Читать книгу Der Seelenwexler - Kaspar Wolfensberger - Страница 8
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Heute war ein Retrotag: einer der Tage, an denen Zangger von Kindheitserinnerungen eingeholt wurde, ohne dass er es wollte. Die Retrotage häuften sich in letzter Zeit. Er stand im Snow-n-Sand, um sich für Schottland einzukleiden. Kleiderkaufen war für ihn schon immer ein Greuel gewesen. Als Kind hatte es ihn nie gereizt, seiner Mutter beim Nähen und Schneidern zuzusehen – viel schöner fand er es, wenn sie einen Kuchen buk –, und wenn er sie zur Schneiderin oder in einen Hutladen begleiten musste, ödete es ihn an. Es roch in diesen Ateliers nach gar nichts, und die langweilige Stille, die darin herrschte, war irgendwie bedrückend. Nicht zu vergleichen mit einer Bäckerei oder einer Schreinerei. Selbst der Milch- und Käseladen dünkte ihn aufregenderes Territorium. Mutter setzte sich einen Hut auf und fragte Lukas, wie er ihm gefalle. Er gefiel ihm überhaupt nicht, denn er sah ganz anders aus als der, den sie zuhause hatte. Dann einen andern und wieder einen, bis er behauptete, der, den sie jetzt auf dem Kopf habe, gefalle ihm. Nur um der Warterei ein Ende zu machen. Den kaufte sie aber nicht, sondern entschied sich für den allerersten. Einmal zupfte er aus purer Langeweile und Zappeligkeit sämtliche Stecknadeln und Fäden aus einem Kostüm heraus, das, provisorisch zusammengesteckt, an einer Schneiderbüste hing. Das Kostüm landete, in seine Einzelteile zerlegt, auf dem Fussboden. Die Schneiderin tat ganz aufgeregt, und fortan war Lukas von solchen Begleitgängen dispensiert. Ging es um Kleider für ihn selber, so sagte ihm das keinen Deut mehr zu. Die Zanggers mussten zwar nicht jeden Rappen, aber sicherlich jeden Franken umdrehen. Mutter schneiderte die Kleider selber, aber manchmal ging man zur Knabenschneiderin: wenn es besonders gute Hosen sein mussten. Die waren aber nicht etwa aus feinem, sondern aus robustem Stoff, Manchester, gefertigt, und Hannes und Georg mussten sie austragen, wenn sie Lukas nicht mehr passten. Stundenlang, so kam es ihm vor, musste er sich gedulden, bis Mutter alle Stoffe gesehen und in die Finger genommen hatte. Wurde er gefragt, welcher ihm gefalle, und zeigte er auf den beigen, so beschieden ihm die Frauen, der sei zu heikel. Der braune gefalle ihm doch bestimmt auch. Er schüttelte den Kopf, aber die Hosen wurden aus dem braunen Stoff geschneidert. Das Resultat, die fertigen Hosen, interessierte ihn dann sowieso nicht besonders. Hosen waren für ihn Hosen, morgens zum An- und abends zum Ausziehen. Nur einmal hatte er sich brennend für Mode interessiert, mit fünfzehn. Da hatte er die fixe Idee, dass ein Bursche in einem Dufflecoat umwerfend aussehe. Er war überzeugt, dass dieser neumodische kamelbraune Mantel mit Knebeln anstelle von Knöpfen einen buchstäblich unwiderstehlich mache. Besonders, wenn man dazu ein Halstuch, nein, einen wollenen shawl trug. Mit Schottenmuster, rot mit grün-schwarzem Karo. Er hatte in der Illustrierten einen Jüngling mit dieser Ausstattung abgebildet gesehen. Lukas hatte sich auf Weihnachten einen solchen «Chlüpplisack» gewünscht. Seine Eltern hatten ihren Ohren nicht getraut, aber sie hatten ihm den Wunsch erfüllt. Bloss war dann die Wirkung bei weitem nicht so durchschlagend gewesen, wie er sich eingebildet hatte. Das heisst, eigentlich war sie vollständig ausgeblieben, und so war es mit Lukas Zanggers Interesse an der Herrenmode rasch wieder vorbei gewesen.
