Читать книгу Der Seelenwexler - Kaspar Wolfensberger - Страница 12
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Sonst hatte es Zangger stets genossen, als Strohwitwer für einige Tage allein zu sein. Oder auch für ein, zwei oder drei Wochen ein Junggesellenleben zu führen, wenn Tina in Weiterbildung oder mit einer Freundin auf Reisen war.
Jetzt nicht.
Er ass Pasta direkt aus der Pfanne, aber nicht weil es Spass machte, sondern weil er die Energie nicht aufbrachte, anständig zu kochen und den Tisch zu decken. Er trank abends mehr Wein als sonst, manchmal zu viel Whisky. Aber nicht aus Freude an einem edlen Tropfen, sondern weil er sich herunterfahren musste. Er dimmte, entgegen seiner Gewohnheit, abends zuhause alle Lichter, in seiner Praxis zog er tagsüber die Vorhänge, denn helles Licht schmerzte ihn in den Augen. Er ärgerte sich über jede Kleinigkeit. Musik vertrug er keine, nicht einmal einen Blues von Billie Holiday. Auch die Händelsonaten nicht, die ihn sonst in eine meditative Ruhe versetzten. Eine Brahmssinfonie schon gar nicht. Er empfand jedes Geräusch als Lärm. Genervt hiess er Tom, gefälligst seine Stereoanlage leiser zu stellen. Eine Schelte, die sonst nur Mona zu hören bekam. Mona war die meiste Zeit gar nicht zuhause, und wenn sie da war, gab es unweigerlich Krach. Aus schlechtem Gewissen schlug Zangger ihr und den Söhnen vor, am Samstagabend draussen zu grillen. Er kaufte grosszügig Fleisch ein, für Mona drei üppige Vegispiesse, besorgte den Söhnen zuliebe Bier statt Wein, für Mona Leichtbier mit Fruchtgeschmack, aber die Stimmung war längst nicht so entspannt wie sonst. Zangger spürte, dass seine Söhne ein bisschen auf Distanz gingen. Von Mona war er nichts anderes gewohnt – sie tauchte an dem Abend gar nicht auf und behauptete später, er habe sie nicht eingeladen -, aber dass es jetzt auch mit Tom und Fabian schwierig wurde, gab ihm zu denken.
«Was stimmt eigentlich nicht mit Mama und dir?», wollte Fabian wissen. Er stand am Grill und wendete die Lammkoteletts.
«Wieso?», fragte Zangger. Hatte er seine Missstimmung wirklich so schlecht verbergen können?
«Nur so», machte Fabian. «Das spürt man doch.»
Zangger erwiderte, es mache ihm zu schaffen, dass Tina ohne ihn nach Afrika reise. Und möglicherweise mehrere Wochen wegbleibe.
«Ach so. Na ja, wenn es das ist.»
«Dir gehts nicht gut», meinte Tom. «Bist du krank?»
Zangger sah ihn überrascht an. Die Frage rührte ihn.
«Ich glaube nicht.»
«Aber überarbeitet, nicht wahr? Das hat Ma jedenfalls gesagt. Oder bist du sauer, weil sie so plötzlich verreist ist?»
«Von allem ein bisschen», gab Zangger zu. «Aber es wird bald besser», fuhr er fort, bemüht, die Sorgen der Söhne zu zerstreuen. «Noch eine Woche, dann habe ich Ferien.»
«Wann fährst du?», fragte Tom.
«Weiss ich noch nicht. Sobald alles fertig ist: die Arbeit in der Praxis, das Seminar, der Camper. Ausgerüstet bin ich ja», lachte Zangger. Die Erinnerung an den gemeinsamen Einkauf im Snow-n-Sand schmerzte zwar ein wenig. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen.
«Ich reise am Sonntag», stellte Fabian fest.
