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»Die Geister des Waldes kamen in unser Haus«

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Mit dem Regen kam auch der Vater zurück. Tagelang hatte das Unwetter am Horizont gewartet, unentschlossen wohin es sich wenden sollte. Und dann konnte es gar nicht schnell genug gehen, bis es das Dorf erreichte und alles unter Wasser setzte, was zuvor ausgedörrt und vertrocknet gewesen war. Und auch als man schon fürchtete, nun würde es wohl bald die Fundamente der Häuser aufschwemmen, sodass die Gebäude wie Schiffe auf den Fluten schwimmen würden, ließ es immer noch nicht nach. Wie gut, dass das Getreide eingeholt und gedroschen war und dass die Scheune, in dem es lagerte, auf einer Anhöhe stand!

Es regnete tagaus tagein, man ging nur aus dem Haus, wenn es unumgänglich war, wenn man zum Beispiel die Kühe von der Last, die sie in ihren prallen Eutern mit sich trugen, befreien musste. Ansonsten hielten sich alle in dem einzigen Raum des Hauses auf. Dass es dabei nicht zu fortwährendem Gezänk unter den Kindern kam, war Jakob zu verdanken, der sie mit kleinen Kunststückchen und Geschichten bei Laune hielt. Eine davon wollten sie immer wieder hören, und ich bin geneigt, sie auch Euch, mein verehrter Leser, hören zu lassen: Die Geschichte vom Regentropfen, der lieber seiner eigenen Wege gehen wollte, als zusammen mit den anderen zur Erde zu fliegen. Er hatte schon in der Wolke, mit der sie zuvor tagelang über das Land gezogen waren, für Missstimmung gesorgt, während sich die anderen darauf vorbereiteten, bald ihre große Reise anzutreten. Was soll ich denn da unten, hatte der aufsässige Regentropfen gesagt, langweilig ist’s da! Man kann nicht in die Ferne sehen so wie von hier oben, womöglich lande ich im Fell einer Kuh, die mich dann ableckt und verschluckt. Nein, ich will nicht auf die Erde! Seine Freunde versuchten ihn aufzuheitern: Es sei auch möglich, sagten sie, dass er in einen Fluss fiele und mit diesem eine weite Reise bis zum fernen Meer antrete und von dort vielleicht in fremde Länder, wo es Dinge gäbe, die noch niemand gesehen hatte. Was soll denn das schon sein? rief er, Dinge, die niemand gesehen hat, gibt es auch nicht – also warum soll ich irgendwohin reisen, um mir Dinge anzusehen, die es gar nicht gibt? Dann mach, was du willst, sagten die anderen Tropfen, und lass uns in Ruhe, wir haben genug von deiner schlechten Laune! Und mit kühnem Sprung stürzten sie sich aus ihrer Wolke der Erde entgegen. Er sah ihnen nach und dachte noch: Diese Dummköpfe, gleich landen sie in einer Pfütze und dann ist es zu spät! Sie werden nie wieder hier heraufkommen und diese herrliche Aussicht über die ganze Welt haben! Was er jedoch nicht bedacht hatte: Je weniger Tropfen in seiner Wolke waren, desto einsamer wurde es um ihn und desto kleiner wurde seine Wolke. Am Ende war sie so klein, dass sie nur noch aus ihm selbst bestand – und ehe er sich’s versah, stürzte auch er der Erde entgegen. Der Wind sauste und pfiff um ihn herum, schleuderte ihn mal hierhin und mal dorthin, dass ihm ganz schwindlig wurde. Aber dann erwischte ihn ein Sonnenstrahl und schien hell leuchtend durch ihn hindurch! Und der kleine Tropfen erstrahlte in allen erdenklichen Farben, bis er aussah wie ein Edelstein. Und so fiel er schließlich zu Boden, glitzernd und schillernd, und er war der schönste Regentropfen, den man je gesehen hat! Und wenn man schnell genug nach draußen läuft, kann man ihn noch finden und ihn vielleicht an sich nehmen. Dann ist man ein gemachter Mann.

So kam es, dass die Kinder neugierig aus dem Türspalt schauten, um zu sehen, wohin der letzte Regentropfen fällt, um ihn dann zu erhaschen.

