Читать книгу Der Seelenwexler - Kaspar Wolfensberger - Страница 7
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Zangger verabschiedete einen jungen Kollegen. Vor seinem Sprechzimmer sass schon der neue Patient, der heute seine zweite Sitzung hatte.
«Augenblick, Herr Caduff. Bin gleich so weit.»
«Kein Problem. Ich weiss, ich bin zu früh», sagte Caduff. «Bei Ihnen geht es Schlag auf Schlag», meinte er, schob die Unterlippe vor und nickte bewundernd. «Da gibt ein Patient dem nächsten die Tür in die Hand.»
Zangger hätte Caduff einfach zustimmen können. Aber es juckte ihn, die Sache richtigzustellen: «Das war kein Patient, das war ein Supervisand.»
«Ein super was?»
«Ein Psychiater und Psychotherapeut, genau wie ich. Wir besprechen berufliche Fragen.»
«Ach so, Supervisand», lachte Caduff. «Dann sind Sie Supervisor?»
«So ist es.»
«Alles klar», sagte Caduff und lachte ihn an. «Jetzt machen Sie aber ruhig Kaffeepause. Ich habe Zeit.»
Ein klein wenig ärgerte es Zangger, dass Caduff erraten hatte, was er erledigen wollte. Er stieg die Treppe hoch und bereitete sich in der Seminarküche einen Espresso zu. Er nahm das Tässchen, ging damit auf die kleine Terrasse hinaus, auf der sonst seine Studenten Pause machten, und setzte sich auf einen der Gartenstühle.
Gar nicht unsympathisch, der junge Mann, dachte er. Mir ist bloss noch nicht klar, was er eigentlich will. Unter grossem Leidensdruck scheint er nicht zu stehen. Trotz seiner schlimmen Geschichte.
Zangger leerte das Espressotässchen, ging hinunter und bat seinen Patienten ins Sprechzimmer.
Caduff fiel gleich mit der Tür ins Haus. Er müsse lernen, zu seinen Fehlern zu stehen, statt sie zu verschweigen, zu beschönigen oder abzustreiten. Oder Dinge zu erfinden, bloss um besser dazustehen. Ein Kindheitsmuster, das er sich zum Schutz vor seinem jähzornigen und gewalttätigen Vater angeeignet habe.
«Um ehrlich zu sein: Ich bin ein Schwindler», fasste Caduff zusammen. «Nicht immer, aber meistens.»
«Was Sie nicht sagen», sagte Zangger. In einem Ton, als habe sein Patient etwas Bewundernswertes von sich preisgegeben. Dann machte er ein nachdenkliches Gesicht. «Da sind Sie bei mir aber an den Falschen geraten.»
«Ach ja?», machte Caduff. «Merken Sie sofort, wenn einer lügt?»
«Im Gegenteil», erwiderte Zangger. «Ich merke es nie.»
«Ach, kommen Sie! Sie sind doch Psychiater.»
«Schon. Aber ein leichtgläubiger.»
«Nehmen Sie mich auf den Arm?»
«Nein. Es ist so: Ich glaube jedes Wort, das man mir sagt. Man kann mich leicht hereinlegen.»
«Wirklich? Das ist aber gar nicht gut.»
«Ich weiss. Aber ich gehe immer davon aus, dass das, was mir einer sagt, stimmt. Ich kann nicht anders», erklärte Zangger.
«Nun», meinte Caduff, «das ist ja auch Ihr Job.»
«Eben», bestätigte Zangger.
«Wie können Sie mir helfen?»
«Keine Ahnung. Wahrscheinlich überhaupt nicht.»
Caduff machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl.
«Könnten Sie nicht einen Versuch mit mir machen?»
«Einen Versuch schon. Begrenzt auf zehn Sitzungen. Und unter einer Bedingung.»
«Klar: dass ich Sie nicht anlüge.»
«Nein. Dass Sie mir in jeder Stunde sagen, was Sie mir in der vorhergehenden vorgeschwindelt haben.»
Caduff sah ihn verdutzt an.
