Читать книгу Andrea – Briefe aus dem Himmel - Karsten Kehr - Страница 6

»Krebs kündigt sich nicht an. Er kommt wie ein ungebetener Gast.«

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Der 14. April 2016 ist ein grau-trüber Donnerstag. Nur ab und zu blitzt die Sonne durch die tiefliegenden Wolken. Ich fahre pünktlich mit meinem schwarzen VW Käfer aus dem Leipziger Südwesten los. Bis Röcken in Sachsen-Anhalt sind es zwanzig Autominuten. Ein kurzes Stück Autobahn, dann auf der Landstraße einmal links abbiegen.

Tatsächlich – da steht »Röcken« auf einem Wegweiser. Nie zuvor hatte ich von diesem kleinen Ort im südlichen Sachsen-Anhalt gehört. Nur wenige Meter nach dem Ortseingangsschild ist die »Friedrich-Nietzsche-Gedenkstätte« ausgeschildert. Nietzsche, der große Philosoph, er wurde in Röcken geboren und liegt hier auch begraben. Ich erinnere mich an Fragmente aus meinem Studium: Er bekämpfte den Pessimismus und war Verfechter einer lebensbejahenden Grundeinstellung. Lebensbejahend, denke ich, wie passend. Mir fällt ein alter Nietzsche-Spruch ein: »An Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen.« Lieber nicht mehr helfen, wo man nicht mehr helfen kann? Aufgeben als einzige Alternative? Nietzsche, Röcken, Andrea. Ein Zeichen, ein Zufall?

Ich suche verzweifelt Andreas Adresse. Zwei Mal fahre ich daran vorbei, ohne sie zu entdecken. Es fehlt die Hausnummer. Schließlich finde ich einen kleinen Parkplatz vor einer Gaststätte, die seit langem geschlossen ist. Die Fenster sind mit Pappe verklebt, das vergilbte blauweiße Parkschild »Nur für Gäste« an der steinernen Außenwand wirkt absurd. Ich steige aus und hänge mir meine schwarze Fototasche um. Darin meine Kamera, mehrere Objektive, Notizblock und Stift. Mein Reporterbesteck.

Bis zur Hofeinfahrt von Andrea sind es keine hundert Meter. Es beginnt zu nieseln. Ich laufe schneller. Meine Tasche über der linken Schulter ist schwer, pendelt und schwenkt aus beim Gehen. Die Hofeinfahrt zu Andrea zieht sich, ein holpriger, unebener Weg. Die Kieselsteine unter meinen Schuhen knirschen. Schließlich sehe ich den alten Bauernhof. Andreas Vater Tilo hat ihn vor Jahren gekauft. Aus roten Backsteinen und mit spitzem Dach erbaut, ein mächtiges Gebäude. Die Vorderwand, der Giebel, sticht ins Auge – frisch hergerichtet und mit hellem Putz. Ein Foto davon habe ich auf der Hilfe-für-Familie-Bendrick-Seite gesehen. Autos nahezu aller Marken überschwemmen den Hof, eine Blechkarawane, so weit das Auge reicht. Von siebziger Oldie-Baujahren bis heute. Andreas jüngerer Bruder Matthias besitzt hier eine Autowerkstatt. Sie liegt Andreas Wohngebäude direkt gegenüber. Ich gehe deshalb nach links zur nagelneuen weißen Eingangstür. Sie ist unterteilt in sechs Glasscheiben und wirkt wie ein implantierter Fremdkörper mitten im uralten Gestein. Ich klingele und warte. Es dauert eine Weile, und als ich gerade überlege, noch einmal den namenlosen Klingelknopf zu drücken, höre ich Geräusche hinter der Tür. Jemand kommt eine knarrende Holztreppe hinab. Langsam, sehr langsam. Die Tür öffnet sich und Andrea steht vor mir.

»Hallo Andrea, ich bin Karsten Kehr«, stelle ich mich vor. Sie nickt, lächelt zurück und sagt knapp: »Komm bitte rein! Wir gehen nach oben, da haben wir es gemütlich!«

Wir steigen dreizehn Stufen hinauf zu ihrer Wohnung. Ich folge ihr, mein Blick streift gerahmte Familienfotos, die im schmalen Aufgang hängen.

