Читать книгу Gin - Alles über Spirituosen mit Wacholder - Karsten Sgominsky - Страница 3

Kapitel 1:
Historie

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Der Gin verdankt sein Dasein dem holländischen Genever und dessen Geschichte reicht wiederum zurück bis ins 16. Jahrhundert. Aber wie kamen nun einstmals Wacholder und Spirituose zusammen und was geschah von da an weiter, was letztlich den Gin unserer Tage hervorbrachte? Diese Frage soll in diesem Kapitel beantwortet werden.

Destillation – die Anfänge

Schon in der Antike war die Wacholderbeere (lateinisch: Juniperus) als vielseitig einsetzbares Heilmittel bekannt und gehörte zum Repertoire der praktizierenden Ärzte, allen voran des Hippokrates (ca. 460 – 370 v. Chr.). Das erste komplexe europäische Werk über Medizin ist das griechische «Corpus Hippocraticum», eine Sammlung von Texten, die zu Lebzeiten von Hippokrates beginnend über die nachfolgenden Jahr­hunderte erweitert wurde und unter anderem Hinweise sowohl zur ä­ußeren Applikation als auch zur Einnahme von Beerenzubereitungen enthält, darunter solche mit Wacholder.

In den Jahrhunderten nach Christi Geburt wurde in Europa Medizin als Wissenschaft, abgesehen von einigen wenigen Einzelpersonen, fast überhaupt nicht beachtet, was im Hinblick auf die Bildung und allgemeine Versorgung auf diesem Gebiet nicht ohne Folgen blieb. Man halte sich das Europa der ausklingenden Spätantike (ca. 8. Jahrhundert n. Chr.) vor Augen: Ein Großteil der vorhandenen Schriften und Bücher fiel reli­giös motivierter Vernichtung und kriegerischer Zerstörung im Verlauf der Völker­wanderungen jener Epoche zum Opfer. Das dann nur noch spärlich vorhandene Kulturgut in Form von Schriftsammlungen über Medizin und Heilkunde war überwiegend in den Händen des Klerus. Kompetente Ärzte waren rar, denn diese wurden fast ausschließlich im arabisch-persischen Raum ausgebildet und deren Dienste konnten sich nur Herrscher, Adlige oder Reiche leisten. Das einfache Volk war also auf Wander­ärzte und örtliche Bader angewiesen, die Knochenbrüche ­richten konnten, kleinere chirurgische Eingriffe vornahmen, Zähne zogen und andere Heilpraktiken wie die Zubereitung von Mixturen und Elixieren anwandten. Das ließ natürlich viel Raum für zahlreiche Quacksalber und Scharlatane, die nichts weiter kannten als Aderlass und Scheinbehan­dlungen, ihre «Wundermedizin» verkauften und sich dann schnell aus dem Staub machten, sofern sie nicht schon vorher enttarnt und ­erschlagen wurden.

Erst im frühen Mittelalter regte sich neues Interesse am umfangreichen Wissensschatz von einst und es entstanden zwei Zentren der Natur­wissenschaften: Salerno im Südwesten Italiens am Tyrrhenischen Meer gelegen und Toledo im Zentrum der Iberischen Halbinsel.

Toledo profitierte von der Vielsprachigkeit seiner Bevölkerung und entwickelte sich dadurch zu einem Übersetzungszentrum arabischer und griechischer Schriften, die von den verschiedensten Wissenschaften handelten. Vornehmlich wurden sie ins Lateinische übersetzt und eine der namhaftesten Persönlichkeiten in diesem Genre war Gerhard von Cremona (1114 – 1187), dessen zahlreiche Arbeiten noch Jahrhunderte später Grundlage wissenschaftlicher Studien waren. Er war es auch, der das wohl bedeutendste medizinische Werk des Mittelalters dieser Region übersetzte: das bei Cordoba entstandene «al-Tasrif» des Abu ­I-Qasim Chalaf ibn al-Abbas az-Zahrawi (936 – 1013), alias Abulcasis, das dreißig Bände umfassend die arabischen und klassisch griechisch-­römischen Lehren kombinierte und die europäische Medizin bis zur ­Renaissance mitprägte.

Das kosmopolitische, wissenschaftlich aufgeschlossene maurische Spanien war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Medizin neben anderen Naturwissenschaften in Europa zunehmend nach dem Vorbild morgenländischer Schulen akademisiert wurde.

Salerno sah ebenfalls keine Universitätsgründung an sich, aber die Einrichtung eines Benediktinerklosters im nahe gelegenen Montecassino, in dem die Schriften griechischer Ärzte wie Hippokrates und Galenos sowie Texte aus arabischen Kulturen zusammengetragen, übersetzt und angewandt, jedoch größtenteils vorerst nicht weiterentwickelt ­wurden. Konstantin der Afrikaner (Constantinus Africanus, 1017 – 1087) war einer der Protagonisten, die für den Aufstieg Salernos als medizin­wissen­schaft­liches Zentrum durch Übersetzungen ins Lateinische als Kompendien verantwortlich zeichneten. Salerno wurde mit der Zeit durch Zuzug von Gelehrten und weiterer Anhäufung medizinischen Wissens zu einer bedeutenden Adresse für angehende Ärzte und Genesungsuchende. Hier entstand um 1150 eines der frühesten und bedeutendsten medizinischen Werke des Mittelalters aus europäischer Feder, das «Circa instans», das die Anwendung, Verarbeitung und ­Wirkung von fast 300 Arznei­pflanzen – darunter auch Wacholder – beschreibt und dem Arzt und Lehrer Matthaeus Platearius (gest. 1161) als Verfasser zugeschrieben wird, was aber nicht gesichert ist.

Für unsere Thematik von größerer Bedeutung ist jedoch das «Compendium Salerni» des Magister Salernus Aequivocus (gest. 1167), das er während seiner Schaffensperiode in Salerno (ca. 1130 – 1160) verfasste, denn es enthält einen der frühesten Nachweise einer Weindestillation, die «aqua ardens» – «brennendes Wasser» – ergab, das noch verhältnismäßig schwach alkoholisch und wohl kaum genießbar war.

Kaiser Friedrich II. (1194 – 1250) des Heiligen Römischen Reiches war ein großer Förderer der Naturwissenschaften und erhob Salerno zu ­einer strukturierten Ausbildungsstätte, an der auch Frauen als Schüler, Lehrer und praktizierende Ärzte zugelassen waren.

Die Bedeutung von Toledo und Salerno besteht also darin, dass eine Vielzahl von Naturwissenschaften dem europäischen Raum zugänglich gemacht wurden, was dem Fortschritt auf vielen Gebieten zuträglich war. In Bezug auf das hier vorliegende Thema hat Salerno eine besondere Stellung, weil man sich dort über Jahrzehnte mit der Destillation befasste und die gewonnenen Erkenntnisse dem medizinischen Fortschritt zugutekamen.

Wacholder & aqua vitae

Das erlangte Wissen blieb nicht allein und exklusiv in Salerno, sondern verbreitete sich rasch nordwärts. Es erschienen mehrere Werke von Autoren, die nichts mit Salerno oder Toledo zu tun hatten, wie zum ­Beispiel das «Liber de natura rerum» («Buch der natürlichen Dinge») von Thomas von Cantimpré , einem in Brabant (im ­heutigen Belgien) geborenen geistlichen Gelehrten, der unter anderem die medizinische Wirkung von Wacholderbeeren und Wacholderöl beschrieb und sich hauptsächlich antiker Quellen bediente.

Ohne explizit genannt zu werden, diente von Cantimprés Werk dem ­Niederländer Jacob van Maerlant (ca. 1230 – 1300) als Hauptquelle, als dieser seine in Versform verfasste Naturenzyklopädie «Der naturen bloeme» zwischen 1266 und 1269 in Damme (bei Brügge) schrieb. Es handelt sich hierbei um die älteste Referenz in niederländischer ­Sprache, die Wacholder behandelt. Jüngsten Forschungen zufolge bezweckte er damit, den auf Griechisch und Latein begrenzten Kreis der für Wissenschaften verwendeten Sprachen um das Niederländische zu erweitern. In seinen Versen beschreibt van Maerlant, dass Wein oder Regen­wasser, in denen Wacholderbeeren gekocht wurden, gegen Bauchschmerzen und Magenkrämpfe hülfen. Destillation wird hingegen im ganzen Buch nur einmal genannt: Aus Wacholderholz destilliertes Öl sei eine reichhaltige Medizin, die zur Bekämpfung einer Vielzahl von Krankheiten, wie z. B. Fieber, Epilepsie oder Arthritis, tauge.