Zangger konnte nichts gegen solche Erinnerungen tun, er wollte auch gar nicht. Es waren wehmütige, angenehm schmerzliche Seelenzustände. Wie eine Fussmassage, die weh- und zugleich guttat.
«Du trauerst deiner Jugend nach», war Seidenbasts Kommentar gewesen, als er ihm einmal von seinen Retrotagen erzählte. «A la recherche du temps perdu.»
«Vielleicht», erwiderte Zangger. Er mochte es nicht besonders, wenn sein Freund ihn analysierte. Und er wollte keinen Vortrag über Marcel Proust hören.
«Das alte Lied», sagte Seidenbast damals, unerwartet nachsichtig. «Wer könnte es nicht singen, wenn er einmal so alt ist wie wir?»
«Du sagst es.»
Sie schwiegen beide eine Weile.
«Die perfekte Methode, die Gegenwart zu verpassen», lautete Seidenbasts nüchterner Schluss.
Zangger hatte sich fast gerüffelt gefühlt.
Aber es stimmte: Auch jetzt hätte er vor lauter Kindheitserinnerungen beinahe die Gegenwart verpasst. Er gab sich einen Ruck. Denn das hier war etwas anderes. Nicht Herrenmode stand heute auf dem Programm, sondern Trekkingausstattung. Da war keine Kleiderverkäuferin, die Zangger einredete, dieses oder jenes Modell stehe ihm vorzüglich. Kein Verkäufer, der ihn belehrte, man trage es heute so, wenn er fand, die Hose sei zu weit oder die Jacke zu eng. Nein, beraten wurde Zangger von seinen Söhnen.
«Nimm die», meinte Fabian, nahm seinem Vater den moosgrünen Lumber aus der Hand und reichte ihm eine signalrote Goretexjacke. «Mut zur Farbe», war sein Kommentar. «Und damit man dich findet», lachte er, «wenn du irgendwo abstürzt.» Der Pfadfinder in der Familie riet ihm zu Funktionsunterwäsche, einem Fleece, das er auch unter der Windjacke tragen konnte, und einem Paar Regenhosen.
Tom war für die technischen Dinge zuständig. Er legte grossen Eifer an den Tag, Zangger vom Segen der modernen Elektronik zu überzeugen. Ohne Erfolg. Er hatte gehofft, seinen Vater endlich zum Kauf eines Handys bewegen zu können. Zangger wollte nach wie vor keines. Auch keinen Reiseradiowecker mit weltweitem Kurzwellenempfang. Und kein Solarladegerät.
«Aber deinen Laptop nimmst du doch mit?», vergewisserte sich Tom.
«Bestimmt nicht», sagte Zangger, «ich mache Ferien.»
«Du bist wirklich ein Dinosaurier, Pa.»
«Wie meinst du das? Als Kompliment?»
«Vom Aussterben bedroht, das meine ich. Unfähig, dich den neuen Lebensbedingungen anzupassen.»
Zangger lachte. Er liebte diese Frotzeleien. Er fühlte sich gleich ein bisschen jünger. Aber Tom setzte eine besorgte Miene auf.
«Ich weiss nicht, Pa», meinte er und wiegte den Kopf. «Ohne Kommunikationstool auf ein Trekking? Es geht zwar nur nach Schottland, aber auf den Caledonia Hilltreks seid ihr tagelang unterwegs, weit ab von der nächsten Strasse oder Siedlung. Stimmt doch, oder?»
Zangger gab ihm recht.
«Und das ohne Handy? Das ist doch verantwortungslos.»
Verantwortungslos, dachte Zangger, das sagt sonst der Vater zum Sohn.
«Nimmt Ma wenigstens ihres mit?», wollte Tom wissen. «Wer weiss», wog er dann ab, «vielleicht habt ihr nicht einmal Empfang. Ihr solltet ein Walky-Talky kaufen, für den Fall, dass ihr euch aus den Augen verliert.»
