Читать книгу Der Seelenwexler - Kaspar Wolfensberger - Страница 13
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«Sie gehen schon?», fragte Seidenbast und sah auf die Uhr.
«Ja. Ein Arzttermin», erwiderte Phil.
Arzttermin stimmte sogar, aber dass er bei diesem Termin nicht der Patient, sondern der Arzt war, wollte er seinem Boss nicht auch noch unter die Nase reiben. Phil war schon fast bei der Tür. Jetzt blieb er einen Augenblick stehen und wandte sich um. Seidenbast stand mit einem Buch in der Hand an einem Bücherregal und betrachtete ihn nachdenklich.
Was hat er?, dachte Phil.
Phil war es gewohnt, dass man ihn länger als andere ansah. Und dass man sich auf der Strasse nach ihm umdrehte. Gewöhnlich hielt er den Blick der andern Person fest, bis diese, leicht verlegen, sich abwandte oder den Blick senkte. Seidenbast löste seinen Blick nicht von ihm. Er sah ihn unverwandt an. Phil war es, der sich abwandte, er war eine Spur verlegen.
Dieser Blick!, dachte er, als er auf der Strasse stand. Es war kein vorwurfsvoller Blick gewesen. Auch kein aufdringlicher. Er hatte eher eine Art Neugier in Seidenbasts Augen gesehen. Täuschte er sich oder lag auch eine Spur Faszination darin? Hatte ihn das in Verlegenheit gebracht? Seidenbast hatte ihm mehr als einmal gesagt, dass er seine Hilfe im Geschäft schätze. Er bedankte sich jedes Mal, wenn Phil etwas erledigt hatte oder ihm eine Problemlösung vorschlug. Doch das konnte unmöglich der Grund für einen solchen Blick sein. Nein, schloss Phil, die Faszination galt seiner Person. Gut, vielleicht seinem Äusseren, aber das war ja ein- und dasselbe. Dass Seidenbast gay war, war Phil von Anfang an klar gewesen. Egal. Dieser angesehene Buch- und Weinhändler fand Gefallen an ihm. Dieser souveräne, selbstsichere, hochgebildete und nicht unansehnliche ältere Herr, dem alle Welt auserlesenen Geschmack attestierte, schien von ihm fasziniert zu sein. Das war eine Kostbarkeit, der musste er Sorge tragen.
Ich darf ihn auf keinen Fall enttäuschen, dachte Phil.
Jetzt bereute er, dass er sich mit Wexler vorgestellt hatte. Das liess sich nun nicht mehr richtigstellen, er musste dabei bleiben. Wenn er diesen völlig unnötigen Schwindel jetzt gestehen würde, wäre Seidenbasts Enttäuschung bestimmt grenzenlos. Froh war Phil dagegen, dass er sich nicht hatte dazu hinreissen lassen, den wahren Grund dafür zu nennen, weshalb er keine Abend- oder Nachtschicht einlegen konnte. Das Handicap würde ja in wenigen Wochen wegfallen.
«Können wir das nach Ladenschluss besprechen?», schlug Seidenbast kürzlich vor. Phil hatte ihm den Entwurf einer Website für Buch&Wein vorgelegt.
«Geht leider nicht», sagte Phil. «Ich bin verabredet.»
«Macht nichts. Dann morgen Abend?»
«Bedaure», wand sich Phil, «aber ich kann abends eigentlich fast nie.»
«Fast? Dann sagen Sie mir, wann es geht.»
«Gar nie, tut mir leid.»
«Sie können abends nie?» Seidenbast klang mehr verwundert als enttäuscht. «Schade. Wieso denn nicht? Ausnahmsweise?»
«Nun, ich muss …», setzte Phil an.
«Lassen Sie», unterbrach ihn Seidenbast. «Wir hatten einen halben Tag vereinbart. Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig.» Das war vor acht Tagen gewesen.
Linda Larsson sass schon im Café am Hottingerplatz. Phil hatte es angemessen gefunden, einen Treffpunkt in der Nähe von Zanggers Praxis zu wählen. Er hatte sich gehütet, zu fragen, ob ihr der Ort passe, es sollte nicht nach einem Rendezvous aussehen.