Interessant ist auch das Buch «Liber ignium ad comburendos hostes» («Buch des Feuers zum Verbrennen der Feinde»), über dessen Ent­stehungs­datum keine Einigkeit herrscht und als dessen Verfasser ein Marcus Graecus vermutet wird, über den historisch jedoch nichts ­bekannt ist. Im Grundtenor ins 12./13. Jahrhundert eingeordnet, ­beschreibt es hauptsächlich die Herstellung von Sprengpulvern und ­erwähnt ein aus Wein destilliertes «aqua ardens», dessen Entflammbarkeit durch das Hinzufügen von Schwefel erhöht werden kann und das die damals (und auch heute noch) bemerkenswerte Eigenschaft hatte, dass es, wenn man es auf ein Tuch träufelte und anzündete, brannte, ohne dabei den Stoff zu verbrennen.

Federführend bei der Verbesserung der Destilliertechniken war der ab 1264 in Bologna unterrichtende Arzt Taddeo Alderotti (auch als ­Thaddäus Florentinus bekannt), der diese insbesondere in seinem Werk «De ­virtutibus aquae vitae et eius operationibus» («Von den Tugenden des Lebenswassers und seinen Anwendungen») darlegte. Er entwickelte ein Kühlungssystem, was es ihm ermöglichte, hochprozentigen Alkohol zu ­gewinnen. ­Was bewirkte diese Kühlvorrichtung? Die Siedepunkte für Wasser und Alkohol sind unterschiedlich hoch. Will man aus dem zu destillierenden Wein den Alkohol herausfiltern, muss die Siedetemperatur von Alkohol (78,3 °C) erreicht werden, ohne aber die des Wassers (100 °C) zu erreichen, sonst steigen beide Dämpfe gleichzeitig auf, vermischen sich und kondensieren gemeinsam. Etwas mehr als 100 ­Jahre zuvor arbeitete Magister Salernus ohne Kühlung, weshalb ihm «nur» das «aqua ardens» gelang. Alderotti hingegen fand heraus, dass es ­unerlässlich ist, das Ablaufrohr ständig zu kühlen, um den Alkohol rasch kondensieren zu lassen, bevor er sich mit später aufsteigenden Wasserdämpfen vermischen kann. Nur das kontrollierte Zusammenspiel von Hitze und Kühlung lässt durch mehrfache Destillation reinen Alkohol entstehen und dieses Verfahren, das bis heute Grundlage der Alkoholdestillation ist, hat Alderotti entwickelt.

Taddeo Alderotti nannte sein destilliertes Wasser «aqua vitae» – ­Lebens­wasser –, welches nach mindestens vier Destillationen «perfecta» sei. Im Gegensatz zum «aqua ardens» verbrannte es ein darin ­getränktes Tuch vollständig. Er unterschied zwischen einfachem ­(«simplex» – also dem puren Destillat) und zusammengesetztem ­(«composita») ­Lebenswasser. Letzteres ging aus der Erkenntnis ­hervor, dass «aqua vitae» die Eigenschaft aufwies, die Heilkraft von Kräutern, Blüten und Wurzeln aufzunehmen, wenn man diese ins «aqua vitae» einlegte.

Es entstand also Wasser, das einen von innen wärmte; Wasser, das Heilkräfte besaß; Wasser, das von Feuer vertilgt wurde (und nicht ­umgekehrt!). War das der Weg zum Elixier der Unsterblichkeit? Leider nein. Alderotti pries zwar außerordentlich die vielseitige Wirkung der verschiedensten «compositas» auf die Gesundheit des Menschen und erachtete sie als lebensverlängernd, mahnte aber zu einem bedachten, dosierten, am besten mit Wein verdünnten Gebrauch dieses kraftstrotzenden Heilmittels.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Taddeo Alderotti mit seiner Entwicklung und dem daraus entstandenen Resultat eines hochprozent­igen Branntweins mit Heilwirkung sowohl der Medizin und Chemie ­entscheidend zum Fortschritt verhalf, als auch den Grundstein der Pharmazie und – im erweiterten Sinne – der Destillationsindustrie legte.

Pest und Medizin

Als die große Pestepidemie – der «Schwarze Tod» – von 1347 bis 1353 in Europa grassierte und ein Massensterben verursachte, dem ein Drittel der Bevölkerung Europas (ca. 25 Millionen Menschen) zum Opfer fiel, wurde fieberhaft nach Heilmitteln gesucht, denn selbst Gelehrte und Mediziner standen dieser Seuche hilflos gegenüber. Alte Schriften ­wurden konsultiert und unzählige Pflanzen zur Bekämpfung ausprobiert, darunter auch Wacholder, der in den verschiedensten ­Formen Anwendung fand. Man entfachte z. B. große Wacholderfeuer, die die Luft von Krankheitserregern reinigen sollten. In den Räumen mit Erkrankten wurden Wacholderzweige verräuchert, um zu desinfizieren und «böse Geister zu vertreiben». Elixiere aus Wacholderbeeren ­wurden gleichsam Pestkranken und den noch Gesunden gereicht, denn obwohl der Wacholder keine heilende Wirkung erzielte, so erwies er sich doch als probates Mittel zur Vorbeugung und Linderung. Während der nun über die Jahrhunderte in weiten Teilen Europas immer wieder ausbrechenden Pest wurde stark auf Wacholder zurückgegriffen.

Unter den Ärzten und Heilkundigen entwickelte sich eine neue Form der Prävention: Um sich vor Ansteckung zu schützen, trugen sie einen ­Komplettschutz in Form von langen Mänteln, Handschuhen, einem Stock (um die Erkrankten nicht direkt berühren zu müssen) und Kapuzen mit Schutzmaske, in die häufig ein «Schnabel» eingebaut war, der mit einer Mischung aus wohlriechenden Kräutern und Wacholderbeeren gefüllt war, um die pestilenzartigen Ausdünstungen der Erkrankten zu über­tünchen und antiseptisch zu wirken. Der Kupferstich «Doctor Schnabel von Rom» (1656) von Paul Fürst stellt diese Maskerade sehr anschaulich dar.


«Doctor Schnabel von Rom» Kupferstich über Schutz­bekleidung, Paul Fürst, 1656

Im Buch «Ein guts nuczlichs buchlin von aussgeprenten wassern» von Michael Puff von Schrick (ca. 1400 – 1473) wird die Eigenschaft des Weindestillats als Träger medizinischer Wirkstoffe wegweisend manifestiert, da der Autor nicht nur die Rezepturen nach Anwendung ordnet, ­sondern auch vielseitig den Branntwein und dessen Wirkung auf den Körper lobpreist: «Wer alle Morgen trinkt in halben Löffel vol gepranten weins der wird nimmer krank.» Er bemühte sich um die ­Vervielfältigung und Zugänglichkeit des in seinem Buch übersichtlich zusammengetragenen medizinischen Wissens, um damit den Ruf des Berufsstandes Arzt und das Volk vor Kurpfuschern zu schützen. Dieser Wunsch sah sich ­allerdings erst kurz nach seinem Tode erfüllt, als sein Buch – begünstigt durch den von Johannes Gutenberg um 1450 erfundenen maschinellen Buchdruck mit beweglichen Lettern – erstmalig gedruckt und mehrfach neu verlegt wurde.


«Das buch der waren kunst zu distillieren» Hieronymus Brunschwig, Straßburg 1512

Ein beachtlicher Meilenstein sind zweifelsohne die beiden Werke des Straßburger Wundarztes Hieronymus Brunschwig (ca. 1450 – 1512), «Das Buch der rechten kunst zu distilieren die eintzige ding» («Kleines Destillierbuch», 1500) und «Das buch der waren kunst zu distillieren» (1512). Hier schreibt er ausführlich über die «fünfte Essenz» und «aqua vitae composita», für das man Kräuter und Beeren in mehrfach destillierten Wein einlegt (mazeriert) und anschließend destilliert. Seine Werke wurden in der Folge oft ­kopiert und übersetzt, da sie in vielerlei Hinsicht als fundamentale Vorlage über das Destillieren und Extrahieren pflanzlicher Wirkstoffe zu medizinischen Zwecken dienten.

Aus Büchern, Traktaten, Rezeptsammlungen und der eigenen Erfahrung lernend, nutzten nun viele Alchimisten, Ärzte und Heilpraktiker «aqua vitae» unter Zugabe von Kräutern und Gewürzen zur Herstellung ihrer Heiltränke, was eine schrittweise Verbesserung der Behandlungs­möglichkeiten für jedermann – inklusive des einfachen Volkes – mit sich brachte.

Weindestillat kontra Korndestillat

1507 wurde im thüringischen Nordhausen erstmals eine Branntweinsteuer urkundlich erwähnt. Dieser Branntwein («bornewyn») wurde ­jedoch noch nicht aus Korn, sondern üblicherweise aus Bier und Met destilliert. 1545 wurde ebenda das erste Kornbrennverbot per Rats­dekret verhängt.

