blieb stehen, suchte in seiner Hosentasche und ging noch einmal zurück. »Damit er in seiner dunklen Hütte nächtens etwas sehen kann, wenn er mal raus muss«, sagte er mit einem Lächeln und reichte dem Mann eine Kerze. »Unsere beste …«, fügte er hinzu. Es war jene, die Jakob am Abend zuvor als letzte gefertigt hatte, bevor der Ziegenbauer ins Haus gestürmt kam. Und Jakob wusste: Der Vater hatte ihm verziehen.

Die Stunde der Narren

Подняться наверх