«Du meine Güte!», rief Zangger erschreckt: «Also morgen?» Das hatte noch gefehlt, dass er um ein Haar die Abreise seines Sohns verpasste. Er hatte sich gar nicht mehr gross um Fabians Pläne gekümmert, Tina war da engagierter gewesen. Fabian hatte sich entschieden, nicht erst auf Semesterbeginn nach Montpellier zu reisen, sondern schon den Sommer dort zu verbringen und mit Louis einen Sprachkurs zu besuchen, um sein Französisch aufzupolieren. Danach begann das dritte Jahr seines Medizinstudiums.
«Nein, erst in einer Woche natürlich.»
«Klappt denn auch alles? Mit dem Zimmer? Mit der Uni?»
«Ja, ja. Keine Sorge.»
«Brauchst du noch etwas?»
«Nein, nein.»
Es wäre Zangger lieber gewesen, Fabian hätte irgendeine Frage gehabt oder konkrete Hilfe benötigt. Er fühlte sich fast ein wenig abgewimmelt.
Immerhin hatte er seine Arbeit. Doch die bereitete ihm nicht mehr die gleiche Freude wie auch schon. Im Gegenteil, es wurde ihm – zum ersten Mal in seinem beruflichen Leben – alles zu viel. Die letzten zehn Tage vor den Ferien waren gerüttelt voll. Krankengeschichten mussten nachgetragen, ein, zwei Gutachten zu Ende gebracht, Zeugnisse und Atteste verfasst und Honorarrechnungen geschrieben werden. Das letzte Seminar vor seinen Ferien stand noch an. Das alles neben der randvollen Sprechstunde, denn die meisten seiner Patienten wollten kurz vor seiner Abreise noch eine letzte Konsultation. Zangger musste sich über die Runden kämpfen und sehnte den Tag herbei, an dem er alle Patientenakten schliessen und abhauen konnte.
Frau Zindel beschwerte sich über Löcher, die man ihr in die Strümpfe gemacht habe. Nein, die Strümpfe seien nicht durchgescheuert, die Löcher seien hineingemacht worden. Ausserdem habe sich jemand in ihrer Abwesenheit aus dem Töpfchen mit ihrer Gesichtscrème im Spiegelschränkchen bedient. Wie die Person in ihr Badezimmer hineingelangt sei, das könne sie sich auch nicht erklären, aber Tatsache sei, dass jemand mit einem kleinen Löffelchen Gesichtscrème aus dem Töpfchen gestohlen habe. Zangger unternahm einen weiteren Versuch, Frau Zindel zur Einnahme ihrer Medikamente zu bewegen. Aber er hatte fast damit gerechnet, dass sie seine Empfehlung in den Wind schlagen würde.
An einem der letzten Tage vor seinen Ferien rief eine Frau an – Krugmann mit Namen –, die an seinem letzten Nerv zerrte. Nach wenigen Sätzen war Zangger nämlich klar, dass sie einen alkoholkranken Ehemann hatte, der sich in einem bedenklichen Zustand befand. Im Augenblick handle es sich nicht um ein psychiatrisches, sondern um ein medizinisches Problem, versuchte Zangger ihr klar zu machen. Sie müsse den Hausarzt rufen, der ihren Mann ins Spital einweisen werde. Doch dafür war Frau Krugmann nicht zu haben. Zangger hatte nicht die Kraft, gegen Windmühlen zu kämpfen. Über kurz oder lang würden die Dinge ihren Lauf nehmen, dachte er. Spätestens, wenn der Notarzt kommen musste, weil der Patient im Delirium landete. Mit nur halbwegs gutem Gewissen hatte er das Telefongespräch beendet.