Im 500 Kilometer weiter westlich gelegenen Antwerpen sprach sich 1552 der dort ansässige Mediziner Philippus Hermanni in seinem Buch «Een constelijk Distileerboec» deutlich gegen die zunehmende Ver­wendung von Bier zur Herstellung von Branntwein (niederländisch: brandewijn) aus. Doch nicht allein jenes Aufbegehren machte ihn bekannt, sondern vielmehr ließen die ausführlich beschriebenen Destillierverfahren und -apparate plus zahlreiche Rezepturen sein Werk in den Niederlanden zu dem Handbuch für Destillateure werden.

Hierdurch wird deutlich, dass schon im frühen 16. Jahrhundert nicht mehr nur Wein destilliert wurde, der das feine «aqua vitae» ergab, sondern auch Branntwein aus Bier, Met und schon bald darauf direkt aus Getreide gebrannt wurde. Letztere Methode verbreitete sich rasch im deutsch-niederländischen Raum, in dem sich die Destillierzentren Westeuropas befanden.

Grund dafür ist der Unterschied in den Kosten, denn Getreide gab es überall und vergleichsweise preiswert, wohingegen Weinanbau durch schlechte Ernten und lange Kälteperioden im Norden immer seltener anzutreffen war. Die Einfuhr von Wein war natürlich ungleich teurer und der dezimiert noch lokal angebaute Wein gewiss nicht wesentlich ­billiger. Somit vollzog sich auf dem Gebiet der Branntweine bald ein Klassen­unterschied: Während die oberen Schichten, Ärzte und Apotheker ­weiterhin auf sanfteren, reineren aromatisierten Branntwein aus Wein­destillat schworen, nahmen die unteren Bevölkerungsschichten mit ­billigerem, nicht aromatisiertem Kornbranntwein vorlieb.

Diese Entwicklung des frühen Widerstandes gegen die Getreidedestillation setzte sich durch Verbote in weiteren deutschen Städten fort. In Augsburg wurde 1570 eine Verordnung verfügt, die die Produktion von Weizenspirituosen für andere als medizinische Zwecke verbot, weil sich eine Hungersnot abzeichnete, die zwei Jahre später ihren Höhepunkt erreichte. Zu diesem Verbot kam es, als einige Stadtväter Branntweine als «gesundheitsschädlich und eine nutzlose Verschwendung von Weizen» verurteilten und diesbezüglich bereits in Kraft getretene Verordnungen der Städte Nürnberg und Frankfurt als Vorbilder ins Feld führten. Doch nicht nur Zweckentfremdung von Getreide war ihr Motiv, sondern sie warfen gleichzeitig den Branntweinherstellern vor, sie würden Weizenbrand mit legitimem, gutem Branntwein aus Wein ver­mischen und bezichtigten sie somit der Panscherei.

Betrachten wir an dieser Stelle kurz die politische Lage Mitteleuropas in der zweiten ­Hälfte des 16. Jahrhunderts: Die Länder Niederlande, ­Belgien und Luxemburg gibt es zu jener Zeit noch nicht, sie bestehen stattdessen aus siebzehn niederländischen Provinzen, die bis nach Nordfrankreich hineinreichen und allesamt zur spanischen Krone gehören. Durch ihre Handelshäfen und Handelsflotte sind die Niederlande eine starke Wirtschaftsmacht und auch strategisch wichtig für das ­erzkatholische Spanien. Die sich durch die Reformation in den Niederlanden ausbreitende protestantische Glaubensrichtung des Calvinismus wird von der spanischen Inquisition brutal unterdrückt, was zu einer Massenflucht nach Osten in deutsche Fürstentümer und gen Westen nach Frankreich, zu starken Unruhen und 1568 schließlich zum Achtzigjährigen Krieg führt, in den sich ab 1618 der hierzulande weitaus mehr bekannte Dreißigjährige Krieg auf deutschem Boden einfügt.

1581 kommt es zur Unabhängigkeitserklärung der nördlichen Nieder­lande unter der Führung von Wilhelm I. von Oranien, die sich zur Republik der Sieben Vereinigten Provinzen ausruft. Die südlichen Staaten bleiben die Spanische Niederlande.

Im August 1585 unterzeichnet Queen Elizabeth I den «Vertrag von ­Nonsuch», in dem sie den rebellierenden protestantischen Provinzen der Niederlande militärische und finanzielle Hilfe zusichert. Noch im ­selben Jahr segelt eine Streitmacht von ca. 6.000 Soldaten und 1.000 Reitern unter der Führung von Robert Dudley, 1st Earl of Leicester, in die Niederlande.

So kamen englische Truppen erstmals mit Kornbranntwein in Berührung, den die niederländischen Soldaten vor der Schlacht tranken und der ihnen extra Kampfeskraft verlieh. Obwohl nicht zweifelsfrei belegbar, lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass die englischen ­Soldaten diesem Getränk den Namen «Dutch courage» («Holländischer Mut[macher]») jetzt schon gaben, wo sie noch Waffenbrüder waren, und nicht erst – wie in manchen Quellen zu lesen ist – in späteren ­Kriegen des 17. Jahrhunderts, als sie nicht mehr gemeinsam, sondern gegeneinander fochten. Fakt ist jedoch, dass dieser Branntwein durch die heimkehrenden Soldaten nach England kam, dort aber mangels Destillierwissens nicht reproduziert werden konnte und «Dutch courage» zu einem geflügelten Wort im englischen Sprachgebrauch wurde.

In diese Periode des ausklingenden 16. Jahrhunderts fällt der für uns entscheidende Teil der Lebensgeschichte des in Köln geborenen Caspar Janszoon Coolhaes (1536 – 1615). Einst Kartäusermönch, fungierte er vielerorts im deutsch-niederländischen Raum als Minister in kirchlichen Ämtern. Mit 38 Jahren zog er in die Stadt Leiden in die ­Rapenburch (heutige Nr. 22), wo er im Februar 1575 die Eröffnungs­rede bei der Einweihung der ersten Universität der nördlichen Niederlande hielt und dort als erster Professor Theologie unterrichtete. 1582 wurde er unter Kontroversen von der Reformierten Kirche Hollands exkommuniziert und in der Folge auch von seiner Lehrtätigkeit an der Universität entbunden, da er zu liberale politische Ideen vertrat, die zu Konflikten zwischen Kirche und Kommunalregierung führten. Er ­erhielt daraufhin zwar ­weiter vom städtischen Magistrat ein Gehalt, suchte sich aber ­einen neuen Lebensunterhalt und entschied sich, ­Destillateur und ­Apotheker zu werden. Dazu belas er sich über Kräuter, über die Kunst des Destillierens und konsultierte darin Erfahrene. 1588 erschien sein Buch «Van seeckere seer costelijcke wateren» («Von ­sicher sehr köstlichen Wässern»), das in bestimmten Aspekten außerordentlich interessant ist.

Freimütig gibt er die Autoren und Gelehrten an, deren Werke er studierte bzw. von denen er sich persönlich Rat und Hilfe holte. Im Vorwort und an weiteren Stellen im Text schreibt er, dass die meisten seiner Wässer in der Region wenig bekannt sind, weshalb man denken könnte, es seien einfache Branntweine und keine Wässer. In diesem Zusammenhang warnt er ausdrücklich vor Branntweinen, die aus den verschiedensten Getreidearten, schalem Bier und nicht mehr trinkbarem Wein destilliert werden. Diese Sorte sähe nur aus wie richtiger Branntwein, ist es aber nicht; trotzdem werden die Leute dafür zur Kasse gebeten, als wäre es welcher. Wahren Branntwein («aqua vitae») könne man nur aus gutem Rheinwein oder anderen guten Weinen machen, aber nicht aus Getreide. Der Leser solle selbst entscheiden, ob man aus einer unreinen, ungesunden Basis ein gutes, gesundes Getränk bereiten könne. Im Kapitel «Observationen» weist er auf die Bedeutung der eigenen Erfahrung hin. Seit 14 Jahren hätte er einen sehr schlechten Magen und probiere eine Unmenge an Medizin und Ratschlägen aus, aber nichts half. Seine Frau war sechs Jahre lang derart krank, dass es stadtbekannt war. Doch dank der Heilkraft seiner Wässer seien sie beide jetzt bei bester ­Gesundheit und er möchte mit seinem Buch ausführen, wie man diese Wässer mittels Destillation herstellt. Unter der Kapitelüberschrift «Aqua Iuniperi: Weecholter, ofte Genever water» («Aqua Juniperi: ­Wacholder- oder auch Genever-Wasser») beschreibt er die Wirkungs­weise dieses Wacholder­branntweins und fortführend die des «edlen, sehr kostbaren Wacholder­öls – Oleum Juniperi».

