Читать книгу Andrea – Briefe aus dem Himmel - Karsten Kehr - Страница 7
»Meine Briefe sind eine Mischung aus Erinnerungen, Erfahrungen und Entscheidungen. Eine Autobiografie mit Ausblick.«
ОглавлениеBriefe? Was für Briefe, will ich wissen.
»Zu jedem Geburtstag werden Nele und Mia liebe Zeilen von mir erhalten«, erklärt Andrea. »Bis sie erwachsen sind, jedes Jahr. Meine letzten Zeilen erreichen sie zu ihrer Hochzeit und zur Geburt ihrer ersten eigenen Kinder. Wenn ich Schwiegermutter und Großmutter werden würde.«
Mir fehlen die Worte. Dann frage ich: »Du bist eine Autorin, die für ihre kleinen Töchter schreibt. Habe ich das richtig verstanden?«
»Das bin ich nicht.« Andrea winkt ab. »Schriftsteller halte ich für Tagträumer. Sie sitzen den ganzen Tag am Tisch und denken sich Geschichten aus. Arme Poeten. Bei mir ist das ganz anders.«
Andrea denkt pragmatisch. »Meine Geschichte schreibt das Leben selbst. Ein abgedroschener Spruch, ich weiß. Wahr bleibt er dennoch. Meine Briefe sind eine Mischung aus Erinnerungen, Erfahrungen und Entscheidungen. Eine Autobiografie mit Ausblick. Denn nur das Herz kennt Welten, die der Verstand nie erreicht.«
Ich staune immer mehr.
»Klingt es vermessen, wenn ich sage, dass ich eine Mutter sein möchte, die auch nach ihrem Tod für ihre geliebten Kinder weiterlebt? Die etwas Zeitloses schafft, um irgendwie zu bleiben? Die ihre Ängste und Sorgen auch dann noch mit ihnen teilt, wenn alles vorüber ist? Zwar irgendwo jenseits meiner Töchter zu sein, aber den beiden dennoch sehr nah? Die Briefe aus dem Himmel schreibt? Ist ein solches Gefühl erlaubt oder schmerzt es mehr, als es verbindet?«
Andrea blickt mich fragend an. Sie will mit mir darüber diskutieren.
»Das ist grandios«, stottere ich etwas hilflos. Dann fällt mir der Roman von Cecilia Ahern ein, P.S. Ich liebe dich. Die anrührende Geschichte eines jungen Paares aus New York, das viele gemeinsame Pläne und Träume hat. Sie zerbrechen an einem Hirntumor. Das Leben ist zu Ende, ehe es richtig beginnt. Und der Partner hinterlässt unzählige Briefe an seine große Liebe. Ich denke an die Hollywood-Verfilmung mit Hilary Swank und Gerard Butler. An die Tränen, die meine Frau Sylvia und ich im Kino vergossen haben. An die stundenlange Diskussion, die wir anschließend führten. »Was, wenn uns das widerfährt?«, haben wir uns gefragt. Aber das Drama ist weit weg und schnell wieder vergessen, wenn es nur von der Leinwand flimmert.