Andrea trägt blaue Hauspantoffeln, eine rote Jeans, einen schwarzen Pullover. Ihre Haare sind kurz, ein frisch nachgewachsener zarter Flaum. Die Folgen der Chemotherapie, vermute ich. Das Laufen fällt ihr schwer, oben angekommen ist sie außer Atem. Sie nimmt sich dennoch zusammen, lehnt sich kurz an, schnauft tief durch und weist auf den Eingang zur Küche. »Die Küche ist der Mittelpunkt unserer Familie. Da können wir ungestört reden.« In den anderen Zimmern entlang des Flurs ist es lauter, denn Nele und Mia, ihre kleinen Töchter, sind zuhause.

Andrea macht für mich Kaffee, für sich Tee. »Mit Milch und Zucker?«, fragt sie.

»Ohne alles«, sage ich.

Es riecht frisch tapeziert. Durch die neuen Fenster überblickt man den weiten, geräumigen Hof. Alles wirkt nichtig und klein von hier oben, wie eine friedliche Spielzeugwelt. Ich schaue Andrea zu, einer jungen Frau, hager, drahtig, mit wachen blauen Augen, die jeden Handgriff bedächtig ausführt. Sie ist gezeichnet von ihrem dunklen Schatten, ihrer schweren Erkrankung.

»Wie bist du denn auf uns und unsere Situation gekommen?«, will sie noch einmal wissen und dreht ihren Kopf in meine Richtung. Das Wasser wird schnell heiß und brodelt. Sie übergießt ihren Teebeutel, es duftet nach Minze.

»Über eure Facebook-Seite«, antworte ich. »Ihr braucht doch Hilfe auf eurer Baustelle. Und vielleicht kann ich das durch meine Arbeit unterstützen. Öffentlichkeit hilft. Je mehr Menschen von dir erfahren, umso mehr sind in der Lage, dir zu helfen. Die beste Absicht verpufft, wenn sie keiner kennt. Wie ich es schon am Telefon sagte.«

Andrea gießt heißes Wasser in meine Kaffeetasse. Nun riecht es in der Küche nach einer Mischung aus Minze und Kaffee.

Wir sitzen uns am neuen stämmigen Küchentisch gegenüber, Andrea auf einem robusten Stuhl aus Holz, mit einer Maserung, die Jahresringen ähneln. Sie beobachtet, wie ich meinen Notizblock aufschlage und mit meiner rechten Hand die Seiten glattstreiche.

»Wie alt bist du jetzt, Andrea?«, beginne ich nüchtern zu fragen.

»Ich bin dreißig«, antwortet sie und wiederholt es zischend: »Dreißig! Dreißig Jahre!«

Sie macht eine kleine Pause. Dann sagt sie: »Ich weiß, für viele Frauen ist dreißig ein prekäres Alter. Die unbeschwerte Jugend, die Leichtigkeit des Seins, scheint vorüber. Für mich ist das okay. Drei Jahrzehnte sind doch eine lange Zeit. Wie viele Menschen werden im Zeitraum von dreißig Jahren geboren und wie viele sterben? Und wie viele müssen vor ihrer Zeit gehen? Wenn auch nicht jeder mit einer klaren Ansage wie bei mir.«

Sie wendet sich kurz ab, um mich danach wieder fest anzuschauen. »Am 21. Mai werde ich einunddreißig Jahre. In gut einem Monat. Für andere huscht das schnell vorüber, sie reden dann davon, mit flinken Schritten auf die Vierzig zuzugehen, ab sofort nur noch Ü-30-Partys besuchen zu können und sehen das als Alarmzeichen. Eine Freundin meinte mal: ›Weißt du, Andrea, bis zum dreißigsten Lebensjahr bauen dich deine kleinen Männchen im Körper auf und danach fällt der Startschuss für den langsamen Abbau. Sie legen den Schalter einfach um.‹ Das empfand ich damals als Witz. Es gibt Menschen, die merken nicht, wenn ihr Abbau beginnt. Ich habe nie meine ersten grauen Haare gezählt oder neue Falten unter einer Extraschicht Make-up versteckt. Ich gehöre zu jenen, denen ihr wahres Alter egal ist. Unser Körper ist eine Hülle, mehr nicht.«

Und nach einer nachdenklichen Pause: »Für mich hingegen bedeutet ein Monat eine unendlich lange Zeit. Meinen Geburtstag, und wenn es nur noch dieser eine sein sollte, den möchte ich unbedingt erleben.«

Mit diesem Hinweis lenkt Andrea das Gespräch selbst auf ihre schwere Krebs-Erkrankung, die inzwischen unheilbar und durch Chemotherapien höchstens noch zu lindern ist.