«Wo drückt der Schuh?», fragte er, als sie ihr Lemonsoda und er seinen Macchiato vor sich hatten. Das Café war fast leer. Er war sich ziemlich sicher, dass es nichts Gravierendes sein konnte. So ähnlich wie bei mir, dachte er, sie sieht ja ganz gesund aus. Gesund und sexy. Depro oder schizo oder so was ist sie bestimmt nicht.
Sie sei wegen Panikattacken bei Doktor Zangger in Behandlung, sagte sie.
Panikattacken?, dachte er, super. Er hätte ihr aus dem Stegreif ein paar Beruhigungsmethoden vorschlagen können. Zur Sicherheit würde er sich auf dem Internet über dieses Problem schlaumachen.
Sie habe die Störung schon recht gut unter Kontrolle, erklärte Linda, aber gestern habe sie aus heiterem Himmel einen Rückfall gehabt, das verunsichere sie sehr.
«Na klar», sagte er. «Aber keine Sorge, das kriegen wir hin. Was ist denn gestern passiert?»
Nichts sei passiert, das sei ja das Beunruhigende. Ihr sei bloss eingefallen, dass Doktor Zanggers Praxis jetzt für eine Weile geschlossen sei. Vielleicht sei das der Auslöser gewesen.
Dann ist er also schon weg?, wunderte sich Phil. Wusste ich gar nicht, ich dachte, er verreise erst nächste Woche. Dann hätten wir uns ja gar nicht in diesem biederen Café treffen müssen.
Ausserdem habe ihr Ex angerufen und ihr einmal mehr eine Szene gemacht.
Ihr Ex? Das war für Phil ein willkommener Aufhänger. Nun durfte er ihr ungeniert ein paar Fragen stellen. Zu früheren Beziehungen und zu ihren aktuellen Lebensumständen.
Eine Unschuld vom Land ist sie nicht gerade, dachte Phil, als sie zu Ende erzählt hatte. Im Gegenteil, sie hat es faustdick hinter den Ohren. Und sie weiss, was sie will, so was gefällt mir. Angstzustände passen eigentlich gar nicht zu ihr.
Das Gespräch dauerte mehr als eine Stunde. Linda sagte, sie fühle sich besser. Irgendwie sicherer. Und bedankte sich für die Zeit, die er sich genommen hatte. Ob es eine Nachkontrolle brauche?
«Wäre ratsam», meinte Phil. Er müsse bloss zusehen, wie er sich die Zeit freischaufeln könne. Seine wissenschaftliche Arbeit befinde sich in einer heiklen Phase. Sie solle ihn bitte wieder über sein Handy kontaktieren, am besten noch diese Woche. Bloss nicht am Wochenende, da sei er extrem beschäftigt.
Von Freitagabend bis Montag früh musste Phil seine Zeit in Winterthur totschlagen. Wirklich schlimm war das nicht, das grün getünchte Haus in einem Wohnquartier, unter Insidern hiess es Villa Verde, war ja kein richtiger Knast. Es gab einen Garten, freilich von einer hohen Mauer umgeben, und Gemeinschaftsräume. Man konnte sogar Fitnesstraining machen und fernsehen. Aber todlangweilig war es, Phil durfte das Haus während des ganzen Wochenendes nicht verlassen, sein Handy und seinen Laptop nicht benutzen, und für die Nacht wurde er in seiner Zelle eingeschlossen. Phil suchte keinen Kontakt mit den anderen Knastis, er legte sich mit keinem an, schloss aber auch keine Bekanntschaften. Denn nach seinem Empfinden gehörte er nicht in ihren Kreis. Er war ja kein Krimineller. Er schätzte sich glücklich, dass er in einem Einer-, nicht in einem Zweierschlag untergebracht war. Trotzdem, es war höchste Zeit, dass diese Zeit zu Ende ging. Seit Monaten konnte er weder am Feierabend noch an den Wochenenden ausgehen. Keine Freunde treffen und keine Frau daten, rein gar nichts. Er war heilfroh, dass er wenigstens wochentags tun und lassen konnte, was er wollte. Wäre es nach den Vorschriften gegangen, so hätte er jeweils auf direktem Weg an seine Arbeitsstelle fahren und nach der Arbeit sofort nach Winterthur einrücken müssen. Er hätte seinen Arbeitsplatz während der Arbeitszeit nicht verlassen dürfen, und sich tagsüber in der Stadt herumtreiben wäre schon gar nicht erlaubt gewesen. Aber Max war ein patenter Kerl. Er würde jederzeit bestätigen, dass Phil von neun Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags an seinem Arbeitsplatz sitze. Oder, wenn es einmal zu einer Überraschungskontrolle käme, dass er ihn nur kurz weggeschickt habe, um eine Besorgung für ihn zu erledigen. Gegen den neuen Job bei Buch&Wein hatte er nichts einzuwenden gehabt. Sie hatten aber vereinbart, dass er abends stets noch rasch reinschaue oder anrufe, bevor er nach Winterthur fuhr.