Das Bemerkenswerte an Caspar Coolhaes ist, dass er die Nutzung von Kornbranntwein nicht aus agrarökonomischen Gründen anprangert, sondern aus einem ausgeprägten Qualitätsbewusstsein heraus. Er war auch derjenige, der als Erster seine Wässer aktiv in Druckform vermarktete, und konnte auf diese Weise überregionale Klientel für seine Qualitätsprodukte erreichen, was ihm am Ladentisch allein nur schwerlich möglich gewesen wäre. Des Weiteren erbrachte er wohl als Erster in der Fachliteratur einen ausführlichen Quellennachweis und sein Buch ist die erste uns bekannte Publikation überhaupt, die die Bezeichnung «Genever» für einen Wacholderbrand wiedergibt (vgl. dazu das ­Kapitel «Genever»).

Nimmt man sein propagiertes Qualitätsbewusstsein, die aktive Produkt­vermarktung durch sein Buch und seinen nicht zu unterschätzenden Bekanntheitsgrad zusammen, so könnte man Caspar Coolhaes durchaus als den Pionier für die Verbreitung des Begriffs «Genever» für einen mit Wacholder aromatisierten Branntwein bezeichnen.


Mitteleuropa um 1618

Das Korndestillat setzt sich durch

Im Laufe der 80er-Jahre des 16. Jahrhunderts wurde in den Nieder­landen die Korndestillation immer stärker betrieben und überwog bald deutlich die Weindestillation, die auch weiterhin anzutreffen war. Einer der gewichtigen Gründe dafür war der Nebeneffekt, dass die Rückstände aus der Korndestillation als nahrhaftes Viehfutter verwendet werden konnten.

Ab 1598 wurden die südlichen Niederlande von Erzherzog Albrecht VII. von Österreich und Erzherzogin Isabella Clara Eugenia von Spanien ­regiert, die sich um Frieden und Erholung von den Folgen des jahrelangen Krieges bemühten. Aufgrund schlechter Ernten wurde 1601 ein Edikt verfasst, das die Herstellung, den Verkauf und den Konsum von Branntwein aus Korn verbot.


Edikt zum Destillierverbot 1601

Wer von den Destillateuren nicht schon vorher aus religiösen Gründen geflohen war, der packte jetzt seine ­Sachen und zog vornehmlich in die nördlichen Niederlande um, wo ­dieses Verbot nicht galt. Diejenigen, die trotzdem blieben, destillierten Getreide illegal weiter, sodass dieser Erlass 18 Mal wiederholt werden musste.

Dass sich der Genever offensichtlich zunehmender Beliebtheit erfreute, wird durch ein niederländisches Staatsdekret von 1606 untermauert, das Steuern auf destillierte Anis-, Wacholder- und Fenchelwässer erhob, die als alkoholische Getränke verkauft wurden. Im Unterschied dazu enthielt die 1583er-Version dieses Dekrets noch keine Besteuerung ­jener Wässer. Das lässt den Schluss zu, dass diese ab 1606 nicht länger einzig als Medizin oder Heilmittel, sondern als mehr oder weniger stark konsumiertes Genussmittel angesehen wurden.

Richtigstellung

In vorherigen Abschnitten wurde ausführlich darüber berichtet, wer alles auf verschiedenste Weise Einfluss auf die Entwicklung des Genevers hatte. An dieser Stelle möchten wir auf zwei Namen eingehen, denen fälschlicherweise bis in die jüngste Vergangenheit hinein die Erfindung des Genevers zugeschrieben wurde.

Franciscus de le Boë (Franciscus Sylvius)

Franciscus de le Boë wurde 1614 in Hanau (bei Frankfurt/M.) als Sohn von Isaac de le Boë und Anne Vignet geboren. Als sein Geburtsdatum wird gemeinhin der 15. März angegeben, was jedoch inkorrekt ist, da sein Eintrag im Taufbuch der französisch-reformierten Gemeinde von Hanau vom 10. März datiert (siehe Abb. S. 24). Seine wohl­habende Familie war schon vor seiner Geburt aus religiösen Gründen aus der nieder­ländischen Provinz Cambrai (Nordfrankreich) in die ­Gegend von Köln geflohen.


Franciscus de le Boë


Taufeintrag (markiert), Franciscus de le Boë, Hanau, 10. März 1614

Seine erste schulische Bildung erhielt er an der Akademie von Sedan, studierte anschließend an der Universität in Leiden Medizin und nach weiteren Zwischenstationen in Jena und Wittenberg promovierte er 1637 an der Universität Basel zum Doktor. Er bewarb sich um eine ­Stelle als Professor an der Uni Leiden, bekam jedoch keine und ging daraufhin nach Amsterdam, wo er eine lukrative Arztpraxis eröffnete.

1658 wurde er doch noch an den Lehrstuhl der Uni Leiden als Medizinprofessor berufen, wo er bis zu seinem Tode 1672 blieb. Die Ideen und Forschungsergebnisse von Paracelsus und van Helmont aufgreifend, schuf Franciscus Sylvius die Lehre der Iatrochemie und erzielte ebenfalls große Anerkennung auf dem Gebiet der Neuroanatomie.

Die Bedeutung seiner Erfolge in der Forschung ist unbestritten und es ist auch nicht so abwegig, davon auszugehen, dass Franciscus de le Boë während seiner Zeit als Arzt in Amsterdam Mixturen durch Destillation herstellte und dabei unter anderem auch mit Wacholder arbeitete, aber er kann definitiv nicht den Genever erfunden haben, da dieser schon ein populäres Gesellschaftsgetränk war, als er geboren wurde.

Sylvius de Bouve

Dieser Name tauchte vor etwas mehr als einem Jahrzehnt auf und war jüngst immer häufiger in Veröffentlichungen aller Art (zumeist im ­Internet) zu finden. Sylvius de Bouve wird unisono als ein «bekannter Professor an der Uni Leiden» ­beschrieben und sei Pharmazeut und Chemiker gewesen, der 1595 ­einen Wacholdertrunk namens ­«Genova» erfand, aus dessen rasch ­ansteigender Popularität das Getränk ­«Genever» wurde.

Dass der Begriff «Genever» schon früher von Caspar Coolhaes verwendet und gepriesen wurde, wissen wir bereits. Viel gravierender ist ­jedoch die Tatsache, dass ein Sylvius de Bouve weder im Leidener Professorenregister «Album Scolasticum Academiae Lugduno Batavae 1575 – 1940» (Leiden 1941) noch im Leidener Studentenregister «Album Studiosorum Academia Lugduno Batavae 1575 – 1875» (Den Haag 1875) aufgeführt ist. Ebenso wenig findet de Bouve im «Biographischen Index holländischer Apotheker bis 1867» (Rotterdam 1992) Erwähnung und auch im Buch «Leidens weg op 1576 – 1603» (Wervik 1992), das die ­Herkunft von Zuwanderern aus den südlichen Niederlanden studiert, ist er nicht verzeichnet. Zu guter Letzt gibt es noch die Leidener Bürger­register («Poorterboeken») der Jahre 1532 – 1603, doch auch da sucht man ihn vergeblich.

Wenn er also die viel beachtete Person gewesen wäre, als die er vielfach dargestellt wird, so müsste er in irgendeinem Register zu finden sein. In Abwesenheit eines offiziellen Hinweises auf die Existenz des Sylvius de Bouve lässt sich derzeit nur schlussfolgern, dass es diese Person höchstwahrscheinlich gar nicht gab.

Genever regiert

Im 17. Jahrhundert gewannen Amsterdam und Rotterdam als Hafenstädte für internationale Ein- und Ausfuhr immer mehr an Bedeutung. Gewürze trafen aus den Kolonien in Ostasien ein, Getreide überwiegend aus dem Baltikum und Steinkohle zum Feuern der Brennöfen aus ­England. Brennereien hatten also eine stete Bezugsquelle für alles, was sie brauchten, und den Exporthafen für ihre Produkte direkt vor der Haustür. Zusätzlich lieferten die Getreiderückstände von der Destilla­tion gutes Viehfutter, weshalb sich Viehmastbetriebe ansiedelten, die in der Stadt selbst unerwünscht waren. Daher zogen Destillerien in den Rotterdamschen Nachbarort Schiedam um, der sich zum Genever-Zentrum der Niederlande entwickeln sollte.


Wilhelm III. von Oranien-Nassau (1650 – 1702) – seit 1672 Regent der Niederlande und ab 1689 in Doppel­monarchie mit Queen Mary II König von ­England, Schottland und Irland

Das Destillieren war auch in England bekannt, allerdings in sehr kleinem Rahmen und größtenteils für den Hausgebrauch bzw. zu medizinischen Zwecken. Die 1638 gegründete «Worshipful Company of Distillers» ­erhielt per Petition von König Charles I. das Monopol für das Destillieren von Spirituosen in London und Umgebung. Dadurch wurde diese Sparte zwar fortan Regeln unterworfen, indem die anzuwendenden ­Destilliermethoden vorgeschrieben und kontrolliert wurden, jedoch konnte hier in keinster Weise vom Beginn einer ausgewachsenen ­Destillierindustrie die Rede sein, da die Ausübung eben nur einer verhältnis­mäßig kleinen Gruppe Privilegierter vorbehalten war.