Ihr Leidensweg begann im sonnigen August 2013. »Zuvor hatte ich starke Kopf- und Halsschmerzen, ­fühlte mich antriebslos, niedergeschlagen, schlapp und abgespannt. Meine jüngste Tochter Mia war erst im Mai geboren worden. Auch während der Schwangerschaft fühlte ich Ungereimtheiten. Das wollte ich mir nicht eingestehen. Schwangere denken nicht an sich selbst, sie handeln nur für das ungeborene Leben. Meine eigene Gesundheit stand hintenan.«

Sie denkt kurz nach. »Weißt du, der Krebs kündigt sich nicht an. Er kommt auf leisen Sohlen. Wie ein ungebetener, aufdringlicher Gast, der auf einmal an deinem Tisch sitzt und trotz Aufforderung nicht mehr gehen will. Von diesem Moment an bist du nicht mehr allein. Die Krankheit hat sich dazugesellt und du musst verdammt aufpassen, dass sie nicht dein Leben bestimmt – wie eine lästige Sucht, der du irgendwann nicht mehr Herr wirst.«

Sie beschreibt ihre damalige Situation: »Meine Nele – sie ist sechs Jahre älter als ihre Schwester – kam gerade in die Schule. Ich sehe sie noch voller Stolz mit ihrer Zuckertüte, umringt von ihren Freundinnen, die sie aus dem Kindergarten kannte, auf dem Schulhof stehen. Also viel Freude, Trubel und Ablenkung um mich herum. Genau in dieser Phase mitten im August nach ausgiebigen Untersuchungen im Krankenhaus Weißenfels fiel meine Diagnose, die mich umwarf: Nasen-Rachen-Krebs. Auch mein mehrmaliges, erstauntes, ungläubiges Nachfragen änderte an dieser Diagnose nichts. Ich wollte es nicht wahrhaben. Dieses beklemmende Gefühl der Hilflosigkeit in diesem Moment, wenn die Worte des Arztes nur noch verzerrt ankommen – das werde ich niemals vergessen! Man möchte sich am liebsten die Ohren zuhalten, sich in den Arm zwicken, um aufzuwachen, damit der Albtraum endet. Doch er endet nicht, er nimmt erst seinen Anfang.«

Andrea schaut nach unten und umfasst ihre Tasse fester, während sie den Teebeutel in das heiße Wasser tunkt. Trotz und Verbitterung sprechen aus ihren Worten. Sie verzieht ihr Gesicht für eine Sekunde. Als würde sie sich ekeln vor sich selbst und dem gerade Gesagten. Der »Nasen-­Rachen-Krebs« geht ihr dennoch leicht und leise über die Lippen. Als spreche sie über eine lästige Erkältung, die vergessen und verschleppt wurde. Die eben zäh ist und nicht so leicht wieder verschwindet. Die aber wieder vergeht, weil alle Krankheiten in diesem jungen Alter vergehen, meistens von allein. Sie verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Jedem ist das klar, weil doch ein Organismus in den besten Jahren alles abwehrt. »Vielleicht reagierte ich ein bisschen naiv«, gibt sie heute zu.

Dann redet Andrea von einem Tumor. Als sei das eine unbedeutende Fußnote unseres Gesprächs. »Eine Geschwulst, nicht größer als mein Daumennagel, bösartig, in Nähe meines Kleinhirns«, erklärt sie. »Deshalb leider nicht operabel. Ein Herankommen war unmöglich. Meine Überlebenschance stand schlecht. Sie ging gegen Null. Die vielleicht einfachste Hilfsoption, eine Operation, fiel aus. Ich weiß, ich bin ein Pechvogel. Manchen stehen selbst in den aussichtslosesten Momenten das Glück und der Zufall zur Seite. Um mich haben beide einen großen Bogen gemacht. Das war schon immer so. Leider. Angst, Ohnmacht, das Gefühl des Alleinseins machten sich breit. Das war ich von meinem Leben davor nicht gewöhnt.«

