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»Alles muss fertig sein, ehe ich nicht mehr da bin.«

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Ein ruhiger Morgen im März 2016. Meine journalistische Routinearbeit beginnt wie jeden Tag mit der Suche nach Geschichten, die anders sind: kurios, tragisch, aufregend, mit oder ohne Happy End. Die für eine bundesweite Leserschaft taugen. Und die aus meiner Region kommen – aus Thüringen, Sachsen oder Sachsen-Anhalt.

Jahrzehntelang als Boulevardreporter unterwegs zu sein hinterlässt jedoch seltsame Spuren. Nach Berichten über langweilige Vereinsfeste, Jubelkommentaren zu endlich schlaglochbefreiten Straßen und einem Porträt über einen ehemaligen, fünfundsechzigjährigen Kommunalpolitiker greife ich schließlich zu einem Trick auf Facebook, der mir in letzter Not schon oft weiterhalf. In die Suchleiste gebe ich ein: »Hilfe für …«. Und siehe da: »Hilfe für Familie Bendrick« erscheint. Betroffen wie angezogen lese ich weiter: Die junge Mutter Andrea aus Röcken in Sachsen-Anhalt ist schwer an Krebs erkrankt. Für sie gibt es keine Heilung mehr, die Schulmedizin ist an ihre Grenzen gestoßen, die Ärzte haben ihre Genesung ausgeschlossen.

»Ich ertappe mich, wie beherrscht ich trotz allem bin«, sagt Andrea, als wir uns später treffen.

Sie wolle ein Haus ausbauen für die ganze Familie und suche dafür Unterstützung. Eine Mammutaufgabe, ein finanzielles und logistisches Fass ohne Boden. Hilfe für die gründliche Sanierung eines ehemaligen Bauernhofes, für das Einrichten von Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und zwei Kinderzimmern. Damit alle an einem Ort, unter einem Dach zusammenleben können: die kleinen Töchter Nele und Mia, der Onkel der Kinder, die Großeltern. Planen für den Ernstfall, wenn Andrea ihre Familie für immer verlassen muss. Andreas Töchter sollen sich weiter gut aufgehoben fühlen, in den Armen ihrer Familie.

Mehr als achthundert Unterstützer gehören der Seite inzwischen an – eine stattliche Zahl an Helfern. Ich weiß sofort: Das ist die richtige Geschichte für mich! Schon oft in der Vergangenheit konnte ich dank der Zeitschriften, für die ich als freier Journalist arbeite, tatsächlich helfen.

Ich klicke auf den Button »Nachricht senden« und schreibe ein paar kurze Zeilen, meinen Namen, für wen ich arbeite, meine konkrete Bitte.

Eine Antwort folgt prompt vom Administrator der Hilfe-­Seite. Er ist Andreas Cousin. Von ihm erfahre ich auch ihre Handynummer. Andreas Stimme klingt hocherfreut, hell und aufgeregt. Sie antwortet auf meine Bitte um einen Termin: »Ich freue mich riesig! Wir brauchen ja noch jede Menge Hilfe, jede Hand, jeden Cent, jede Idee, jeden Einfall. Vor einem knappen Monat erst, an Ostern, sind wir hier in Röcken eingezogen, eher notdürftig, auf eine offene Baustelle. Das hat mich für den Moment erst einmal beruhigt. Endlich ein Dach über dem Kopf an dem Ort, wo wir alle harmonisch miteinander auskommen wollen. Was wir uns alle wünschen. Denn diese erste Etappe wollte ich unbedingt schaffen, sie auf jeden Fall noch erleben. Meinen kleinen Prinzessinnen Nele und Mia eine Heimat geben, ein wohliges Nest für ihre Zukunft bauen, indem sie behütet erwachsen werden können, ohne Not. Ich weiß ja nicht, wie lange mein Körper die Strapazen noch erträgt. Alles muss fertig sein, ehe ich nicht mehr da bin.«

Der letzte Satz sitzt. Er frisst sich unter die Haut. Bei diesem Gespräch sagt sie ihn zum ersten Mal. Später wird ihn Andrea häufig wiederholen, in verschiedenen Zusammenhängen. Geradezu vor sich herbeten wie ein Mantra. Vielleicht, um damit genau das Gegenteil zu erreichen. Denn Andrea will bleiben. So aktiv sein, wie es ihr Zustand ermöglicht. Und vor allem darüber hinaus. Über ihren Tod hinaus. Sie wollte noch nicht gehen, so jung, in der Blüte ihres Lebens. Was sind denn dreißig Jahre! Mit der Verantwortung für zwei kleine Töchter, die sie abgöttisch liebt und die wiederum an ihrer Mama hängen, wie zwei Knospen an einer Blüte, und sie nicht gehen lassen wollen. Natürlich nicht.

»Hoffen wir, dass es mir zu unserem Termin gut geht und wir uns länger unterhalten können«, wünscht sie sich. »Du ahnst ja sicherlich, der verdammte Krebs, der ist unberechenbar und macht oft einen Strich durch die Rechnung. Jede Planung wird über den Haufen geworfen, es gibt keine Alltagsroutine mehr. Denn manchmal kann ich nicht aufstehen, kann mich nicht mehr bewegen, muss im Bett bleiben, weil mich die Schmerzen quälen. Mein ganzer Körper brennt, als sei er mit Benzin übergossen und angezündet.« Andrea berichtet das völlig unaufgeregt. Es ist ihr Alltag. Seit Monaten kennt sie es nicht mehr anders.

»Aber jetzt steht ja der Frühling vor der Tür. Wenn draußen die Vögel munter zwitschern und die Knospen knallen, haben wir doch alle bessere Laune. Eine gefühlte Verschnaufpause für trübe Tage.«

Unsere erste Verabredung steht – für den 14. April 2016, um 15.30 Uhr, Kaffeezeit. Ich bin gespannt und neugierig. Und bereits nach dem ersten Telefonat beschleicht mich ein Gefühl sonderbarer Vertrautheit. Ich bin mir sicher, hier steckt mehr dahinter als eine gewöhnliche Schicksalsgeschichte.

Andrea hingegen, die alle Möglichkeiten nutzt, um Hilfe zu erhalten, denkt nach unserem ersten Gespräch: Ich lasse ihn mal kommen. Mal sehen, was er erreichen kann. Mit der Presse muss man vorsichtig sein. Vielleicht gehört er auch zu denen, die mehr versprechen, als sie letztlich halten.

Ihre Gedanken vertraut sie mir aber erst viel später an.

Andrea – Briefe aus dem Himmel

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