Jetzt sitze ich Andrea gegenüber. Sie ist keine Figur in einem Roman. Ihr widerfährt es im wirklichen Leben. Und sie hat eine Lösung für die Zeit danach gefunden, eine Idee, die fortbesteht. »Neben den Briefen erhalten meine Töchter kleine Geschenke, die meisten sind selbst gebastelt, andere habe ich im Internet ausgesucht und bestellt. Passend zu ihrem jeweiligen Alter gibt es eine Überraschung, die auch nach Jahren noch von Mama aus dem Himmel kommt. Wenn Nele und Mia in Schule und Kindergarten waren und ich aufstehen konnte, habe ich mich ans Werk gemacht. Heimlich. Sobald Nele und Mia aus dem Haus waren, fand ich auch die Muse, zum Stift zu greifen und über alles nachzudenken. Über mein gesamtes Leben, ein Zeitraffer, echtes Kopfkino. Ein Film, der in mir abläuft, manchmal mit Wiederholungen, manchmal schnell vorgespult, manchmal in Slow Motion. Freunde aus der Kindergartenzeit, der Schule, kehren in die Erinnerung zurück. Fröhliches Lachen, Unsinn und Unfug, Abenteuer und traurige Besinnung. Wertvolle Erfahrungen, die ich in der Zeit sammelte, die ich meinen beiden Töchtern voraus bin. Erfahrungen, die ich an meine Töchter schriftlich und zum jeweils richtigen Zeitpunkt weitergeben kann. Dabei stellte ich fest: Mein Leben, mit drei Jahrzehnten nicht mehr als ein Drittel einer durchschnittlichen Lebensdauer, war reich und ausgefüllt. Ich erlebte mehr als manche Hundertjährige.«
Andrea spricht nicht verbissen, sie macht sich keine Vorwürfe.
Es sind neun Briefe, die Nele erhalten wird. Den letzten Geburtstagsbrief kann sie in ihren Händen halten, wenn achtzehn Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen stecken. Mia bekommt dreizehn Umschläge in den kommenden fünfzehn Jahren, die Mamas liebe Zeilen enthalten. Und dann werden die Mädchen einen Brief von Mami im Briefkasten finden, wenn sie längst junge Frauen geworden sind. Wenn sie den richtigen Mann fürs Leben gefunden haben und ihre ersten Kinder zur Welt kommen. Wenn Mutter Andrea eine fürsorgliche Großmutter geworden wäre. Sie wird ihre Enkel nicht, wie tausende andere Omas, an sich drücken und ihnen in tiefer Liebe alles durchgehen lassen können.
Andrea lächelt zufrieden. Sie fühlt eine tiefe Demut. Ihre Tasse stellt sie kurz ab, streicht bedachtsam mit ihren langen, schmalen Fingern zwei Brötchenkrümel vom Tisch. Sie schaut abwesend in die Mitte des Raums, während sie ihr Tuch um den Hals sanft geradezupft. Andrea ist stets geradlinig und geradeheraus. Sie hält nicht hinterm Berg.
»Manchmal habe ich mehrere Briefe an einem Tag schreiben können«, erzählt sie. »Manchmal schaffte ich auch nur zwei Zeilen und vollendete den Brief zwei Wochen später. Es kam immer auf meine Stimmung an. Regnete es draußen, wehten Stürme ums Haus, fiel es mir unendlich leichter, vom Abschied zu schreiben. Ich vermied Worte wie Tod und Sterben, vielleicht auch, um mich damit nicht abfinden zu müssen. Am frühen Morgen kamen mir die besten Einfälle, sie flogen mir förmlich zu. In den Abendstunden, wenn sich der Tag dem Ende neigt, hatte ich die klarsten Erinnerungen an früher. Es sollten keine Memoiren sein, kein Tagebuch, kein ichbezogenes Gekritzel. Vielmehr Tipps für meine Töchter, Ratschläge, Fingerzeige, Hinweise, die im Kopf bleiben und etwas bewirken. Die helfend unterstützen. Ein Lesebuch, ein Ratgeber aus erster Hand. Aus der Hand der eigenen Mama. Manchmal auch der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl. Alles zugeschnitten auf das jeweilige Alter meiner Mädchen. Wie denken sie, wenn sie fünfzehn Jahre alt sind und die Welt um sich herum nicht mehr verstehen? Wenn sie den ersten Konflikt lösen sollen? Was geht ihnen durch den Kopf, wenn sie vielleicht erste Gedichte schreiben oder aufregende Bücher lesen und romantische Filme schauen? Um das vorauszuahnen, versetzte ich mich zurück in mich selbst. Als ich gerade fünfzehn Jahre war, ein unerfahrener Backfisch, als ich romantische Schmachtfilme oder spektakuläre Thriller sah und danach vor Aufregung nicht einschlafen konnte. Weil ich mich in den Hauptdarsteller verliebt hatte oder mich die Filmmusik begeistert hatte.«