Frau Stoller, eine alte Dame, war nach der akuten Verschlechterung einer seit langem bestehenden Leukämie in eine tiefe Depression gefallen. Ihr Hausarzt und der Hämatologe hatten ihr, da sie es ausdrücklich verlangte, reinen Wein eingeschenkt. Sie wusste, dass die Chemotherapie keinen Erfolg gebracht hatte und dass ihre Lebensuhr bald ablaufen würde. Sie war untröstlich darüber, dass sie das bevorstehende grosse Familienfest nicht mehr werde erleben können. Und dass sie mit ihrem vorhersehbaren Sterben den Angehörigen die Festfreude verderben könnte. Zangger hatte nach den Regeln der Kunst mit ihr gearbeitet, mit Psychotherapie in einer Form, wie sie für Todkranke angemessen war, und mit Antidepressiva, aber aufgehellt hatte sich ihr Zustand nicht wirklich. Er hatte Frau Stoller geraten, während seiner Abwesenheit die Behandlung bei einem seiner Praxisvertreter weiterzuführen. Frau Stoller hatte sich bedankt, ihm aber zu verstehen gegeben, dass sie das nicht wolle.
Lichtblicke gab es nur wenige. Linda Larsson war so ein Lichtblick gewesen. Aber ihre Behandlung hatte er schon vor einigen Wochen abschliessen können. Das kam vor, wenn doch auch eher selten: dass die Therapie einer ernsthaften Störung nach wenigen Sitzungen erfolgreich zu Ende ging, und erst noch ohne Medikamente. Die aufgeweckte junge Frau war ihre Probleme zielstrebig angegangen und hatte sie in kürzester Zeit in den Griff bekommen. Zangger bedauerte es fast ein wenig, sie so rasch geheilt zu haben. Sie war in seiner Praxis A Breath of Fresh Air gewesen.
Der Sunnyboy unter seinen Patienten, Gion Caduff, kam in dieser Zeit ein paar weitere Male zum Gespräch. Es war jedes Mal eine erfrischende Stunde. Der Patient beichtete offenherzig, was er Zangger in der vorherigen Stunde vorgeflunkert hatte. Es waren keine weltbewegenden Geständnisse: Er habe gar keine Freundin, er habe sich bloss in die Hotelpraktikantin Nicole verknallt. Die Stelle bei der Bank habe er nicht gekündigt, sondern er sei wegen Verstössen gegen interne Vorschriften entlassen worden. In Tat und Wahrheit sei er noch kein Informatikstudent, er werde das Studium erst im Herbst aufnehmen. Und ein paar weitere Dinge dieses Kalibers. Sie hatten gemeinsam herausgearbeitet, dass es sich bei seinen Schwindeleien um ein altes, in der Kindheit angeeignetes Muster handelte, das ursprünglich dazu gedient hatte, Prügel zu vermeiden. Mit der Zeit hatte sich das Motiv verändert, heute ging es Caduff in erster Linie darum, in den Augen der andern besser dazustehen. Schwindeln aus Geltungsdrang, so lautete die vom Patienten selbst erlangte Erkenntnis.
Sobald Zangger allein war – in den Pausen zwischen den Patientenstunden, am Schreibtisch, im Auto oder zuhause –, musste er an Tina denken. Und an Afrika. Tina in Afrika und ich in Schottland, das gibts doch nicht!, haderte er.
Jahrelang war er Tina damit in den Ohren gelegen, dass sie ihn auf eine Afrikareise begleite. Er hatte sie auf einer Studentenreise nach Marokko kennen gelernt, aber danach hatte es Tina immer anderswohin gezogen. Nach Skandinavien, Russland und Japan. In Städte, nicht in die Wildnis. Kultur- und Bildungsreisen waren nach ihrem Geschmack, nicht Freiluftabenteuer. Natürlich wusste er, dass Tina in Afrika war, um zu arbeiten, nicht um in die Wildnis zu fahren. Es wurmte ihn trotzdem. Maputo kannte er nicht, er war noch nie in Mosambik gewesen. Dafür in vielen andern Ländern Afrikas: Als junger Mann hatte er Ostafrika bereist, bis nach Ruanda und hinauf nach Äthiopien und Eritrea. Ein paar Jahre später war er in seinem Camper nach Nordafrika gefahren, hatte die Sahara durchquert und den Sahel und war an der Elfenbeinküste gestrandet. Nach seiner Heirat hatte er immer wieder von jenen Reisen geschwärmt, aber Tina hatte nie angebissen. Das sei etwas für Pfadfinder, hatte sie stets gesagt, nichts für sie. Sie sei keine Abenteuerin. Afrika zu zweit blieb ein Traum.