Als der Regen tatsächlich endete – wenn auch nur vorläufig – machte sich Jakob auf den Weg, um zu sehen, ob das Mädchen die Phiole mit der Tinte gefunden hätte und ob sie vielleicht sogar selbst dort auf ihn wartete. Er sah natürlich schon von Weitem, dass sie nicht da war, trotzdem lief er bis zu dem Platz, an dem er die Tinte abgelegt hatte – und sie war nicht mehr da! Stattdessen lag ein Kräuterstrauß im Gras. Der Strauß war vom Regen durchnässt, aber er duftete noch herrlicher als der vorherige! Jakob steckte seine Nase tief hinein und drehte sich dabei langsam und glücklich im Kreis herum. Dann nahm er seine Mütze vom Kopf, rollte sie zusammen und legte sie vor sich auf den Boden – sie würde wissen, wer sie für sie abgelegt hatte.

Er erreichte den Hof gerade rechtzeitig, bevor der nächste Regenguss einsetzte und wunderte sich nicht schlecht über den Lärm im Haus: Der Vater war zurückgekehrt und trug alle sechs Kinder auf einmal auf seinen Armen im Zimmer herum, während die neue Mutter ihm auf den Rücken gesprungen war und sich mit Armen und Beinen an ihm festklammerte. So stapfte er hin und her und lachte vor Freude wie die anderen auch. Als er Jakob erblickte, hielt er inne, ließ alle Kinder fallen, breitete seine Arme aus und presste ihn an sich, als wolle er ihn nie wieder loslassen.

Nachdem der erste Freudentaumel vorüber war, erfuhr Jakob alles über den neuen Fischteich des Grundherrn, welcher der schönste und größte war, den die Welt je gesehen hat. Der Graf war zufrieden. Das Einzige, was ihn bekümmerte, war, dass noch keine Fische darin schwammen. Stattdessen war er erst mal selbst hineingesprungen. So habe man den hohen Herren noch nie erlebt, sagte der Vater, aber es währte nicht sehr lange, denn als sich die Freude über das neue Spielzeug gelegt hatte, wurde er recht schnell wieder der Grundherr, den alle Bauern kannten: wortkarg, mürrisch und aufbrausend. Er wies seinen Verwalter an, die Bauern gehen zu lassen und zog sich in sein Schloss zurück. Und so war der Vater nach zwei Tagesmärschen also wieder heimgekehrt und sah kein bisschen anders aus als an dem Tag, da man ihn geholt hatte.

Alle freuten sich, nur die neue Mutter betrachtete ihn fortan argwöhnisch. Es war Jakob wohl aufgefallen, dass der Vater zwar den abendlichen Liebestrank folgsam zu sich nahm, jedoch sofort einschlief, wenn er in das große Familienbett geklettert war. Einmal, als Jakob nachts erwachte, sah er, wie die Mutter mit verschränkten Armen im Bett saß und nachdenklich auf ihren schnarchenden Gemahl herunterblickte. Als sie Jakobs Blick bemerkte, faltete sie geschwind die Hände und tat, als würde sie beten.

»Dein Vater ist schwermütig geworden«, sagte sie einige Tage später zu Jakob, »er will mir nichts sagen, aber etwas ist vorgefallen, das kann ich deutlich spüren. Versuch du, dass er sich dir offenbart! Ich möchte wieder so mit ihm leben wie zuvor.«

Jakob brauchte nicht zu fragen, denn der Vater zog ihn bald darauf ins Vertrauen. Er wisse, dass er in nicht allzu ferner Zukunft wohl erneut vom Hof geholt werden würde. Der Graf bereite einen Feldzug gegen die aufsässigen Bauern aus dem Norden vor. Und sein Plan sei es, nicht nur seine Ritter gegen sie zu schicken, sondern auch seine eigenen, ihm treu ergebenen Bauern. Dies würde die Aufrührer in Schwierigkeiten bringen, denn damit würden sie nicht rechnen!