Andrea holt kurz Luft. »Schon seltsam: Beim Blick aus dem Fenster verschwand die Sonne hinterm Horizont und ich tüftelte an den schönsten Formulierungen. Wenn ich vom Papier aufblickte, sah ich auf der Fensterscheibe kondensierende Regentropfen, die sich sammelten und langsam miteinander verschmolzen. War es kälter, bildeten sich Eisblumen, richtige kleine Kunstwerke, bei Nebel liebte ich es, das Fensterglas anzuhauchen und mit meinem Finger ein Herz auf die Scheibe zu malen. Ich tüftelte an Sätzen, die Nele und Mia gern lesen und die ihnen in den Köpfen bleiben würden. Ohne den Zeigefinger zu heben, ohne belehrend zu sein. Sätze, die von ihrer Mami aus dem Jenseits, von einem unbekannten und fernen Ort, kommen, eine innige Liebe weit über den Tod hinaus. Die beiden müssen doch ihr eigenes Leben finden und gestalten. Sie müssen das gute Gefühl in sich tragen, wissen, dass ihre Mama weiter ein lebendiger Teil von ihnen ist. Obwohl ich weiß, dass das eine große Illusion ist.«
Auf dem Flur ist wieder Bewegung. Tilo ist gekommen, Andreas Vater und der Großvater der Mädchen. Nele muss, wie abgesprochen, zum Tanztraining in die benachbarte Kleinstadt gebracht werden. »Cheerdancer« nennen sich die in Hohenmölsen ansässigen Tänzerinnen, zu denen Nele schon seit Jahren gehört und mit denen sie begeistert trainiert.
Auch Mia macht mit, zeigt ihr Talent in der jüngsten Tanzgruppe. Die Chefin, Diana, ist eine gute Freundin von Andrea. Jemand, auf den man sich verlassen könne, wie mir Andrea anvertraut.
Nach Andreas Tod wird Diana sagen: »Wir waren alle auf diesen Moment vorbereitet und trotzdem trifft er uns mit voller Wucht. Aufgeben kam für dich nie in Frage, denn du wolltest leben. Du wirst mir fehlen, nicht nur als Mitglied der Tanzbande, auch als Kritikerin, treibende Kraft, aber vor allem als Freundin. Einen Platz in unseren Herzen hast du längst gefunden. Nun such dir ein tolles Plätzchen da oben aus, bis wir uns wiedersehen.«
»Nele, bist du fertig? Alles gepackt?« Tilo Bendrick spricht sehr schnell, im Dialekt des Weißenfelser Landes. Manches Wort wird verschluckt oder langgezogen oder abgekürzt. Er tänzelt ein bisschen dazu, lächelt in Richtung Enkelin. »Opa«, entgegnet Nele fast vorwurfsvoll. »Alles ist fix und fertig.«
Tilo ist groß gewachsen und schlank und hat einen schmalen Kopf. Als er »Guten Tag!« sagt und dabei kurz in die Küche schaut, sehe ich sein Gesicht. Andrea ist sein Ebenbild. Die gleichen Augen, die gleiche spitze Nase, die gleiche Kopfform. Nele schlägt auf dem Flur ein Rad. Zweihändig. Dann noch eins, diesmal einhändig. Mit vollem Schwung. Sie ist aufgedreht. Opa Tilo muss ausweichen, sich an die Wand des Flurs drücken. Sie schaut fordernd zu uns. Fishing for Compliments nennt man das wohl – wo bleibt das Lob, bitte? Andrea dreht sich ihr zu und beginnt, Beifall zu klatschen. Ich applaudiere auch. Wenig später sind Tilo und Nele verschwunden, ihre eiligen Schritte verhallen auf der Treppe. Nele redet ununterbrochen weiter. Nur langsam entfernt sich der Wortschwall, der Klang ihrer hellen Stimme. Draußen schlagen Autotüren.
