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7.

Der neue Job gefiel Phil gar nicht schlecht. Er gefiel ihm sogar ausgesprochen gut. Er war bloss im Stundenlohn angestellt, und das kam ihm sehr entgegen. So konnte er vormittags nach wie vor bei MacMax aushelfen. Nachmittags arbeitete er dann ein paar Stunden im Seefeld. Was er hier zu tun hatte, war für ihn ein Kinderspiel und, da er dabei die meiste Zeit am Computer sass, ganz nach seinem Gusto. Nach ein paar Tagen hatte er gesehen, wie der Laden lief. Seine Aufgabe wäre es eigentlich gewesen, ein System für das Katalogisieren der antiquarischen Bücher zu erstellen. Er hatte bereits eine entsprechende Software heruntergeladen. Gratis, oder besser gesagt illegal. Natürlich verriet er das seinem Boss nicht, er sagte bloss, die Software sei sehr günstig zu haben. Aber das Katalogisieren musste jetzt warten.

«Wie heisst Ihre Domain?», fragte Phil den Inhaber am zweiten Tag.

«Habe ich nicht. Nur eine E-Mail-Adresse.»

«Wie bitte, Sie haben keine Website?», staunte er.

«Nein, wieso? Sollte ich?»

«Allerdings», lachte Phil und versprach, in den nächsten Wochen einen Entwurf vorzulegen.

Bald stellte sich heraus, dass in diesem Laden EDV-mässig auch sonst einiges im Argen lag: Das Rechnungs- und Zahlungssystem musste optimiert, die Logistik vereinfacht und beschleunigt, die Buchhaltung auf Vordermann gebracht werden. Die gesamte Software war ziemlich veraltet. Und in Seidenbasts Geschäft standen vier verschiedene Computer, die vernetzt werden mussten. Der Patron war heilfroh, dass er sich um diese Dinge nicht mehr kümmern musste. So kam es, dass sich Phil in Buch&Wein schon nach kürzester Zeit absolut unentbehrlich machte.

Es blieb ihm nicht verborgen, dass ihn Frau Preisig, die von früh bis spät im Geschäft herumgeisterte, in der ersten Zeit argwöhnisch beobachtete. Er grüsste sie deshalb stets, wenn er zur Arbeit kam – wenn sie nicht im Laden stand, spürte er sie im Bücherlager, im Weinkeller oder in der kleinen Teeküche auf –, bedachte sie, wenn es sich ergab, mit einer Freundlichkeit und bemühte sich im Übrigen konsequent, ihr nicht in die Quere zu kommen. Nachdem sie einmal begriffen hatte, dass er ihr nicht ins Handwerk pfuschte – sie war ja ausschliesslich für die Hardware zuständig –, gab sie ihre Vorbehalte offenbar auf.

«Ein charmanter junger Mann, Herr Seidenbast», hörte er sie eines Tages flüstern.

«Wer?»

«Ihre Bürokraft.»

«Ach so. Ja, nicht wahr?»

Bürokraft ist gut, dachte Phil.

Das Vorstellungsgespräch, zu dem er auf seine telefonische Bewerbung hin eingeladen worden war, hätte in der Tat nicht besser verlaufen können.

«Sie studieren Informatik», hatte sein zukünftiger Chef konstatiert. «Gut, sehr gut. Haben Sie auch praktische Erfahrung?»

«Nun», erwiderte Phil, «nach der Matura machte ich eine Banklehre. Ich will nicht behaupten, ich sei ein IT-Experte, aber ich bin ein ziemlich sicherer Anwender.» Dass er ein ziemlich durchtriebener Anwender war, der sich in fremde Computer hackte, das behielt er wohlweislich für sich. «Und ich fabriziere Websites für Freunde und Bekannte.»

«Sehr gut. Das dürfte für meine Bedürfnisse bei weitem genügen. Aber sagen Sie, verstehen Sie auch ein bisschen etwas von Wein?»

«Nur, was man mir im Duc de Rohan beibrachte.»

«Im Duc de Rohan?», wiederholte Seidenbast verblüfft. «In Chur?»

«Ja. War aber nur ein kurzer Stage. Drei, vier Monate, in den Semesterferien.»

In Tat und Wahrheit hatte der Stage drei, vier Wochen gedauert. Und hatte in den Schul-, nicht in den Semesterferien stattgefunden. Nicht im Duc de Rohan, sondern in einem Bergrestaurant im Skigebiet von Obersaxen. Damit liess sich freilich kein Staat machen, das Weinangebot hatte aus Veltliner in der Liter- und Zweideziliterflasche bestanden. Und seine Arbeit im Pfannenwaschen.

«Und später auf dem Bürgenstock.»

«Oh lala! Als Sommelier?»

«Nein, nur als Kellner. Hilfskellner, um ehrlich zu sein. Aber ich spitzte die Ohren, wann immer ich in der Nähe des Sommeliers war», lachte Phil.

Dem Sommelier auf dem Bürgenstock hatte er tatsächlich immer gut zugehört, wenn sich Herr Zulauf zum Lunch eine Flasche Wein bestellte. Jeder einzelne seiner Kommentare war in seinem Gedächtnis eingraviert. Er war sich schon damals sicher gewesen, dass er die Weinsprache einmal werde brauchen können.