«Einverstanden», sagte er dann und lehnte sich zurück.
«Wir fangen gleich an», fuhr Zangger fort. «Stimmen die Angaben auf dem Anmeldebogen, den Sie letztes Mal ausgefüllt haben?»
«Warten Sie», sagte Caduff. Er schien das Papier in der Erinnerung noch einmal durchzugehen. «Da ist eine Kleinigkeit: Mein ganzer Vorname ist Gion-Gieri.»
«Kein Problem. Und was von dem, was Sie mir aus Ihrem Leben erzählt haben, stimmt nicht?»
«Das mit den Heiratsplänen», sagte Caduff sofort. «Das war Angeberei. Ich bin noch nicht einmal verlobt.»
«Aber Sie haben eine Freundin?»
«Ja.»
«Schön. Wie heisst sie?», fragte Zangger weiter. Nicht inquisitorisch, bloss neugierig und interessiert. «Mit Vornamen, meine ich.»
«Ähm …», Caduff zögerte. Er schien sich nicht im Klaren zu sein, ob er ihren Namen nennen wollte. «Nicole», sagte er dann.
«Auch Studentin?»
«Nein, Hotelpraktikantin. Im Schweizerhof.»
«Und heiraten will sie Sie nicht?»
«Ehrlich gesagt», grinste Caduff, «habe ich sie noch gar nicht gefragt.»
«Alles zu seiner Zeit, nicht wahr? Und Ihre Mutter?»
«Meine Mutter?», fragte Caduff erschrocken zurück.
«Ich meine, stimmt die Geschichte mit Ihrer Mutter?»
Die Frage schien Caduff die Sprache zu verschlagen. Er schaute Zangger mit grossen Augen an.
«Die mit dem Traktor?», doppelte Zangger nach.
Caduffs Augen blickten durch Zangger hindurch. Er wirkte wie weggetreten.
Epileptische Absenz?, dachte Zangger. Dissoziative Störung?
Es dauerte nur zwei Sekunden. Caduff kam zu sich.
«Was war jetzt gerade?», wollte Zangger wissen.
«Wie?», fragte Caduff zurück. «Nichts.»
Zangger schwieg eine Weile und sah seinen Patienten ruhig an. «Stimmt die Geschichte?», wiederholte er dann seine ursprüngliche Frage. «Mit Ihrer Mutter? Mit dem Traktor?»
Wieder sah ihn Caduff verwundert an.
«Ja, die stimmt», sagte er schliesslich. Er schluckte.
Im ersten Augenblick hatte Zangger seine Frage fast bereut. Jetzt stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass die Antwort eine eigenartige Reaktion in ihm auslöste: Er fühlte sich erleichtert. Aber er wusste, dass er Caduff, was dessen kurze geistige Abwesenheit anging, im Auge behalten musste.
«Und was ist mit Ihrem Vater?»
«Meinem Vater? Den kenne ich nicht. Oder meinen Sie den alten Caduff?»
Zangger hob fragend die Hände.
«Was mit ihm ist? Er ist ein Schwein», sagte Caduff. «Und Gott sei Dank tot.» Er schwieg lange, dann sagte er leise: «Er triebs mit den Schafen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und auch mit mir», murmelte er. «Im Stall, wenn Schafe und Kühe auf der Weide waren. Zuerst ausmisten und dann …»
Er verstummte und sah Zangger ins Gesicht.
Es schauderte Zangger. Selbstverständlich würde er Caduff später wieder auf diesen widerlichen Missbrauch ansprechen. Aber jetzt wollte er ihm dazu keine Fragen stellen. Er hatte den Eindruck, dass das zu viel wäre. Er stellte ihm stattdessen die eine oder andere biografische Frage. Caduff erzählte von der Tante, die an Mutters statt für ihn gesorgt habe, bis er fünfzehn oder sechzehn war. Vom Geständnis, das der Alte herausgeschrien habe, wie einen Fluch: dass er gar nicht sein Vater sei. Vom Muni und den blutdurchtränkten Stallhosen.