Das Gespräch mit Linda hatte Phil angetörnt. Er versuchte auf andere Gedanken zu kommen, denn es würde noch ein oder zwei Wochen dauern, bis er sie vernaschen konnte. So lange, bis sie sich wieder meldete – das würde sie, dessen war er sich sicher – und er sie in Zanggers Praxis bestellen konnte. Er hatte darauf geachtet, ihr bloss ins Gesicht und auf die Hände zu sehen. Ihren Hals und ihre nackten Unterarme hatte er bei dieser Gelegenheit natürlich nicht ausblenden können.
Haut, Haut, Haut, dachte er. Ich brauche Haut, Frauenhaut. Er musste etwas gegen dieses Reissen tun. Wenigstens einen weiteren Kaffee, dachte er und ging ins Seefeld hinunter.
«Herr, warten Sie –, Herr Zulauf, habe ich recht?»
Der Italo schien sich echt zu freuen, dass Phil sein Angebot annahm, einfach reinzuschauen und einen Espresso zu trinken. Und Phil tat es gut, wiedererkannt zu werden. Der Italo verschwand im Hinterraum, um den Kaffee zu holen. Phil betrachtete die salopp gekleideten Schaufensterpuppen, diesmal von innen – und fuhr zusammen. Vor dem Fenster, nur ein, zwei Meter von ihm entfernt, ging Doktor Zangger vorbei. Einen Augenblick fürchtete Phil, er werde vor dem Schaufenster stehen bleiben – er trat vorsichtshalber einen Schritt zurück – oder gar den Laden betreten. Dann müsste er sich aus dem Staub machen, bevor der Italo zurückkam. Wenn er nämlich aus purem Zufall zwei Personen begegnen sollte, die ihn unter verschiedenen Namen kannten, konnte es brenzlig werden. Doch Zangger ging, ohne die feinen Klamotten im Schaufenster eines Blicks zu würdigen, am Laden vorbei, und Phil entspannte sich.
Er ist also doch noch da, dachte er. Aber in acht Tagen ist er weg, so steht es auf seiner Website.
Der Italo kam mit zwei kleinen Tässchen, sie quatschten ein bisschen, dann machte sich Phil auf den Weg. Er beschloss, noch einmal zur Arbeit zu gehen.
Seidenbast stand im Laden und sprach mit einem Kunden. Sein Boss lehnte an der Theke in der Mitte des Ladens. Auf der linken Seite des Ladenlokals waren die Bücherregale, in denen der Kunde stöbern konnte. Rechts standen die Weinregale. Im hinteren Teil waren zwei Zimmer, das grössere war als Büro eingerichtet, gross genug für zwei Arbeitsplätze und zwei bequeme Sessel. Das kleinere war Teeküche, Fax- und Kopierraum in einem. Noch etwas weiter hinten ging eine Treppe in den Weinkeller und ins Bücherlager hinunter. Das Ladenlokal war von Seidenbast so eingerichtet worden, dass die Grenzen zwischen antiquarischen Büchern und Weinflaschen fliessend blieben. Seidenbast liebte es, seine Kunden quasi zwischen den Welten zu bedienen: an der langen Holztheke in modernem Design konnte man im Stehen einen Wein degustieren oder in einem Buch blättern. Den einen oder andern Weinfleck auf gebrauchten Büchern nahm Seidenbast in Kauf. Bibliophile Kostbarkeiten freilich wurden nur an einem grossen Tisch in der hintersten Ecke des Buchladens, weit weg von allen Flaschen, präsentiert.