«Gut, dann darf ich Ihnen eine Quizfrage stellen», schmunzelte sein zukünftiger Chef. «Was würden Sie zu einem Tournedos Rossini empfehlen: einen Barbera, eine Assemblage aus dem Burgenland oder einen Malbec?»

Seine Sprachimitationsspielchen hatten den Klosterschüler gelehrt, dass er über eine besondere Art von Gedächtnis verfügte. Er wusste, dass es Leute mit fotografischem Gedächtnis gab. Er hatte kein fotografisches, er hatte ein tonträgerartiges Gedächtnis: Was er einmal gehört hatte, das konnte er – vorausgesetzt, es interessierte oder beeindruckte ihn – jederzeit eins zu eins wiedergeben. Als Schüler hatte er jede Menge Bücher verschlungen, aber Gelesenes blieb ihm nicht besser in Erinnerung als andern. Gehörtes jedoch konnte er mit fast untrüglicher Sicherheit abrufen. Seine guten Noten verdankte der Klosterschüler Gion-Gieri Caduff weniger einem besonders tiefen Verständnis der Dinge als dem Umstand, dass es den meisten Lehrern gefiel, wenn sie zitiert wurden. Und Lehrer zitieren, das konnte er. Es hatte damit begonnen, dass er der Kindergartentante ein rätoromanisches Verschen nachplapperte oder als Erstklässler ein Lied trällerte, kaum hatte er es ein-, zweimal gehört. Gedichte, Reden und andere gehörte Texte konnte er auswendig hersagen wie kein anderer. Und zwar in allen möglichen Sprachen, von Deutsch über Latein bis zu Englisch und Spanisch. Mathematische, physikalische und chemische Formeln brauchte er nicht zu verstehen oder herzuleiten, er konnte sie, einmal gehört, einem Lied gleich rezitieren und mit etwas Glück meistens richtig anwenden. Den Sechser in der Geografie-Matura holte er sich, weil beim Stichwort Eiszeit in seinem inneren Ohr «Günz-Mindel-Riss-und-Würm» erklang, wie ein alter Schlager, mit allen zeitlichen und örtlichen Attributen.

«Weder Barbera noch Malbec», antwortete der innere Sommelier. «Zu viel Frucht. Den Barbera würde ich zu einem Primo empfehlen, einer feinen Pasta vielleicht, wieso nicht mit einem Hauch von weissem Trüffel. Albatrüffel, natürlich. Der Malbec passt gut zu einer Grillade, aber nicht unbedingt zu einem klassischen Tournedos Rossini. Die Foie gras braucht einen Widerpart. Dann schon lieber den Roten aus dem Burgenland, wenns kein Bordeaux sein soll.»

«Alle Achtung», staunte der Weinhändler und Feinschmecker. «Und was können Sie mit Büchern anfangen?», fragte er beiläufig. «Lesen Sie?»

Phil ahnte, dass das der entscheidende Test war.

«Belletristik, zum Beispiel. Notfalls müssten Sie vielleicht auch mal im Buchladen aushelfen.»

«Da bin ich leider etwas einseitig gebildet.»

«In welcher Richtung?»

«Ehemaliger Klosterschüler, wissen Sie», sagte Phil. Der Buchhändler hob überrascht den Blick und musterte ihn aufmerksam. «Etwas gar vergangenheitsorientiert. Klassische Literatur eben. Frisch war in etwa der Modernste. Und sonst: Goethe, den Faust natürlich, Werther, Wahlverwandtschaften. Keller. Meyer, Jürg Jenatsch. Thomas Mann, der Zauberberg. Der hatte für uns ja fast Lokalkolorit.» Den Zauberberg hatte er natürlich gelesen. Noch viel besser gefallen hatten ihm freilich die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. «Tod in Venedig, und und und», fuhr er fort, um noch etwas Zeit zu schinden. Er hatte plötzlich ein Gespür dafür, welche Autoren er erwähnen musste. «Musil. Oder meinen Sie englische und französische Literatur? Rimbaud. Proust. Byron. Oscar Wilde war natürlich verboten. Der stand bei uns auf dem Index. Den musste ich mir heimlich zu Gemüte führen.» Das hatte er nicht einmal erfinden müssen, es stimmte Wort für Wort. Ein Mitschüler hatte ihm gesteckt, dass die Bücher von Oscar Wilde obszön seien, da hatte er natürlich eines lesen müssen. Phil deutete zum Schaufenster hinüber. Dort lag, auf einem kleinen Podest aus der Fülle der übrigen Bücher hervorgehoben, ein abgegriffener, in Leder gebundener Dorian Gray. Er hatte sich am Vortag die Auslagen des Antiquariats angesehen und zur Sicherheit auf Wikipedia sein Wissen etwas aufgefrischt. «Wunderschönes Exemplar», murmelte er respektvoll. «Neunzehnhundertzehn? Oder fünfzehn?»

«Neunzehnhundertzwanzig», hatte Seidenbast geantwortet und ihn nachdenklich angesehen. «Wann können Sie denn anfangen, Herr Wexler?»

Der Seelenwexler

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