Die Fürsorglichkeit seines Sohns rührte Zangger. Auf das Walky-Talky ging er trotzdem nicht ein. Dafür kaufte er die Halogenstirnlampe, die ihm Tom empfohlen hatte. Auch den neuen Leatherman mit Kombizange und Schere, denn gegen Mechanik hatte er nichts einzuwenden. Bei der Campingtischlampe blieb er stur. Das batteriebetriebene LED-Gerät kam nicht in Frage, da würde er lieber die alte Petroleumlampe wieder ausgraben.
Zangger hatte nicht mehr oft Gelegenheit, mit seinen Söhnen in die Stadt zu gehen. Umso mehr genoss er den Anlass. Nach dem Einkauf im Snow-n-Sand lud er sie, wie in früheren Zeiten, zu einem Hamburgerfrass ein. Mona wäre entsetzt gewesen, aber den drei Männern schmeckte der Junkfood wie ein Gourmetmenü. Danach schlenderten sie durchs Niederdorf. Tom drehte sich nach jeder hübschen jungen Frau um. Umgekehrt, das nahm Zangger mit einem gewissen Stolz wahr, zogen die ungleichen Brüder die Blicke der jungen Mädchen auf sich. Wenn er früher mit seinen Töchtern, die ein paar Jahre älter waren als die Zwillinge, auf einem Stadtbummel gewesen war, hatte er es weniger entspannt erlebt: Die flanierenden Männer hatten Claudia mit begehrlichen Augen gemustert, aber von Mona hatte keiner Notiz genommen. Und das hatte, wer immer dabei war, über kurz oder lang büssen müssen. Man musste sich jederzeit darauf gefasst machen, dass Mona auf offener Strasse oder im Restaurant eine hässliche Szene veranstaltete, die Mutter beschimpfte und sich unter Getöse davonmachte. Oder die Schwester vor den unbekannten Verehrern verhöhnte. Dass sie selber mit ihrem Gesichtsausdruck und ihrer Aufmachung alles dazu beitrug, auf Ablehnung statt auf Sympathie zu stossen, das hatten ihr Tina und Zangger umsonst klar zu machen versucht.
Vor der Condomeria blieben die Burschen stehen und sahen sich, ohne Rücksicht auf ihren Vater, die Auslagen an.
«Brauchst du etwas?», neckte Fabian seinen Bruder. «Ich hols dir, wenn du dich nicht rein traust.»
Tom versetzte ihm mit dem Ellbogen einen Puff.
Sie gingen weiter.
Ein Mann trat aus einem Haus. Den kenne ich doch, dachte Zangger. Es war Herr Knüttl. Zangger hatte es sich abgewöhnt, als Erster zu grüssen, wenn er nicht sicher sein konnte, ob das der andern Person willkommen war. Denn Patienten wollten in der Öffentlichkeit lieber nicht von ihrem Psychiater gegrüsst oder gar angesprochen werden. Er hatte deshalb gelernt, die Sekunde zu warten, die es dem andern erlaubte, so zu tun, als habe man sich gar nicht gesehen. Herr Knüttl hatte Zangger sehr wohl gesehen, denn seine Augen verrieten einen leisen Schreck und er fuhr mit der Hand blitzschnell über seinen Hosenladen. Eine Reflexbewegung, die er selber vermutlich nicht wahrnahm. Er tat, als habe er Zangger nicht gesehen. Zangger war es recht. Aha, dachte er, Seidenbast hat den Nagel wieder einmal auf den Kopf getroffen: Knüttl hat bereits eine andere, eine von der käuflichen Sorte. Aber länger mochte er sich nicht mit ihm befassen. Leid tut mir nur seine Frau, dachte er noch, dann schob er den unerfreulichen Fall beiseite.
Durchs Oberdorf schlenderten sie zum Bellevue weiter. Zangger wäre bei dem frühsommerlichen Wetter gern mit seinen Söhnen auf der Seepromenade spazieren gegangen. Die beiden wollten aber lieber ins Kino. Nach der Vorstellung genehmigten sie sich eine Bratwurst, die sie im Stehen verdrückten, dann verabschiedeten sich die beiden mit einer nonchalanten Handbewegung für den Rest des Abends von ihm. Er sah ihnen nach. Stolz, ein wenig wehmütig und ein kleines bisschen neidisch. Das alte Lied, dachte er. A la recherche du temps perdu.