Die Frage, woher er das wisse, wollte der Vater nicht beantworten. »Du musst vorsichtig sein im Dorf!«, sagte er nur. »Ich möchte nicht, dass du Dinge herumerzählst, die uns in Schwierigkeiten bringen. Und dass du ein loses Mundwerk hast, ist ja wohl schwerlich zu leugnen …«

Ja, mein verehrter treuer Leser, damit hatte der Vater wohl recht! Zum einen mit dem, was das lose Mundwerk betraf, zum anderem mit dem, was er über die Kriegspläne des Grafen zu berichten wusste. Denn es traf zu, dass den aufbegehrenden Bauern und ihren immer lauter werdenden Forderungen nach mehr Recht und Gerechtigkeit mit herkömmlichen Mitteln nicht beizukommen war. Überall machten sie Schwierigkeiten, mancherorts stellten sie sogar eigene Heere auf und marschierten gegen die Höfe, Schlösser und Burgen. Und sie schlugen sich nicht schlecht dabei, obwohl sie doch keine Erfahrungen mit Waffen besaßen, deren Besitz ihnen strengstens verboten war. Da war guter Rat teuer! Aber noch, so kann ich Euch beruhigen, war das Schlachtgetöse in weiter Ferne. Etwas ganz anderes sollte stattdessen schon sehr bald Jakobs Leben von Grund auf verändern.

*

Was der Vater berichtet hatte, nämlich, dass edle Ritter gegen Bauern zu Feld zogen, wollte Jakob gar nicht gefallen. Vermutlich wird es Euch, mein verehrter Leser, durchaus ähnlich gehen, der Ihr Euer Bild über diese Edelsten der Edlen in Büchern geformt habt wie dem, das Jakob nun endlich wieder einmal zur Hand nahm. Erec blickte jetzt zu der schönen Enite hinüber und das half ihm, kräftig zuzuschlagen, denn dadurch verdoppelten sich seine Kräfte, so las er. Auf den Helm hieb er dem Gegner entschlossen seine Würfe, und obwohl die Würfe des anderen die besten waren, die kein Gegenspieler gebrauchen kann, half es diesem, daß er ihn keinen Augenblick mit Schlägen verschonte, und eine Zeitlang war er durch diesen Eifer im Vorteil, bis er das Spiel schließlich dennoch verlor und besiegt vor ihm zusammenbrach.

Erec riss ihm den Helm herunter, als wolle er ihn erschlagen, wäre jener nicht bereit gewesen, um Gnade zu bitten. »Bei allem, was dir heilig ist – erbarme dich meiner, edler Ritter, ehre mich durch alle Frauen, lass mich am Leben und bedenke, daß ich dir, du tapferer Mann, solch tiefes Leid nicht zugefügt habe. So magst du mich wahrlich am Leben lassen«.

Erec erwiderte: »Das meint Ihr doch nicht ernst? Ihr hattet die feste Absicht, mich zu töten, Ihr kämt zu glimpflich davon! Mit Eurer Siegeszuversicht und Eurem gewaltigen Hochmut. Ihr hättet doch auf mein Leben in diesem Kampf nichts mehr verwettet! Gott hat mir aber das Glück gewährt, daß die Rollen vertauscht wurden. Ich kann jetzt leicht darauf verzichten, um mein Leben zu feilschen. Es wäre nur gut für Euch, wenn Ihr mir gegenüber nicht gar so anmaßend gewesen wärt. Euer Hochmut hat Euch nun zu Fall gebracht und ins Verderben gestürzt.«

Da sagte der Ritter: »Wenn Euch je Leid zugefügt wurde durch meine Schuld, dann bedauere ich das. Ich aber wurde durch Eure Tapferkeit hier und heute für meine Schuld nachdrücklich zur Rechenschaft gezogen. Lasst Euch nun dazu bewegen, mein Leben zu schonen.«

Da erbarmte sich Erec und sagte zu dem Ritter: »Ich lass Euch am Leben – Ihr hättet mir das nicht gewährt.«

Es gab keinen, der sich nicht über Erecs Sieg gefreut hätte: Alle bei Hofe rühmten seine Tapferkeit. Ihm zu Ehren feierte man ein prächtiges Fest. Herzog Imain nahm Erec die Waffen ab, in ihren Schoß bettete ihn die edle Enite zur Ruhe nach dem Kampf. Groß war ihre Schüchternheit wie bei allen jungen Mädchen. Sie sprach nicht viel mit ihm, denn so sind sie alle, zuerst ganz verschämt und schüchtern wie Kinder. Allmählich merken sie dann, was ihnen gefällt und was sie gern möchten, was ihnen zunächst undenkbar scheint, und so nehmen sie es sich.