England war also weiterhin ein Großabnehmer für holländischen Genever, dem auch die drei englisch-niederländischen Seekriege zwischen 1652 und 1674 um die Vormachtstellung im Seehandel kaum einen ­Abbruch taten. Es war November 1688, als der Regent der nördlichen Niederlande, ­Wilhelm III. von Oranien (1650 – 1702), mit seiner Streitmacht im ­Südwesten Englands landete und Anfang 1689 den englischen Thron bestieg, was in die Geschichte als «The Glourious Revolution» einging. Im Mai desselben Jahres erhielt Wilhelm III. vom Parlament die Erlaubnis, Frankreich, das von seinem Erzfeind Ludwig XIV. regiert wurde, formell den Krieg zu erklären. Dem folgte am 24. August 1689 ein Importverbot für französische Produkte. Das traf Frankreichs Wirtschaft nicht unerheblich, denn England war ein lukrativer Abnehmer für eine Vielzahl von Produkten, unter anderem auch für Brandy, der kurioserweise in Frankreich selbst verboten war.

Parallel dazu genehmigte der Stadtrat von Schiedam am 8. März 1690 die Gründung einer Gilde für Destillateure und Brennmeister, sicher mit Blick auf die sich potenziell stark erweiternden Handelsmöglichkeiten mit ­einem England, das fortan von einem Niederländer regiert werden würde.

Im Einklang mit dem Parlament erließ er 1690 den «Distilling Act», eine Verordnung, die dem Destillieren als Handwerk Vorschub leisten und durch minimale Steuersätze die Verwendung von englischem Getreide in großem Stil steigern sollte. Damit stieß er die Türen für eine in ­England ganz neue Industrie auf: Getreidealkoholherstellung. Grund dafür war nicht allein, dass er das Fehlen des französischen Brandys durch einheimischen Branntwein ausgleichen wollte; Wilhelm hatte ­weiter gedacht. Es sollten große landwirtschaftliche Überschüsse ­produziert werden, um Hungersnöten vorzubeugen, die einen König ­unpopulär machen würden. Die Destillierindustrie war ein guter Abnehmer für ­Überschüsse jeglichen Getreides, auch schlechten. Durch die Wiedereinführung von Subventionen für den Export von gemälztem ­Getreide fanden sich sogar ausländische Abnehmer, allen voran sein Heimatland. Landarbeiter, Hafenarbeiter, Müller, Bäcker, das Transportwesen etc. würden mitprofitieren. Zusätzlich käme durch Steuern und Lizenz­ge­bühren mehr Geld in die Staatskasse, zumal er gleichzeitig die Abgaben für Bier und Ale verdoppelte. All diese augenscheinlich noblen Motive hatten einen ­politischen Hintergrund: Die meisten seiner Gegner im ­Parlament besaßen große Ländereien. Wenn jetzt die Bauern durch den Aufschwung größere Profite machten, so könnten jene Grund­besitzer höhere ­Pachten verlangen, somit mehr verdienen und den ­politischen Zielen Wilhelms gewogener werden.

Dass er dadurch indirekt das Monopol der «Worshipful Company of ­Distillers» und deren Qualitätsstandards aufhob, tangierte ihn sicher wenig. Mit ihm kam nämlich auch das Destillierwissen nach London und man orientierte sich am holländischen Genever, der nach wie vor importiert und jetzt sogar am englischen Hofe getrunken wurde. Den englischen Neu-Destillateuren fehlte natürlich das umfassende Wissen und die Erfahrung ihrer holländischen Berufskollegen, um originalgetreuen Genever herzustellen, weshalb bisher fast überall zu lesen war, dass sie einen Getreidebranntwein erzeugten, der so harsch und ungenießbar war, dass er zum Übertünchen dieses Geschmacks gesüßt worden sei. Wir sind jedoch zu einer anderen Auffassung gelangt: Genever war zum Ende des 17. Jahrhundert ein mit Wacholder und womöglich auch anderen Gewürzen aromatisierter Malzbranntwein («moutwijn»). ­Es ist aber fraglich, wenn nicht gar zu bezweifeln, ob dieser Moutwijn schon jenen Grad der Perfektion und Ausgeklügeltheit des Herstellungsprozesses aufwies, wie man es von ihm aus viel späteren Zeiten kannte bzw. heute kennt. War also der Genever nicht einfach ein aromatisierter Getreidebranntwein, der Farbe und Geschmack durch etwas Fasslagerung auf dem Transportweg erhielt? Träfe das zu, dann hätten die englischen Getreidedestillateure einen halbwegs vergleichbaren Getreidebrand herstellen können, denn auch in England wurde schon seit Langem Korn gemälzt, schon allein aus Gründen der Haltbarkeit. Die sogenannten «compound distillers», also «Aromatiseure», die Getreidealkohol von den Großdestillen kauften, um ihn zu aromatisieren und an den Konsumenten zu verkaufen, dürften keine großen Probleme ­gehabt haben, etwas zu produzieren, was dem Genever ziemlich nahe kam. Der Geschmack kann also unserer Ansicht nach nicht so schlimm gewesen sein, wie es bisher oftmals dargestellt wurde. Daher lässt sich mit ­fester Bestimmtheit die These aufstellen, dass jener Getreidebrand nicht gesüßt wurde, was zusätzlich durch das Faktum gestützt wird, dass Zucker zu jener Zeit noch ein Luxusgewürz war und kein alltäg­liches Süßungsmittel, wie wir es heute kennen.

Aus Genever wird Gin

Da nun der Genever durch Import des Originals und Eigenproduktion in England, besonders in London, verstärkt getrunken wurde und der Begriff somit Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand, erscheint es ganz natürlich, dass der für englische Verhältnisse etwas umständliche Name «Genever» bald zu «Geneva» und das Getränk später vom gemeinen Volk letztlich «Gin» genannt wurde. Erstmals wurde diese Verkürzung zu einem Einsilber 1714 in der politischen Satire «Bienen­fabel» von Bernard Mandeville schriftlich erwähnt.

Nichtsdestoweniger existierte auch der Name «Geneva» parallel weiter. Und es sollte eines Tages der englische Gin sein, der seinen Vorfahren in den Schatten stellen würde und 200 Jahre später einen globalen Siegeszug antrat. Aber bis es soweit war, durchlief er ein düsteres Kapitel seiner Geschichte.

Als Wilhelm III. von Oranien 1702 starb, wurde, zurückkehrend zur englischen Blutslinie, seine Schwägerin als Queen Anne inthronisiert. Sie hatte den Ruf, Spirituosen nicht abgeneigt zu sein, und behielt Wilhelms Kurs nicht nur bei, sondern erließ ein Gesetz, das der Alkoholdestillation noch mehr Freiraum gab und vom Parlament verabschiedet wurde. ­Darin wurde zum verstärkten Verbrauch gemälzten Korns ermuntert und faktisch jedermann ein Freibrief zum lizenzfreien Destillieren gegeben, solange die Branntweine nicht auch im selben Haus getrunken wurden. Was einst durch Wilhelm als ökonomischer Geniestreich begann, sollte sich in Bälde zum sozialen Desaster entwickeln.

Durch das Fehlen jeglicher Qualitätsstandards bzw. einer Körperschaft oder Institution, die selbige überwachen würde, entstanden jede ­Menge kleiner Hinterhofdestillen. Viele Läden und Pubs betrieben eine solche, anfangs als zusätzliche, später als Haupteinnahmequelle. Dadurch floss Gin billig und en masse durch Londoner Kehlen, was eine Trunksucht überwiegend in den unteren Schichten der Bevölkerung zur Folge hatte. Erster Widerstand gegen diese Zustände regte sich Anfang der 1720er, als die Sterberate höher wurde als die Geburtenrate, ein ­Zustand, der die nächste Dekade fortwähren sollte. Selbst der Kolumnist Daniel ­Defoe – einst glühender Anhänger des Gins und der Korndestillation, die ökonomischen Aufschwung und Wohlstand brachte – sah sich um 1727 genötigt, sich nun gegen diese unkontrollierte Gin-Herstellung zu wenden und sie öffentlich anzuprangern.