Erneut lief es Zangger kalt den Rücken hinunter.
Dann von der Familie seines Vormunds weiter unten im Tal, bei der er für kurze Zeit gelebt habe, ehe er ins Internat der Klosterschule Disentis habe eintreten können. Von der kaufmännischen Lehre auf der Bündner Kantonalbank in Ilanz, die er, die Matura im Sack, absolviert habe, um rasch Geld zu verdienen. Vom Auszug aus der Surselva nach Chur und – zwei, drei Jahre später – nach Zürich. Von seiner Anstellung bei der Bank Wittmann, die er gekündigt habe, und vom Informatikstudium, das ihm sehr zusage. Schliesslich von MacMax, bei dem er ein bisschen Geld verdiene, um sein Studium zu finanzieren.
Gegen Ende der Sitzung besprach Zangger mit ihm die Modalitäten der Behandlung. Dass Caduff es vorzog, in den Vormittagsstunden zu kommen, erstaunte Zangger etwas.
«Es gibt noch etwas, Herr Caduff, und zwar …»
«Eine Hausaufgabe, nicht wahr?», fiel ihm sein Patient ins Wort. «Ich habe gehört, dass man Ihre Sprechstunde nicht ohne eine Hausaufgabe verlässt. Was ist es?»
«Ein Tagebuch. Ich bitte Sie, ein Tagebuch zu führen.»
«Ein Tagebuch?», meinte Caduff enttäuscht.
«Ein Lügenjournal.»
«Oh. Ich verstehe.»
«Gut», sagte Zangger. «Sie führen über alle Ihre kleinen und grossen Lügen Buch, und zwar tagtäglich. Angenommen, Sie schwindeln heute Ihren Chef an oder Ihre Freundin, einen Freund oder Polizisten, spielt keine Rolle, dann gehört das ins Tagebuch. Auch wenn es nur eine kleine Notlüge war.»
«Alles klar», bestätigte Caduff.
«Noch etwas, Herr Caduff», fuhr Zangger fort.
Er trug ihm auf, sich bei jedem kleinen oder grossen Schwindel nach seinen Motiven zu fragen: War es Prahlerei? Hoffte er auf Bewunderung? Fürchtete er, jemanden zu enttäuschen, wenn er die Wahrheit sagte? Steckte die Angst, einen Fehler zugeben zu müssen, hinter seiner Lüge? Diente sie dazu, eine alte zu vertuschen? Diese Dinge solle er, wenn er darauf eine Antwort finde, ins Lügenjournal schreiben.
«Gut, ja.»
«Dann prüfen Sie innerlich nach, ob Sie sich Ihrer Lüge schämen oder nicht. Auch das halten Sie im Tagebuch fest.»
«Ob ich mich schäme?», wiederholte Caduff erstaunt. «Okay, ich – ich verstehe.»
«Damit das klar ist: Das Tagebuch dient nur therapeutischen Zwecken. Nur Sie und ich werden darin lesen.»
«Muss ich es in die Sitzung mitbringen?»
«Vorläufig nicht», sagte Zangger.
Einstweilen wolle er nur wissen, ob er ihn, seinen Psychiater, angeschwindelt habe. Für alle übrigen Schwindeleien sei er nicht ihm, sondern seinem Lügenjournal Rechenschaft schuldig. Zu einem späteren Zeitpunkt würden sie es dann gemeinsam unter die Lupe nehmen.
Caduff sah Zangger ins Gesicht und nickte.
«Es gibt noch ein organisatorisches Problem, Herr Caduff», sagte Zangger. Er teilte seinem Patienten mit, dass seine Praxis Ende Mai für sechs Wochen geschlossen sein werde.
«Das macht mir nichts aus», sagte Caduff. «Verreisen Sie?»
«Jawohl», sagte Zangger.
«Wohin, wenn ich fragen darf.»
«Nach Schottland.»
«Oh! Lachs fischen? Oder Single Malts?», fragte Caduff neugierig weiter. «Eine Whiskytour?»