Jakob legte die Buchseiten aus der Hand. Was er hier soeben über junge Mädchen erfahren hatte, gab ihm zu denken. Sie bettete ihn in ihrem Schoß? Würde das Mädchen dies auch für ihn tun, wenn er einen Ritter im Kampf besiegt hätte? Seit zwei Monden hatte er sie schon nicht mehr gesehen, dafür jedoch manch duftenden Strauß an der Stelle ihrer Begegnungen vorgefunden – und nicht nur das: Er besaß nun auch ein Haarband, eine Schreibfeder und ein Stück Pergament, das sie für ihn abgelegt hatte.

Und Begina, was hatte sie von Jakob erhalten? Nun, er hatte sich dann doch entschlossen, ihr als Gaben darzubringen, was ihm selbst von Bedeutung war. So hatte er eine Sichel, einen hölzernen Trinkbecher und einen Bindfaden hinterlegt, den er als Hosenhalter zu benutzen pflegte. Und sie hatte – wie es schien – alles gefunden und genommen.

Aber in den letzten Tagen war Jakob nicht mehr zu dem Ort gegangen, zum einen, weil es unaufhörlich geregnet hatte und der Boden so aufgeweicht war, dass er vermutete, dass sie nicht mehr zum Kräutersammeln geschickt wurde. Und zum anderen gab es eine andere Person, die seine Aufmerksamkeit erforderte, der die Unwetter jedoch gut zu bekommen schienen. So gut sogar, dass sie die meiste Zeit des Tages wach war und sich sogar in ihrem Bett aufrecht setzte. Ja, die Rede ist von der Mutter, Jakobs leiblicher Mutter, der es plötzlich so gut ging wie seit Jahren nicht! Um sich aus dem Bett zu erheben, dafür war sie natürlich zu schwach, aber sie saß und überblickte das Zimmer, verfolgte mit ihren Augen alles und schien rege teilzunehmen am Leben der Familie.

Und nach einigen Tagen begann sie sogar zu sprechen! Diesmal nicht über die Heilige Jungfrau und was diese ihr offenbart hatte, sondern über Jakob. Über die Zeit vor Jakob. Über den Vater. Und über sich selbst.

Der Vater habe sie zum Weib genommen, als er selbst noch ein halbes Kind war, kaum älter als Jakob jetzt, erzählte sie. Und sie war ebenfalls jung, wie alt, vermochte sie nicht zu sagen. Es gab niemanden, der das wusste, seit der Grundherr ihre Geschwister verkauft hatte an einen anderen Hohen Herrn, nachdem ihre Eltern auf dem Feld vom Blitz erschlagen worden waren und sich niemand mehr um die Kinder kümmern konnte. Sie selbst hatte sich versteckt, unwissentlich zwar, aber sie war nicht auffindbar gewesen. »Ich liebte schon immer die Brombeeren«, sagte sie, »wenn sie reif sind, wäre es schön, du brächtest mir welche …« Ja, sie war im Wald auf der Suche nach Brombeeren, als ihre Geschwister geholt wurden. Dass sie fehlte, schien niemandem aufzufallen, sie wurde nicht vermisst.

Als sie aus dem Wald zurückkehrte zum elterlichen Hof, fand sie niemanden mehr vor. So setzte sie sich also auf die Türschwelle und wartete.

»Ich musste eingeschlafen sein, ohne es zu merken!«, sagte sie und sah Jakob an, der auf ihrer Bettkante saß und über das staunte, was er gerade erlebte: So viel hatte er die Mutter noch nie sprechen hören. Er war so versunken, dass ihm entgangen war, dass man ihn mit ihr allein gelassen hatte: Die neue Mutter hatte die übrigen Kinder in den Stall gebracht und versorgte dort mit ihnen das Vieh. »Und auf einmal tippte mir jemand auf den Kopf und sagte, es sei Zeit zu gehen«, fuhr die Mutter fort und machte ein Gesicht, als wundere sie sich heute noch darüber. Der sie berührt hatte war der Vater, der damals natürlich noch nicht der Vater war, sondern selber ein Kind an der Schwelle zum jungen Mann, und der sie ohne weitere Erklärung bei der Hand nahm und mit ihr fortging.