In London gab es 1729 ungefähr 1.500 «compound distillers». Im krassen Gegensatz dazu gab es nur etwa zwei Dutzend Großdestillen, von denen man Getreidealkohol beziehen konnte. Trotzdem verdienten alle an den über 20 Millionen Litern Gin, die jährlich destilliert wurden, ­weshalb jetzt auch Monarchie und Regierung mitkassieren wollten. So wurde noch im selben Jahr der erste «Gin Act» erlassen, welcher hohe Lizenzgebühren und Steuern für aromatisierte Spirituosen einführte; Rohalkohol blieb nach wie vor steuerfrei. ­Damit wurden legitime Destillateure und Händler zur Kasse gebeten, was die meisten zu illegalem Destillieren trieb. In Teilen Londons, wie dem damaligen Armenviertel St. Giles, verkaufte um 1730 etwa jedes dritte Haus Gin. Mit der Illegalität kam unweigerlich auch der Absturz in der ­Qualität, und für Gin ­kamen Spitznamen wie zum Beispiel Madame Geneva, Mother’s Ruin oder Ladies Delight in Umlauf, die die Identität des Gins verkleideten.

Trotz der neuen finanziellen Bürden stieg in London die offiziell produzierte Menge an Gin im Jahr 1733 auf rund 40 Millionen Liter. Bei nur etwa einer halben Million Einwohnern entsprach das einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Jahreskonsum von 70 bis 80 Litern. Und das ­beinhaltete noch nicht die Mengen an illegal verkauftem Gin! Die Behörden wurden ­zunehmend auf den sozialen Verfall der ärmeren Bevölkerung Londons durch weitverbreiteten, maßlosen Spirituosenkonsum aufmerksam und erkannten die Lücken des Gin Acts von 1729, sodass er aufgehoben und durch den zweiten Gin Act ersetzt wurde. Dieser legte fest, wer ab ­sofort nur noch Gin verkaufen durfte, und schloss zum ­Beispiel Straßen­verkäufer und normale Läden aus. Dieses nicht durchdachte Gesetz ließ weitere Lücken klaffen und so ging das Gin-Trinken ungehindert weiter.

Januar 1734. Judith Defour, Arbeiterin in einer Spinnweberei, holte ihre 2-jährige Tochter Mary vom kirchlichen Armenhaus, in dem das Kind schon seit Wochen in Obhut genommen wurde, für einen Besuchstag ab. Man hatte Mary schick zurechtgemacht und mit einem Petticoat, Strümpfen und Jacke ausstaffiert. Judith gab Mary jedoch nicht wie verabredet am Nachmittag wieder ab, denn etwas Grauenvolles geschah: Judith zog der kleinen Mary auf einem Feld die Kleider aus, um sie zu verscherbeln und vom Erlös ein paar Gläser Gin kaufen zu können. Als das Mädchen in der Kälte laut weinte, erdrosselte Judith ihre ­Tochter, ließ sie im Graben liegen und ging in eine Kaschemme, um Gin zu trinken. Dieser schockierende Vorfall rief tiefe Bestürzung in ganz ­London hervor und wurde von den Gin-Gegnern als abscheuliches ­Beispiel für Gewalt angeführt, die durch Alkoholsucht hervorgerufen wird, um im Parlament Gehör für ihren Anti-­Gin-Kreuzzug zu finden.

Als der öffentliche Druck 1736 immer größer wurde, versuchte man es mit einer Notbremse. Der dritte Gin Act wurde verabschiedet, der völlig überzogene Lizenzgebühren, horrende Steuern und zusätzlich einschränkende Konditionen beinhaltete. Der verfolgte Zweck war, die ­Herstellung und den Konsum von Spirituosen durch drastische Auf­lagen stark zu minimieren, aber diese Maßnahme kam effektiv einem Verbot des Gins gleich. Das verursachte landesweiten Aufruhr (bis hin zu vereinzelten Unruhen) und für «Madame Geneva» wurden gespielte Begräbnis­zeremonien zelebriert.

Die Undurchführbarkeit dieses dritten Gin Acts wurde sehr bald offensichtlich. Die Kriminalität blieb unvermindert, Korruption stand auf der Tagesordnung und illegales Destillieren nahm überhand, da es an organisierten Strukturen fehlte, diesem auf die Schliche zu kommen und es nur durch Informanten aufgespürt wurde, die sie – falls nicht be- oder erstochen – verraten würden. Deshalb hob man diesen völlig missglückten Versuch von einem Gin Act 1742 wieder auf.

Ein Jahr später wagte man mit dem vierten Gin Act einen neuen Versuch, die Übel zu bekämpfen und gleichzeitig viele dringend benötigte Steuergelder einzunehmen. Aber selbst mit dieser neuen Gesetzgebung, die Abgaben und Einschränkungen vernünftiger gestaltete, war keine entscheidende Besserung der durch die «Gin Craze» («Gin-Begeisterung» bzw. «Gin-Verrücktheit») herbeigeführten ­Probleme zu verzeichnen. London produzierte in diesem Jahr eine ­exzessive Menge Gin: weit über 80 Millionen Liter.

Rettung nahte 1751. In Petitionen an das Parlament und auf Anraten ärztlicher Gutachterkommissionen, die umgehendes Einschreiten forderten, traten der «Tippling Act» und weitere Verordnungen in Kraft, die den Gin Act von 1743 in akzeptablen Maßen verschärften. Produktion, Verkauf und Verzehr wurden durch Steuererhöhungen und vor allem durch die Einführung von Schanklizenzen besser kontrolliert als je zuvor.

Einen nicht geringen Anteil an diesem letzten Gin Act, der die stark ­betroffenen Teile Londons wieder auf einen zivilisierten Weg bringen ­sollte, hatten Künstler und Publizisten, die auf ihre Weise die unhalt­baren Zustände dokumentierten. Der englische Maler und Grafiker William Hogarth hielt die Auswüchse und Destruktion des Alkoholismus in seinem Stich «Gin Lane» von 1751 fest. In der Mitte des Bilds sieht man eine entmenschte Mutter, die stumpfsinnig in der Tabakdose scharrt und ­dabei achtlos ihr Kind fallen lässt. Das Schild über der ­Eingangstür zur Kellerkneipe titelt: «Drunk for a Penny / Dead Drunk for Two Pence / Clean Straw for Nothing» («Betrunken für einen Penny / Sturzbetrunken für zwei Pence / Sauberes Stroh umsonst»). Ein sehr kraftvolles Stück Propaganda, das seine politische Wirkung nicht verfehlte.


«Gin Lane» von William Hogarth, 1751

Gin Craze – ganz London im Delirium?

Die Kapitelüberschrift spiegelt den Eindruck wider, den man durch die Beschreibungen der Londoner «Gin Craze»-Periode in der Regel gewinnt. Dieses Bild muss man jedoch relativieren.

London war kein einziger Moloch von Trinkern und Kriminellen aller Couleur. Diese Trunksucht und der damit einhergehende krasse soziale Verfall mit einem allgegenwärtigen «Gevatter Tod» spielten sich ­größtenteils in den Armenvierteln Londons ab und betrafen Männer wie Frauen sowie leider auch Kinder. Durch das plötzliche Fehlen jeglicher Qualitäts­standards und Kontrollorgane konnte jeder – selbst der gröbste Dilettant – Gin destillieren. Der oftmals auf plumpe Weise produzierte Gin war ungenügend rektifiziert und enthielt zumeist alles andere als ­Kräuter, Beeren und Gewürze. Auch wir haben uns gefragt, was denn ­verwendet wurde, das den Gin der Unterschicht so gesundheits­schädlich machte, und wurden unter anderem beim Weinessighersteller Beaufoy, James & Co. fündig, der eine «Rezeptur» jener Zeit wie folgt beschreibt:

 Schwefelsäure

 Zitronenwasser

 Mandelöl

 Rosenwasser

 Terpentinöl

 Alaun

 Weinalkohol

 Salz von Weinstein

 Stangenzucker

Der Quäker Mark Beaufoy, der um 1741 zum Partner der Firma wurde, fuhr in seinen frühen Jahren nach Holland, um die Essigbraumethoden im kontinentalen Europa zu studieren. Man sagt, er lehnte Gin-Destilla­tion ab, nachdem er Hogarths «Gin Lane» sah und der verwendeten Substanzen gewahr wurde.

Gottlob gab es im Gegensatz zu diesen gewissenlosen Kreaturen, die todbringenden Alkohol verschacherten, auch respektable Destillateure, die eine Berufsehre und ein Gewissen hatten. Sie übten ihr Handwerk standesgemäß aus und stellten ausrektifizierten und vernünftig aromatisierten Gin bzw. Geneva her, den sich allerdings fast ausschließlich nur die Herrschaften der oberen Schichten leisten konnten. Wenn auch etwas spät, so legte Ambrose Cooper mit seinem Werk «The ­Complete Distiller» («Der ausgereifte Destillateur») von 1757, in dem er wie zuvor schon Beaufoy auch Methoden und Zutaten anprangert, doch Zeugnis für die Existenz aufrichtiger Destilliermeister ab.