Stille kehrt wieder ein.
»Willst du mal sehen, wo ich meine Briefe geschrieben habe?«
Ich bin neugierig. »Natürlich will ich das.«
Wir verlassen die Küche und gehen durch den Flur. Das zweite Zimmer links ist Neles Reich. Die Tapete knallbunt mit Graffitimotiven, davor weiße Möbel, überall Kinderbilder von ihr gerahmt an der Wand. Nele auf dem Karussell, Nele verkleidet inmitten ihrer Tanzgruppe.
Ein Globus auf dem glitzernden Schreibtisch. Die weite Welt nimmt Platz in Röcken. Elektrisch blinkende Herzen, wie leuchtende Flammen, zieren ihr Bett, die Decke ist der Union Jack, die englische Nationalflagge. »Sie liebt London, wie ich auch«, kommentiert Andrea meinen erstaunten Blick. »Eine Freundin lebt dort, mit zwei Kindern, ähnlich alt wie meine Töchter. Sie schreiben einander, fast täglich. Durch das Internet ist die Welt so klein und nah geworden. Wir sind uns zum Glück alle auf die Pelle gerückt.«
Der Raum ist unterteilt. Ich folge Andrea in Neles Ankleidezimmer. Rechts an der Wand steht ein Schminktisch. Andrea setzt sich auf den tiefen Hocker davor. Der unschuldig weiße Tisch vor der hellblauen Wand – ein Stückchen Himmel auf Erden. Andrea nimmt ein Blatt weißes Papier, einen rosafarbenen Füllfederhalter und beginnt zu schreiben. Sie ist Linkshänderin. Den Stift hält sie zwischen vier Fingern, gesichert vom Daumen. Sie blickt kurz nach unten, der Füller schwingt und federt.
»Meine liebste Nele«, steht da in blauer Tinte, »heute wirst du schon achtzehn Jahre alt.« Alle Briefe beginnen mit »Meine liebste …«. Und alle enden mit »Drückt und küss dich – deine Mami!«, erfahre ich.
Ich darf Andrea fotografieren, während sie für mich diese Zeilen notiert. Ich zittere leicht, der Autofokus rattert. Ich mache Bilder, wie sie sich konzentriert übers Papier beugt. Dann schaut sie zu mir direkt in die Kamera, mit ernstem Blick, die Stirn leicht gekräuselt, den Mund angespannt.
Andrea hat Übung im Briefeschreiben. Dutzende davon verfasste sie in den letzten Monaten.
Ich will wissen, was in den Briefen steht.
»Willst du darüber schreiben?«, fragt sie kokett. »Nele liest sehr viel, sie würde es mitbekommen. Es soll doch jedes Jahr für sie ein Geheimnis bleiben, meine Zeilen an sie, an Mia. Wenn sie die Briefe öffnet, dann als die schönste Überraschung am Geburtstag.«
Sie wirkt auf einmal unsicher. »Vielleicht verraten wir schon jetzt zu viel.«
»Wir halten den Inhalt allgemein«, schlage ich vor. Andrea lächelt befreit. Wir besprechen, was wir über sie veröffentlichen wollen.
Existenz der Briefe: ja.
Den genauen Wortlaut: nein.
Diese Abmachung gilt. Das große Geheimnis wird immer ein Geheimnis für Nele und Mia bleiben. Ein Ritual, dass sich erst an ihren zukünftigen Geburtstagen auflöst, wenn die beiden ihre Briefe von Mama öffnen. Eine heilige Zeremonie bis zur Volljährigkeit.
»Wort zu halten ist wichtig, gerade Kindern gegenüber«, betont Andrea. »Gebrochenes Vertrauen ist kaum wiedergutzumachen.«
Deshalb antworte ich: »Du kannst dich auf mich verlassen!«
Tatsächlich halte ich mich an mein Versprechen. Für Nele und Mia. Ich könnte sonst in keinen Spiegel mehr schauen!
Damals habe ich es Andrea in die Hand versprochen.