Sie gingen lange, der Mutter erschien es, als wären es Wochen oder gar Monate, es war aber nur ein halber Tag. Dann erreichten sie den Hof, wo der Vater lebte. Es war dieser Hof. Man hatte dort von dem Unglück der Familie gehört und nahm das Mädchen als Magd.

»Es war alles fremd und andersartig, und es war alles schön«, sagte sie lächelnd, »denn er war da! Immer wenn ich ihn sah, fühlte ich mich leicht wie ein Vogel. Manchmal schaute ich insgeheim nach, ob mir Flügel gewachsen waren. Es lebten noch viele weitere Menschen dort, ich kann sie gar nicht alle erinnern. Aber nur er war es, der sich meiner annahm. Er sorgte dafür, dass ich genug zu essen bekam, dass ich einen Schlafplatz erhielt und warme Kleidung.«

Es gab jedoch einen Schatten in ihrem neuen Leben, der sich hin und wieder über sie legte wie eine nasse, kalte Decke. Es war die Alte, die Großmutter des Vaters, die sie böse anstarrte, wann immer sie ihr über den Weg lief. Sie machte keinen Hehl daraus, was sie von dem Mädchen, das Magdalena hieß, hielt: Ihre Familie sei verflucht, jeder in der Gegend wisse das! Der Blitz, der ihre Eltern erschlug, sei vom Herrn im Himmel auf sie geschleudert worden. Und nun mache sich der Fluch auch auf diesem Hof breit! Immer wenn die Alte solche Dinge sagte, führte der Vater Magdalena fort und sagte ihr, sie brauche keine Furcht zu haben, denn er würde sie behüten.

Es kam jedoch anders – es war Magdalena, die ihn behütete, indem sie ihn vor einem elenden Ende bewahrte! »Ich fand ihn eines Tages tief im Wald, er lag am Boden und wimmerte nur noch schwach«, sagte die Mutter und sah Jakob bei der Erinnerung daran erschrocken an. »Sein rechter Fuß steckte in einer Bärenfalle, überall um ihn herum war Blut, der weiße Knochen ragte heraus. Er war kaum noch bei Sinnen.« Magdalena erkannte sofort, dass es ihre Kräfte übersteigen würde, ihn aus der Falle zu befreien. Also rannte sie zurück zum Hof und holte Hilfe herbei.

Der Vater hatte dann viele Tage lang hohes Fieber, lag auf seiner Strohmatte, schwitzte und phantasierte. Er redete von Geistern, Ungeheuern und Menschen fressenden Mönchen. Magdalena wickelte ihn in feuchte Tücher, wechselte den Verband am Fuß und träufelte ihm Wasser auf die rissigen Lippen. Das tat sie, bis er wieder genesen war und am Tag darauf verkündete, dass er Magdalena zum Weib nehmen würde. Es gab keinen Widerspruch – bis auf einen: Die Alte zeterte, dass die neue Frau des Teufels sei, dass ein Fluch auf ihr laste: Sie würde nicht mehr als ein einziges Kind gebären, und dieses würde großes Unglück über alle bringen!

Und dann starb sie, während sie drohend die Faust gegen Magdalena schwang.

Die Hochzeit wurde vollzogen, und schon bald wollte es das Schicksal, dass der Vater zum Herrn des Hauses wurde, denn auch seine Eltern verstarben und sein Bruder zog davon, da nur der Erstgeborene den Hof erbte, wie es Sitte war.

Nachdem sie in ihrer Erzählung so weit gekommen war, schlief die Mutter ein. Ebenso wie Jakob, in dessen Kopf sich das eben Gehörte mit wirren Träumen mischte. Dass der Vater später hinzutrat und ihm mitteilte, er müsse ins Dorf, wo der Fluss über die Ufer getreten sei und jeder Mann gebraucht würde, hörte er nur wie aus weiter Ferne. Als die Mutter nach einigen Stunden wieder die Augen öffnete und ihren Blick auf Jakob richtete, fuhr sie fort, als hätte sie nie unterbrochen: »Und dann setzte irgendwann ein Unwetter ein, genau zu der Zeit, als ich dich erwartete! Ich lag auf dem Boden und hoffte auf dein Erscheinen, als ein gewaltiger Donnerschlag das Haus erzittern ließ und die Kerze ausblies. Du glittest aus mir heraus – und gleichzeitig sah ich die Geister des Waldes durch die Wand hereinkommen. Sie sahen gar nicht schrecklich aus und waren auch nicht böse zu mir …«