Ausgerechnet jetzt wird es plötzlich laut. Mia steht in der Tür. Sie heult und schreit. Ein niedliches, quirliges Mädchen. »Nele hat mich geärgert«, stammelt sie und verzieht ihren Mund. »Und auch noch in den Arm geboxt!«

Andrea verstummt und blendet von einer Sekunde auf die andere die Geschichte ihrer Krankheit aus. Sie wird zur liebenden Übermutter, die alles um sich herum vergisst, außer dem Kind. »Nicht so schlimm, meine liebste Kleine«, sagt sie, während sie sich zu ihrer Tochter beugt. Schon rutscht Mia auf Andreas Schoß. Sie wird gestreichelt und liebkost, findet schnell Ruhe. Andrea küsst sie zärtlich auf die Stirn, auf die Wangen. Mia schaut ihr ins Gesicht und erwidert den Kuss ihrer Mama. Mit ihrer kleinen Hand fährt sie über Andreas ausgedünnte Augenbrauen.

»Alles ist gut!«, flüstert Andrea. Ich spüre, wie beruhigend ihre Worte wirken. Sie gehört zu den Mamas, die solche Situationen schnell regeln können, ausgleichend sind, Ruhe verordnen.

»Wenn ein Topf kurz vorm Überkochen ist, musst du ihn zügig von der Herdplatte holen. Keine Scheu haben, auch wenn man sich mal die Finger verbrennt. Das ist doch bei der Kindererziehung nicht anders?!«

Plötzlich betritt Nele die Küche, drückt sich an den Türrahmen, schämt sich ein bisschen. »Ich habe Mia nicht geboxt!«, verteidigt sie sich.

Mia wird für einen kurzen Moment lauter, ihrer Schwester wegen, beruhigt sich aber schnell. Der kleine Streit ist ruckzuck vergessen. »Das sind halt typische Schwestern«, sagt Andrea entschuldigend, während mich Nele mustert und mir, dem Fremden, ein keckes »Hallo« zuwirft.

»Wann musst du zum Tanztraining?«, wechselt Andrea geschickt das Thema.

»Erst in einer Stunde, Opa fährt mich«, antwortet Nele und wiegt sich hin und her. Sie sieht anders aus als Mia. Keine Schwestern, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen. Nele ist hochgeschossen, schmal, sportlich. Mit hellwachen Augen, die jede kleine Veränderung um sie herum erfassen und sofort auswerten. Sie besitzt Charisma. Unglaublich für eine Neunjährige, die mir überhaupt nicht wie ein neunjähriges Mädchen vorkommt.

Meinen Eindruck bestätigt mir Andrea wenig später – Nele ist längst wieder in ihrem Zimmer verschwunden –, als sie eine besondere Episode berichtet: »Nele spricht immer aus, was wir oft als Tabu ansehen. Uns Erwachsenen fehlt häufig der Mut, unangenehme Dinge unverblümt beim Namen zu nennen. Dabei darf man die Krankheit nicht verdrängen, man muss darüber sprechen, man muss das Unaussprechliche beim Namen nennen. Man muss sein Herz öffnen.

Ich erinnere mich genau, als ich im Februar 2014 von den abschließenden Untersuchungen an der Universitätsklinik Leipzig zurückkehrte. Die Ärzte hatten nach mehreren Chemotherapien, die eigentlich helfen sollten, meinen Krebs zu bekämpfen, neue Metastasen in meiner Lunge gefunden. Sie zerlegten mich quasi in Scheibchen, schoben mich durch Röhren und Apparate. Mein Krebs hatte erneut gestreut, ein riesiger Rückschlag. All die mühseligen, strapaziösen Behandlungen, das Gift der Chemos in meinem Körper, meine Kraft und mein Durchhaltevermögen, alles schien umsonst. Damals schüttelten die Ärzte den Kopf und waren am Ende ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten. Sie gaben mich auf. Als Lebenserwartung schätzten sie ein Jahr, vielleicht ein paar Monate mehr, eher ein paar Monate weniger. Das gaben sie mir mit auf den Weg.

