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»Wo muss ich die Leiter hinstellen, um dich zurückzuholen?«

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Der Moment des Abschieds ist gekommen. Ein beklommener Moment. Andrea hasst Abschiede. Und diesmal ist es ein Abschied für immer. Wir stehen uns am Valentinstag 2017 im schmalen Flur ihrer Wohnung in Röcken gegenüber. Nur spärlich dringen Sonnenstrahlen von draußen in den dunklen, ziegelrot gestrichenen Flur, in dem verstreut die Schuhe von Andreas kleinen Töchtern Nele und Mia liegen. Neben der Garderobe mit den Anoraks stehen der Schulranzen von Nele und die Kindergartentasche von Mia.

Ein vertrautes Gespräch geht nach zwei Stunden zu Ende. Und zu Ende gehen damit vierzehn Monate, die wir uns nun persönlich kennen. Der Journalist und die Totkranke. Wir schauen uns in die Augen. Eigentlich würde man jetzt »Auf Wiedersehen!« sagen oder »Tschüss!« oder auch »Bis zum nächsten Mal! Bleib gesund.« Doch jetzt und hier ist alles anders. Die Zeit friert für Sekunden ein. Nie mehr werde ich diese schlanke junge Mama, die lässig an der Flurwand lehnt, wiedersehen. Wie so häufig trägt sie ihr Halstuch mit den Schmetterlingen. Ausgerechnet der Schmetterling, habe ich einmal philosophiert, der frei sein kann und so unschuldig ist wie schön. Nie mehr, schießt es mir durch den Kopf, werde ich mit ihr in der gemütlichen Küche sitzen und beobachten, wie sie ihre Hände um die wärmende Tasse Tee schließt, während wir stundenlang reden – über sie, über ihre Krankheit, über ihre Ideen, über ihre Töchter, über Gott und die Welt.

An der Wand im Flur hängt ein liebevoll gemaltes Bild. Andrea hat es sich ausgedacht. Es zeigt die farbigen Fußabdrücke von ihr und Nele und Mia, es gleicht einer glücklichen und friedlichen Hasenfamilie, die immer zusammensteht, was auch kommen mag. »Die übergroße Hasenmama mit angeborenem Beschützerinstinkt, daneben die unschuldigen Hasenkinder, ganz eng an ihre Beschützerin gekuschelt. Welches Bild beschreibt uns besser?«, hat Andrea es einmal kommentiert.

Die Farben glitzern, so bunt wie das Leben in all seinen Facetten. Ein Regenbogen. Auf dem Bild steht: »Endless Love«. Andrea und Nele und Mia: eine endlose Liebe, die nie vergehen wird, was immer auch passiert.

»Weißt du, was Nele vorhin zu mir gesagt hat? Sie bat mich: ›Mami, nimm bitte ganz viele T-Shirts mit hinauf in den Himmel und wirf sie mir dann herunter. Denn dann weiß ich, dass du gut angekommen bist. Und ich weiß, wo ich die Leiter hinstellen muss, um dich zurückzuholen.‹«

Ein Satz, wie gemacht für eine Schlagzeile. Emphatisch und emotional. Andrea spricht viele solcher Sätze. Sie weiß: Ich bin Reporter. Einer, der beobachtet und fragt und aufschreibt. Doch längst spielt der Beruf keine Rolle mehr. Egal, ob Reporter oder Heilerziehungspflegerin – wenn die letzten Tage angebrochen sind, wird all das zur Nebensache. Andrea redet frei von der Leber weg, ohne Vorbehalte, ohne Schere im Kopf. Ohne sich zu fragen: Um Gotteswillen, was habe ich jetzt bloß gesagt? Und ich behalte mehr im Hinterkopf, als in mein rotes, quadratisches Büchlein passt. Da ist auch dieses gewachsene Vertrauen, das uns seit über einem Jahr verbindet. Ich bin nicht mehr nur der neugierige Journalist, sondern inzwischen ein guter Freund, ein Vertrauter, der zum »Schnattern« kommt, wie sie es immer salopp nennt, wenn wir uns treffen und reden.

»Ich werde mich umhören«, verspreche ich und breche das Schweigen. Sie hat mich zuvor noch einmal eindringlich gebeten, öffentlich nach weiteren Krebs-Spezialisten zu fahnden. Kliniken zu finden, die ihr noch eine Chance auf Weiterleben, auf ein bisschen Zeit geben können. Es geht ihr um Aufschub. Als sie mich darum bat, blitzten ihre Augen hellwach auf. Ein Aufflackern ihrer letzten Lebensenergie, die längst auf Sparflamme läuft. Damit es noch reicht für das Allernötigste.

Ich gebe ein Versprechen, das ich aber nicht werde halten können.

»Klasse, darüber freue ich mich! Abgemacht!«, sagt Andrea zufrieden. Als ginge es um eine Alltagsfrage, die wir besprochen und gemeinsam abgehakt hätten. Als könnten wir etwas ändern, was längst nicht mehr zu ändern ist.

»Es ist wieder lang geworden heute«, sage ich. »Jetzt kannst du dich ausruhen!«

»Ausruhen?«, erwidert sie und verzieht das Gesicht. »Ausruhen kann ich noch lang genug! Meine Uhr ist eingeschlafen.«

Wir umarmen uns zum Abschied. Sie gibt mir ihre Hand, ein zarter Händedruck. Ihr fehlt einfach die Kraft.

Ich schlucke und will schnell die Situation beenden, ehe mir die Tränen kommen. Ich drehe mich weg, eile die dreizehn steilen Stufen hinunter. Andrea folgt mir zwei Schritte und bleibt dann stehen. An der Haustür hebe ich kurz die rechte Hand zu einem letzten Gruß. Andrea winkt zurück. Sie ruft leise: »Bis bald!« Und: »Mach’s gut!«

Ich antworte knapp und verlegen: »Tschüss!« Und füge noch hinzu: »Du hörst von mir! Auf jeden Fall! Bis bald!«

Dann atme ich die kalte Februarluft ein und genieße kurz die Wintersonne, die schon beginnt zu wärmen. An der Hofeinfahrt blühen Schneeglöckchen. Der Frühling, merke ich, kann nicht mehr weit sein.

In meiner Fototasche ertaste ich die selbstge­brannte DVD. Mit Andreas Abschiedsvideo, vorgesehen für ihre Trauerfeier. Andrea hatte sie mir vorhin in der Küche noch zugesteckt.

Andrea – Briefe aus dem Himmel

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