«Beer Street» von William Hogarth, 1751

Ohne Zweifel nehmen sich die Sterbestatistiken aufgrund des maß­losen Alkoholkonsums während der «Gin Craze» katastrophal aus, dennoch muss das durch den Pöbel entstandene Image Londons im Gesamt­kontext gesehen werden. Man kann getrost davon ausgehen, dass sich der Großteil der Londoner Bevölkerung zu benehmen wusste und sich überwiegend an Bier, Wein, Likören und verhältnismäßig ­gutem Gin ­labte. Diese Seite Londons wird sehr gut durch einen weiteren Stich von William Hogarth illustriert. Zeitgleich mit «Gin Lane» brachte er nämlich das Pendant «Beer Street» heraus. Dort sieht man die ­Leute glücklich, sorglos und geschäftig. Auch wenn diese Darstellung etwas idealisiert sein mag, so brachte sie doch eines ganz deutlich zum Ausdruck: Das Leben der «Beer Street» wollen wir haben, das der «Gin Lane» jedoch nicht.

Gin wird salonfähig

Als Englands Ernte 1757 ausfiel, wurde vom Parlament ein vorüber­gehendes Verbot für das Destillieren von Getreide erlassen. Das war der Anfang vom Ende der «Gin Craze», denn auch die darauffolgenden Jahre brachten Missernten.

Im Zuge der Gesetzesvorlage von 1760 über die Wiedereinführung des Destillierens aus Getreide wurden die Steuerabgaben für Branntweine auf ein solches Maß erhöht, dass Gin nicht mehr billig angeboten ­werden ­konnte. Das Ungeheuer «Trunksucht» war dadurch so gut wie gebannt und ­Firmen wie Gordon’s, Booth’s, Nicholson’s, Burnett’s und Boord’s ­standen an vorderster Front bei der Etablierung einer anständigen ­Destillierindustrie, die neue Standards setzte und Qualitäts-Gin produzierte. Im Handelsregister von 1794 werden in London etwa 40 Destillen, Mälzereien und Aromatiseure gezählt, die 90% des gesamten Gins in England produzieren.

Gleich zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird in Europa viel experi­mentiert und entwickelt, was eine erste Industrialisierung der Destillation auf den Weg bringen sollte. Unter anderem griff der Franzose ­Jean-Édouard Adam (1768 – 1807) das längst in Vergessenheit geratene Konzept der «Dampfdestillation» des deutschen Chemikers und Erfinders Johann Rudolph Glauber (1604 – 1670) – mehr bekannt durch sein «Glaubersalz» – neu auf und entwickelte es entscheidend weiter.

Durchaus von Jean-Édouard Adam inspiriert, ließ sich der deutsche Kaufmann Johann Heinrich Leberecht Pistorius (1777 – 1858) im März 1817 in Preußen seine Erfindung eines Doppelbrennapparats paten­tieren. ­Dieser «Pistoriussche Brennapparat» ermöglichte die Destillation von Alkohol aus einer Kartoffelmaische in nur einem einzigen Destillier­durchgang. Dem Iren Aeneas Coffey (1780 – 1852) wurde am 5. August 1830 in London ein Patent für seinen Brennapparat («Coffey Still») erteilt. Es war keine Neuerfindung Coffeys, sondern eine verbesserte Version des ein paar Jahre zuvor vom Schotten Robert Stein ent­wickelten kontinuierlichen Brennverfahrens, das wesentlich auf Pistorius’ ­Erfindung basiert. Dieses neue Brennverfahren kam anfangs in Whiskey-Destillen zur Anwendung, wurde aber schon bald darauf auch von Gin-Herstellern übernommen, weil mit dieser Methode die Basisspiri­tuose gegenüber dem herkömmlichen «Pot Still»-Verfahren wesentlich kosteneffektiver produziert werden konnte. Das Ergebnis war ein hoch ausrektifizierter, reiner und geschmacksneutraler ­Getreidealkohol, der sich vorzüglich mit den herkömmlichen Aroma­trägern zu Gin destillieren ließ und ohne Zuckerzugabe ein ganz neues Geschmacksbild ergab. Das brachte über die folgenden Jahrzehnte den uns heute bestens bekannten «London Dry Gin»-Stil hervor. Der Name ist schnell erklärt: «London», weil der Großteil der Gin-Hersteller in ­London seinen Produktionsstandort hatte; «Dry» nicht etwa, weil er «trocken» wäre, sondern weil er ohne die Zugabe von Zucker hergestellt wird, im Gegensatz zum ­gesüßten «Old Tom Gin».

Die Bezeichnung «London Dry Gin» wurde daher anfangs oftmals noch mit erklärenden Zusätzen wie «unsweetened» (ungesüßt) ver­sehen, da der normale Konsument nichts mit der Bedeutung von «Dry» anfangen konnte.

Etwa zeitgleich mit Coffeys revolutionärem Brennapparat entstanden in London die ersten Trinkhallen unter der Bezeichnung «Gin Palace». Es waren von außen und innen aufwendig dekorierte, außergewöhnlich ­geschmackvoll eingerichtete und mit Stuck verzierte Großraumbars, die sogar Gaslampen als Beleuchtung zu bieten hatten und in denen aus geschliffenen Gläsern getrunken wurde. Charles Dickens beschreibt in «Sketches by Boz» (1836) einen solchen «Gin Palace» in der Drury Lane mit einem aufmerksamen Auge fürs Detail und ist sichtlich beeindruckt, denn er resümiert: «Das Gebäude […] ist einfach umwerfend, wenn man es im Kontrast mit der Düsterkeit und dem Dreck sieht, der gerade hinter uns liegt.»

Ebenfalls in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand über dem großen Teich in den USA der Begriff «Cocktail» (erstmals 1806 in der New Yorker Zeitung «The Balance and Columbian Repository» erwähnt und erläutert), der sich über die kommenden Jahrzehnte als Sammel­begriff für Mixturen von Gesellschaftsgetränken durchsetzte. Gleich­zeitig entwickelte sich der Berufsstand «Bartender», denn es wurden stets neue Mixgetränke kreiert, die großen Anklang fanden. Große ­Namen wie Jerry Thomas, Harry Johnson und George J. Kappeler ­leisteten Pionierarbeit in einem weltweit neuen Genre namens «Barkultur». ­Diese meisterhaften Bartender brachten die ersten Bücher mit ­Cocktailrezepturen und Anleitungen für den Barmann heraus, wie z. B. «Bar-Tenders Guide – How To Mix Drinks» (1862), «Bartenders’ ­Manual» (1882) und «Modern American Drinks» (1895). Dieser Trend wurde auch in London aufgegriffen, obschon in kleinerem Stil. Die erste richtige American Cocktail Bar wurde um 1874 am Piccadilly Circus eröffnet, «The Criterion». Deren erster Barkeeper Leo Engel ließ es sich auch nicht nehmen, selbst ein Barbuch unter dem Titel «American & other Drinks» (1878) zu verfassen.

Hier ein kurzes Streiflicht, wie es zu jener Zeit um die koexistierenden Spirituosen Genever und Gin stand. Obwohl in England die Verbrauchssteuer für ins Ausland exportierten Gin schon seit 1850 aufgehoben war, lief der London Dry Gin im internationalem Maßstab noch seinem Konkurrenten Genever hinterher. Holland exportierte in den 1870ern jährlich über 50.000 Hektoliter Genever. Das Schiedamer Jahrbuch von 1878 vermeldet sage und schreibe 341 Brennereien und 64 Mälzereien in der Stadt. Die USA importierten 1880 sechsmal soviel Genever wie Gin.

Doch plötzlich kam es in Holland zur Krise. Zu viele Betriebe rangen um schwindende Absatzmärkte, da immer mehr holländische Kolonien wegfielen und Dry Gin immer stärker auf den Markt drückte. Ein Viertel aller Hersteller Schiedams ging bis 1884 in Konkurs. Die Industrialisierung zeitigte ebenfalls einen unvorhergesehenen Effekt: Durch modernere Produktionsmethoden, billigere Rohstoffe (wie Melassealkohol) und starke Konkurrenz aus Frankreich in der Hefeherstellung konnten fortschrittlich orientierte Produzenten schneller und kostengünstiger größere Mengen Genever herstellen als mit den traditionellen ­Methoden. Der Zusammenbruch der Malzweinindustrie Schiedams ­wurde 1897 durch die Einführung der Verbrauchssteuer auf Zucker weiter beschleunigt.

Expandierende Unternehmen wie Beefeater, Tanqueray und Gordon’s füllten mit ihren Gins schnell die entstandene Marktlücke aus, sodass sich um die Jahrhundertwende der Name «London Dry Gin» als fester Begriff für einen ungesüßten Gin in den Köpfen festgesetzt hatte.

Prohibition und Kriegsjahre

Der Begriff «Prohibition» ist im deutschsprachigen Raum zum Teil ­besser bekannt unter «Alkoholverbot in Amerika». Die Prohibition war ein Verbot der Herstellung, des Verkaufs, des Transports sowie der Ein- und Ausfuhr von Alkohol, der mehr als 0,5% Vol hat.