Ich fragte mich damals voller Beklemmungen: Ein einziges Jahr noch? Das ist nur ein Frühling, ein summender Sommer, ein Herbst mit bunten Blättern und ein Winter, in dem sich meine Spur im Schnee verlieren wird. Gefühlt habe ich diese Jahreszeiten hundert Mal erlebt. Sie sind an mir vorübergegangen, ohne dass ich jeden einzelnen Tag und seine zauberhaften Veränderungen zelebriert und gewürdigt hätte.«

Ich frage: »Wird es jetzt intensiver, wenn man es nur einmal noch vor Augen hat?«

Andrea blickt mir in die Augen. Sie möchte diese Frage nicht beantworten.

»Völlig schockiert, niedergeschlagen, mit verweinten Augen und ohne Hoffnung kam ich nach Hause. Natürlich ließ ich mir nichts anmerken. Nicht vor den Kindern. Oder versuchte es zumindest, denn ich zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub.

Und da kam Nele. Sie schaute mich eindringlich an und stellte dann entsetzlich ehrlich fest: ›Mama, die haben dir mitgeteilt, dass sie dir nicht mehr helfen können, stimmt’s?‹ Nele konnte sich schon immer in andere Menschen hineinversetzen. Sie kann das besser als manch Großer.«

Wir machen eine Pause nach dem letzten Satz. Andrea ist sehr beherrscht, sie hält ihre Tränen zurück, sie ringt um Fassung. Ich schaue betreten auf den Küchentisch, auf meine Notizen. Dann nimmt sie mit starker Stimme den Faden wieder auf: »Wie verhält man sich in einem solchen Moment? Gnadenlos die Wahrheit offenbaren und damit dem eigenen Kind die letzte Hoffnung nehmen? Zur Gewissheit werden lassen, was Kinder nie für gewiss halten wollen, nämlich die eigene Mutter zu verlieren, für alle Zeit? Oder lieber schamlos lügen und alles irgendwie verdrängen? Dabei dem alten Sprichwort vertrauen: Das Leben geht doch irgendwie weiter, auch nach meinem Tod?«

Sie hält inne und knüpft mit der Frage an: »Wie würdest du dich entscheiden?«

Eine Antwort überfordert mich. Andrea musste damals eine Entscheidung in Sekunden treffen. Denn Nele ist klug. Sie ist Klassenbeste. Sie spürt das Eigenartige an einem Menschen. Ein kleines Mädchen, sensibel und voller Empathie.

»Lügen haben bei ihr besonders kurze Beine. Nele hätte mich glatt durchschaut. Sie hätte mit mir geschimpft wie eine Lehrerin mit ihrer ungehorsamen Schülerin. Denn Nele möchte später Lehrerin werden. Das ist ihr großer Traum. Ein Traum, den ich ihr vererbe.«

Andrea wirkt stolz, stolz auf ihre intelligente Tochter. »Ich habe meine Nele damals zur Seite genommen, sie fest gedrückt und innig umarmt. In ihrem Zimmer haben wir gesessen, im Schneidersitz auf ihrem Bett und gemeinsam geschwiegen. Wie zwei Statuen, in festen Stein gehauen, verschmolzen miteinander, nicht zu trennen in jenem Moment. Sie zog ein Papiertuch aus ihrer Hosentasche, wischte meine Tränen weg, tröstete mich mehr als ich sie. Seinerzeit habe ich meinen übermächtigen Einfluss als Mutter aufgegeben. Die gestrenge Erwachsene verabschiedete sich auf alle Zeit. Nele und ich, wir wurden beste Freundinnen. Uns einte die Verzweiflung.

Andrea war damals aufrichtig zu ihrer Tochter. »›Ja, Nele, deine Mami muss sterben‹, habe ich gesagt. ›Auch wenn jeder Mensch irgendwann sterben muss, mich wird es vor meiner Zeit treffen. Der Krebs ist daran schuld. Er wird nicht zu zähmen sein. Wie eine tausendfach überlegene Armee steht er vor meiner Festung. Dieses Heer ist nicht zu schlagen. Meine Verteidigung ist schwach, das weiß ich. Ich bin ihm unterlegen. Und einen Waffenstillstand wird es nicht geben. Der Krebs ist böse, unsagbar böse. Die Ärzte haben bisher Waffen zur Verteidigung meiner Gesundheit zur Verfügung gestellt. Die Chemotherapien und so. Sie haben nicht gezündet. Jetzt ist deine Mami auf sich allein gestellt. Auf ihren Kampfeswillen und sie hofft auf ein bisschen Glück. Also verbringen wir diese letzte Zeit gemeinsam, ziehen als Verbündete in die aussichtslose Schlacht und halten fest zusammen. Wir rücken näher und bauen uns einen Schutzpanzer. Hoffen wir, dass er lange standhalten kann. Deine Mami hat keine Angst, wovor solltest du also welche haben? Auch eine Familie mit einer kranken Mami ist immer noch eine Familie!‹«

Seit diesem denkwürdigen Tag weiß Nele um den Gesundheitszustand ihrer Mutter. Sie kennt die schonungslose Wahrheit.