Die Mutter schwieg einen Moment, während Jakob sie mit angehaltenem Atem ansah. Nein, fuhr sie fort, die Geister hätten sie freundlich aufgefordert, ihnen in den Wald zu folgen. Erst als sie sich weigerte, seien ihre freundlichen Mienen zu furchterregenden Fratzen geworden, und als sie sich ihr näherten, um sie zu packen, wurde die Tür aufgestoßen und der Vater kam herein. Gleichzeitig hatte ein Blitz den Raum erhellt und die Mutter war in jenen langen Schlaf gefallen, aus dem sie künftig nur noch selten erwachen sollte.

»Und jetzt?«, fragte Jakob, »hat der Schlaf jetzt ein Ende?«

Die Mutter legte eine Hand in seine und lächelte glücklich zu ihm hinauf, während ein erneuter Donnerschlag das Haus erzittern ließ und die Kerze erlosch. Jakob spürte, wie der Griff der Mutter schwächer wurde und ihre Hand aus seiner glitt. Und auch, als ihr Atem nicht mehr ging, sah sie ihn noch unverwandt an.

*

Jakob wachte die Nacht hindurch am Bett der toten Mutter und dann auch noch den folgenden Tag, bis Wind und Regen schwächer wurden, als hätten sie ihre Pflicht erfüllt. Dann erhob er sich, holte das Buch aus dem Stall und ging übers Feld. Die letzten Regentropfen vermischten sich mit seinen Tränen. Als er die Stelle erreichte, wo der Weg zum Kloster abzweigt, wartete dort Begina auf ihn.

Jakob ließ sich neben ihr nieder, sie bettete seinen Kopf in ihrem Schoß und trocknete seine Tränen. Du hast genug geweint, vergeude nicht all deine Tränen an diesem Tag. Es werden noch weitere kommen, an denen du sie brauchst. Aber du sollst wissen: Es ist nicht das Ende, wenn ich fortgehe, was schon bald sein wird. Denn ich werde dich finden, und du wirst mich finden, so wie wir uns schon einmal gefunden haben.

Jakob blickte in ihr Gesicht, das dicht über dem seinem schwebte. Dann schloss er die Augen und eine unendliche Müdigkeit senkte sich über ihn.

Als er erwachte, war Begina fort.

*

Zu meinem großen Bedauern, mein verehrter, treuer Leser, muss ich muss Euch mitteilen: Es waren zunächst andere, die Jakob fanden. Es waren zwei Reiter, sie sahen Jakob über das Feld herankommen, als sie eben vor dem Haus von ihren Pferden stiegen. Der Vater hatte das Hufgetrappel vernommen und war vor die Tür getreten. Bevor er etwas sagen konnte, zeigte einer der beiden Reiter auf Jakob. »Ist dies dein Sohn? Ist sein Name Jakob?«

Der Vater nickte erstaunt, was die Männer dazu veranlasste, schnellen Schrittes auf Jakob zuzugehen, ihn jeder von einer Seite zu packen und ihm Folgendes mitzuteilen: »Der Rat der Stadt hat beschlossen, dich in die Schule der Narren aufzunehmen, denn dein Ruf als Witzbold hat sich herumgesprochen. Wenn du die Erwartungen erfüllst, wirst du vielleicht schon bald als einer der Stadtnarren die Menschen zum Lachen bringen. Und wenn nicht – nun, dann wird sich eine andere Verwendung für dich finden, da sei gewiss …« Der gesprochen hatte, hielt unversehens ein Tau in der Hand, das er Jakob um die Hüfte schlang, während der andere lauthals lachte und wiederholte: »… da sei gewiss!«

»Er wird wohl noch andere haben, die ihm bei der Arbeit zur Hand gehen!«, riefen sie zum Vater, der sprachlos zusah, wie die Männer auf ihre Pferde stiegen und mit Jakob im Schlepptau davonritten – ganz genau so, wie es vor gar nicht langer Zeit ihm selbst ergangen war.

Die Stunde der Narren

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