Phil gab seinem Boss stumm zu verstehen, dass er sich um die Computer kümmern werde. Beschwingt ging er nach hinten, streckte, bereit für einen kleinen Scherz, den Kopf in den Allzweckraum, wo er Frau Preisig vermutete. Sie war aber nicht da. Vor sich hinsummend und in der Erwartung, Frau Preisig vielleicht im Büro zu treffen – denn diese konnte es jederzeit für notwendig erachten, dort abzustauben oder aufzuräumen, und dann gab es selbst für Seidenbast kein Pardon, man musste sie gewähren lassen –, gut gelaunt also stiess Phil die Tür zum Büro auf, die nur angelehnt war. Und drehte sich im gleichen Augenblick, als ob ihm einer die Faust in die Magengrube gerammt hätte, wieder weg. Er duckte sich und stürzte, halbwegs gebückt, an Seidenbast vorbei aus dem Laden. Draussen richtete er sich auf, atmete tief durch und suchte das Weite.
Uff, dachte er. Was zum Teufel hat Zangger in unserem Büro zu suchen?
Wäre Zangger mit Seidenbast an der Theke gestanden, wäre sein Namensschwindel aufgeflogen. Aber Zangger stand nicht an der Theke, er stöberte auch nicht in den Bücher- oder Weinregalen, er sass in Seidenbasts Büro. Das konnte nur bedeuten, dass Zangger ein Bekannter oder Freund seines Chefs war, denn Kunden bat dieser nie in sein Büro. Zangger hatte in einem Sessel gesessen, ganz so, als fühle er sich in Seidenbasts Büro zuhause. Er hatte in einen Bildband auf seinen Knien geguckt, und auf dem Beistelltischchen stand ein halbvolles Weinglas. Phil war schon wieder draussen gewesen, noch ehe Zangger den Kopf wandte und sich ihre Blicke getroffen hätten.
Beim Opernhaus stieg er aus. Im Untergeschoss des Globus gab es stets irgendwelche Degustationshäppchen. Die Art, wie manche Kunden sich die angebotenen feinen Sachen im Vorbeigehen schnappten, ohne die Damen eines Blicks zu würdigen, die Häppchen wortlos in den Mund stopften und weitergingen, ohne etwas zu kaufen, empfand Phil als stillos. Da hatte er andere Manieren: Er blieb stehen, erkundigte sich freundlich, was es denn sei, hörte sich die Erklärungen der jungen oder älteren Frauen an – heute wurden Pumpernickelecken mit sämigem und mit pikantem Weichkäseaufstrich offeriert –, pries die Kostproben, bedankte sich höflich und ging erst dann weiter. Die Frauen und Mädchen dankten es ihm mit einem Lächeln. Er umgekehrt freute sich nicht nur an den kleinen Köstlichkeiten, sondern auch daran, dass man seine Aufmerksamkeit schätzte. Er mochte es, wenn die Menschen ihn mochten. Phil blieb abermals stehen, denn heute gab es weiter hinten eine neue Champagnermarke zu degustieren. Er versuchte sowohl den Brut als auch den Rosé. Doch es nützte alles nichts. Das Selbstablenkungsmanöver wollte nicht gelingen. Die Sache vertrug keinen Aufschub mehr.
Er ging zum Bahnhof Stadelhofen zurück und nahm die S-Bahn. Am Bahnhof Oerlikon stieg er aus, eilte am Neumarkthochhaus vorbei, um zwei, drei Strassenecken, und war an seiner Adresse. Im Obergeschoss der Maison Rose arbeitete seine Favoritin. Zuoberst, im Penthouse, residierten die Luxusdamen, die er sich nie und nimmer hätte leisten können.
Das war das letzte Mal mit der kleinen Brasilianerin, sagte er sich, als er wieder ging. Bald würde er eine Freundin haben: Linda Larsson. Bei seinem Türken verköstigte er sich mit einer Portion Kebab und trank im Stehen ein Bier. Es blieb ihm keine Zeit mehr, bei MacMax vorbeizuschauen, er musste sich auf die S-Bahn nach Winterthur sputen, um rechtzeitig Chez Toggweiler einzutreffen.