»Krankheiten verändern den Menschen«, fährt Andrea fort. »Egal, ob Erwachsene oder Kinder. Ich habe im Krankenhaus schwerkranke Kinder erlebt. Sie hatten ihr herrlich frisches Lachen gegen eine schockierende Ernsthaftigkeit ausgetauscht, sie hatten es verlernt. Sie sprachen Sätze, die ein Kind sonst nie spricht. Du begegnetest ihren zerfurchten Blicken und ihren blassen Gesichtern auf dem Krankenhausflur, wenn sie ganz nah bei dir standen, daneben der rollende, zwei Köpfe größere Tropf, aus denen die giftige Chemo-Flüssigkeit in ihre Venen gespült wurde. Diese Krankheit machte sie ernst. Sie verloren ihre unbeschwerte Kindheit, sie gaben ihre Unbekümmertheit aus der Hand. Aus ihnen wurden im Handumdrehen kleine Erwachsene. Als seien sie in eine Zeitmaschine geraten, die ihre sorglosesten Jahre überspringen kann. Die Gesichter dieser Kinder wirkten wie starrer Wachs. Die blanke Angst hatte sich bei ihnen eingenistet.«

Ich stimme Andrea zu. Ähnliche Erfahrungen habe ich während meiner Arbeit gesammelt. Auf den Stationen der Kinderkrebskliniken sah ich gezeichnete Gesichter von Mädchen und Jungen, die ihre Kindheit einfach ausblendeten. Ihre Krankheiten ließen sie reifer werden und die Sorge um ihre Gesundheit streute ewige Narben auf ihren Seelen.

»Meine Kindheit hat mir der Krebs nicht genommen. Da war die Welt noch in Ordnung«, sagt Andrea. »Aber verändert habe ich mich schon. Ich bin gelassener und ausgeglichener geworden, wie ich es bislang nur von meinen Eltern kannte. Nur Glück hinterlässt keine Narben.«

Andrea freut sich über ihren letzten Satz und fährt dann fort: »Heute habe ich viele seelische Narben, klar. Dafür sorgt schon der Krebs. Aber Narben beweisen nicht, dass man Schwäche gezeigt hat. Sondern nur, dass uns keiner kaputt bekommt.«

Andrea ist eine zähe Kämpferin, die mitbestimmen möchte. »Heute lassen mir die Ärzte viel Freiraum, es gibt keinen Krankenhaus-Zwang mehr.«

Was das heißt, will ich wissen.

»Ganz einfach: Geht es mir schlecht, kann ich selbst entscheiden, was am besten zu tun ist. Gehe ich ins Krankenhaus oder stehe ich die schlechten Tage, wenn ich in einer schwarzen Wolke hänge, zuhause durch und warte auf bessere Zeiten?«

Andrea gehört zu den Menschen, die immer weitermachen. Obwohl sie eigentlich nicht mehr können, obwohl sie ausgelaugt sind. Mach eine Pause, aber bitte kämpfe anschließend weiter, möchte ich Andrea am liebsten zuflüstern. Sie scheint meine Gedanken in diesem Moment zu erraten. Denn sie lächelt und antwortet: »Ich wachse über mich hinaus, jeden Tag. Allerdings habe ich auch keine Alternative.«

Und dann sagt sie etwas, was mich aufhorchen lässt, weil es so ungewöhnlich ist: »Ich habe die freie Zeit ohne Krankenhaus und Chemotherapien genutzt und Briefe geschrieben. Hier in meiner Wohnung. Seite für Seite. Innige, liebevolle Zeilen an meine Töchter Nele und Mia. Um meinen Abschied vorzubereiten. Ich will nicht einfach gehen, so bedeutungslos wie tausende andere Menschen. Denn Papier ist geduldig und überdauert alle Zeiten.«

Andrea – Briefe aus dem Himmel

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