Zangger zögerte eine Sekunde. Er war eher zurückhaltend mit Auskünften über seine persönlichen Angelegenheiten. Aber er hatte es nie zum Prinzip gemacht, Privates um jeden Preis auszuklammern.
«Fischen kaum», erwiderte er. Single Malts schon eher, dachte er, aber das wollte er dem jungen Patienten nicht unter die Nase reiben. «Eher trekken.»
«Wer organisiert das? Reise-Fischlin?»
Zangger fand Caduffs Fragerei zwar etwas unverfroren, gleichzeitig aber auch sympathisch unbeschwert. Er beschloss, so lange zu antworten, als er Lust darauf hatte.
«Wir reisen immer auf eigene Faust.»
«Wir? Heisst das Sie und Ihre Frau?»
«Ja», sagte Zangger. Und freiwillig fügte er hinzu, er wusste selber nicht, wieso: «Mit einem alten VW-Camper.»
«Wow! Etwa mit einem California?»
«So ähnlich. Westfalia heisst das Modell. Baujahr 1972.»
«Oh, ein Westfalia? Das ist der Vorgänger des California, nicht wahr? Mit Aufstelldach?»
«Genau.»
Zangger staunte nicht schlecht, dass diesem jungen Mann der VW-Camper Modell Westfalia ein Begriff war. Das Vehikel war ja einiges älter als Gion Caduff selber. Zangger war in seinem Alter und auch noch Single gewesen, als er das unverwüstliche Gefährt – damals schon ein Gebrauchtwagen – gekauft hatte. Er war mit dem hellgrünen Camper durch die Sahara gefahren, hatte ihn auf abenteuerlichen Wegen wieder nach Hause gebracht und war später mit Tina damit nach Spanien und Portugal gereist. Für Familienferien war der VW-Camper natürlich zu klein gewesen. Sie hatten ihn nur noch sporadisch gebraucht und irgendwann eingemottet. Denn verkaufen oder verschrotten kam nicht in Frage. Vor ein paar Jahren, als Claudia ihre Fahrprüfung ablegte, machten sie ihn wieder flott. Claudia verbrachte mehrere Male Camperferien mit ihrem Freund, im Engadin und im Tessin, und einmal reiste sie mit ihm ans Nordkap. Fabian später mit Louis nach Barcelona. Tom mit seiner Clique an die Côte d’Azur. Mona verabscheute das Fahrzeug, für sie war es Sinnbild einer spiessigen Welt. Es war Tinas Idee gewesen, den alten Camper für eine mehrwöchige Reise nach Schottland instand stellen zu lassen. Sie kannte ihren Pappenheimer und zählte darauf, dass Zangger auf einer Camperreise am ehesten abschalten und sich erholen würde. Es war ein Kompromiss gewesen, denn Zangger hatte einmal mehr für Afrika plädiert, Tina für eine Donauschifffahrt mit Opernbesuchen. Nachdem er Bilder von den Low- und den Highlands und den Hebriden gesehen hatte, liess Zangger sich umstimmen.
«Dann haben Sie ja einen richtigen Oldtimer», meinte Caduff. «Hält er denn noch durch?»
Nun war es um Zangger geschehen. Das Reisefieber packte ihn, und obschon er eigentlich gar nicht hatte davon reden wollen, plauderte er weiter.
«Der hat es durch die Sahara geschafft, über sämtliche Alpenpässe und kreuz und quer durch Europa. Da wird er Schottland auch noch schaffen. Auch wenn er unendlich viele Kilometer auf dem Zähler hat. Wir fahren nach Calais und nehmen die Fähre nach Dover», fuhr er fort. Und bald hatte er seinem Patienten die Reiseroute skizziert, die er mit Tina zurückzulegen gedachte, mit allen Stationen zwischen Edinburgh und den Western Highlands.
«Sie würden aber lieber nach Afrika reisen, nicht wahr, Herr Zangger?», meinte Caduff. Er schaute ihm dabei direkt in die Augen. Zangger war sprachlos.