Ziel war es, den sozialen und gesellschaftlichen Problemen wie Trunksucht und Kriminalität entgegenzuwirken bzw. diese zu bekämpfen. US-Präsident Wilson legte gegen die Prohibition zwar sein Veto ein, trotzdem wurde sie 1919 vom Kongress beschlossen und trat 1920 in Kraft.

Das neue Verbot von Ausschank und Verkauf von Alkohol hatte selbstverständlich massive Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben. Bars und Clubs gingen als sogenannte «Speak Easy»-Lokale in die Illegalität. Eintritt erhielt man nur auf Empfehlung oder per Losungswort. Der Name «Speak Easy» – zu gut Deutsch «sprich leise» – ist ­darauf zurückzuführen, dass man nur gedämpft oder im Flüsterton miteinander sprechen sollte, um nicht die Aufmerksamkeit von Passanten, Nachbarschaft und Gesetzes­hütern auf sich zu ziehen. Mit Alkohol beliefert und betrieben wurden die Speak Easys von Banden der organisierten Kriminalität. In New York soll es 1922 ca. 5.000 von diesen ­Lokalitäten gegeben haben. Bis 1927 steigerte sich diese Zahl Schätzungen zufolge auf 30.000 – 60.000.

Dieses Alkoholverbot erreichte sein Ziel in Bezug auf die Trunksucht nur teilweise, schlug aber in Sachen Kriminalität völlig fehl und hatte viel mehr einen umgekehrten Effekt mit fatalen Folgen. Es half nämlich der organisierten Kriminalität, sich strukturell erst richtig durch Schwarzbrennereien und Alkoholschmuggel zu entwickeln. Gangsterbosse wie Al ­Capone in Chicago oder die «Cosa Nostra» (und viel mehr noch die «Kosher Nostra») in New York verdienten Unsummen. Korruption war bei Polizei, Kontrollorganen und in der Politik gang und gäbe. Für private Partys sowie für die Versorgung der Speak Easys mit Gin diente sogenannter «Badewannen-Gin»: Rohalkohol wurde in das ­größte verfügbare Haushaltsgefäß, die Badewanne, gegossen und mit Wacholderessenzen und anderen künstlichen Aromatika versetzt. Aufgrund mangelnder Strukturen und Mittel, später zusätzlich verstärkt durch die amerikanische Wirtschaftskrise ab 1929, war die Prohibition von Anfang an nicht wirksam umsetzbar. Sie wurde nicht umsonst als «The noble experiment» («Das ehrenhafte Experiment») bezeichnet. Im Dezember 1933 wurde unter der Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt das Gesetz zur Prohibition wieder aufgehoben, es aber den einzelnen Staaten der USA überlassen, es beizubehalten oder aufzuheben. Bis 1948 war die Prohibition in drei Staaten immer noch gültig.

Nach Aufhebung des Alkoholverbots ging das Trinken von Alkohol und (Gin-)Cocktails in gewohnter Manier weiter, jetzt aber eben wieder legal und mit qualitativ besseren Spirituosen.

Als die Prohibitionszeit begann, wurden viele Bartender brotlos und eine baldige Zurücknahme des Verbots war nicht absehbar. Deshalb machten sich nicht wenige von ihnen auf den Weg nach Europa, wo sie offiziell ihrem Beruf nachgehen konnten, und brachten dadurch die Barkultur verstärkt in die Alte Welt. Gin war groß in Mode und in Cocktails sehr gefragt. Doch im Wandel der Zeiten und auf der steten Suche nach Neuem ermattete in England das Interesse an Cocktailpartys schon gegen Ende der 30er-Jahre. An ihre Stelle traten jetzt Sherry-Empfänge. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs fiel für Cocktails gänzlich der Vorhang. Gin wurde nur noch in stark reduzierten Mengen hergestellt. Alle Getreide­kapazitäten waren der organisierten Versorgung der Truppen und Zivilbevölkerung zugeführt worden, denn der Seekrieg verursachte unübersehbare Lücken. Gin gab es nur noch rationiert und unter dem Ladentisch. Cocktails waren ausschließlich noch jenen möglich, die entweder genügend Vorräte hatten oder privilegierten Zugriff auf die Alkoholbestände.

Über dem Ärmelkanal in den Niederlanden und Belgien sah man hin­gegen eine Wiederholung dessen, was man teils schon aus dem Ersten Weltkrieg kannte: Deutsche Besatzungstruppen beschlagnahmten Destillieran­lagen, um diese einzuschmelzen und der Rüstungsindustrie zuzuführen. Dieses Vorgehen beeinträchtigte zusätzlich die ohnehin schon über die letzten Jahrzehnte rückläufige Genever-Industrie, zumal internationale Absatzmärkte fehlten, denn Exporte waren zu Zeiten des Krieges wohl gänzlich unmöglich.

So begab es sich, dass ab der Nachkriegszeit Genever ein Produkt von rein regionaler Bedeutung wurde, das Interesse am Old Tom Gin stark zurückgegangen war und die internationale Showbühne ganz dem ­London Dry Gin gehörte.

Gin-Renaissance

Auch unter den britischen London-Dry-Gin-Herstellern hatte der Zweite Weltkrieg im wahrsten Sinne des Wortes seine Opfer gefordert. Mit den 1950er-Jahren lebte der Gin aber wieder auf und hatte seinen Höhepunkt in den 1960ern, als er die meistgetrunkene weiße Spirituose der westlichen Welt war.

Aus diesem Grunde wirkt es mehr als paradox, dass die Filmfigur des britischen Agenten James Bond nicht das Nationalgetränk Groß­britanniens als Martini-Cocktails trinkt, sondern Wodka Martinis. Superagent 007 wurde vom britischen Autor und Gin-Liebhaber Ian Fleming erfunden, der James Bond in seinen Büchern, die von einer britischen Produktionsfirma verfilmt wurden, Gin Martinis trinken ließ. Die Voraussetzungen konnten britischer nicht sein, warum also Wodka statt Gin? Die einzige Erklärung dafür: Produktplatzierung für Smirnoff Wodka. Dass die James-Bond-Filme der 60er-Jahre den Trendwechsel «pro Wodka – kontra Gin» einläuteten, wäre eine kühne Behauptung. Gänzlich abwegig ist sie dennoch nicht, hält man sich den Welterfolg der James-Bond-Filme vor Augen. Immer mehr Cocktail­rezepturen enthielten Wodka und ab den 70ern hatte der Wodka den Gin weltweit fast völlig verdrängt.

Erst Mitte der 90er-Jahre besinnt man sich wieder der traditionellen Barkultur. Gin steht wieder höher im Kurs und feiert eine dezente Revitalisierung. Mit seiner eigentlichen Renaissance im großen Stil ließ er sich aber noch bis zum Jahrtausendwechsel Zeit. Allein in den letzten Jahren sind unglaublich viele neue und vor allem hochwertige Gins auf den Markt gekommen, die nicht nur eine Neubelebung des mit anderen Spirituosen übersättigten Markts herbeiführten, sondern in denen auch durch filigrane Herstellungsmethoden eine Vielzahl von Aromaträgern zur ­Anwendung gelangt, die das großartige Potenzial des Gins zu neuen Höhen emporklimmen lässt. Wo man in den meisten Bars noch vor nicht allzu langer Zeit höchstens drei bis vier verschiedene Gin-Sorten sah, sieht man heute oftmals mehr Gins als Whiskeys oder Wodkas im Angebot. Gleichzeitig hat sich auch sehr viel in Sachen Tonic getan. Neue, geschmacklich sehr unterschiedliche Tonics ermöglichen zusätzliche Variationen, sodass man heutzutage einen Gin Tonic auf mannigfaltige Weise probieren und genießen kann.

Die Welt der Cocktails befindet sich seither in einem steten Progress. Durch Barmessen und das Internet werden Trends, Ideen, Entdeckungen, alte und neue Rezepturen viel schneller als dereinst kommuniziert, wodurch sich eine neoklassische Barkultur entwickelt hat. Der Gin hat von diesem jähen Aufschwung in grandioser Manier profitiert, und in seinem Fahrwasser segelt auch zunehmend der Genever wieder mit. Dem Bartender und dem Cocktail-Connaisseur gleichermaßen bieten sich jetzt noch nie da gewesene Kombinations- und Auswahlmöglich­keiten bei der Zusammenstellung von Cocktails und Longdrinks, wobei die heutigen Gins, Old Toms und Genever auch pur ein Genuss sein ­können. Die Geschichte des Gins ist hier aber nicht zu Ende, sondern geht weiter, und wir können uns glücklich schätzen, Zeitzeugen einer neuen Gin-Ära zu sein.

Gin - Alles über Spirituosen mit Wacholder

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