Vor einigen Jahren, als Zangger eine Midlife-Krise durchmachte, fand Tina plötzlich, er müsse einmal richtig ausspannen. Er brauche mehr als eine Städtereise oder ein Wochenende im Hotel Therme, um sich zu erholen. Was er denn gern tun würde, um aufzutanken und auf andere Gedanken zu kommen? Vielleicht hoffte sie, er würde sich eine Reise mit der transsibirischen Eisenbahn wünschen oder ein Time-out in Japan. Aber er sagte, ohne zu zögern: das südliche Afrika bereisen. Sie sah, wie seine Augen leuchteten, und schlug ihm vor, eine Männerreise zu planen. Zuerst zögerte Zangger, aber als er merkte, dass Tina es ernst meinte und dass sie es ihm nicht übel nehmen würde, wenn er ohne sie reisen würde, ging er auf ihren Vorschlag ein. Er tat sich mit zwei alten Freunden aus dem Militär zusammen und reiste mit diesen wochenlang durch die Wildnis. Auf eigene Faust, immer auf freier Wildbahn, fernab von Safaritouristen und Luxuslodges. Mit einem robusten alten Landrover, den sie vor Ort gemietet hatten, mit Zelt und Campingausrüstung. Für mehrere Wochen Wasser, Lebensmittel und Sprit an Bord. Nacht für Nacht unter freiem Himmel. Sie folgten den Elefantenherden am Chobe, pirschten sich auf Hemingways Spuren an die Löwen von Savuti heran. Und an die Flusspferde am Unterlauf des Sambesi. Sie durchquerten die Salzwüsten Botswanas, in denen man sich hoffnungslos verirren konnte, fuhren dem Rand der Namibwüste entlang und, wo es ging, in diese hinein. Dann quer durch die Kalahari. Sie campierten unter riesigen Baobabs, scharf beobachtet von frechen Pavianen, von Erdmännchen und Gelbschnabeltukanen.
Das alte Feuer loderte wieder auf.
«Du hast das Afrikafieber», sagte Seidenbast nach jener Abenteuerreise. Und wirklich, der Virus hatte ihn wieder befallen. Periodisch erlitt er einen Rückfall und spürte ein unwiderstehliches Reissen. Im vergangenen Winter startete er einen neuen Versuch, Tina für eine Afrikareise zu gewinnen. Er suchte heimlich Flüge heraus, liess einen geländegängigen Camper reservieren und heckte eine nicht zu abenteuerliche Route durch Südafrika aus. Am Neujahrstag legte er Tina seine Reisepläne vor. Sie strich ihm liebevoll mit dem Handrücken über die Wange und sagte, sie wolle es sich überlegen. «Du hast recht», sagte sie am Dreikönigstag, «wir sollten wieder einmal eine Camperreise machen. Aber um ehrlich zu sein: Ich würde lieber nicht auf einen andern Kontinent fliegen, sondern von hier aus starten. Ich habe eine Idee», rief sie: «wir fahren nach Schottland! Dort ist es auch wild, das wird dir bestimmt gefallen.»
Schottland kann mir gestohlen bleiben!, dachte Zangger. Das Afrikafieber schüttelte ihn.
Im Alter von neun Jahren war er infiziert worden. Durch ein Buch, das er vom Grossvater geschenkt bekommen hatte. Hingerissen hatte Lukas die Bilder betrachtet, Schwarzweissfotografien von Rundhütten und Lehmbauten, Bilder von Palmen, Kamelen und Krokodilen. Und von schwarzen Menschen, schwarzen Kindern. Diese Gesichter! Die grossen schwarzen Augen. Die schwarze Haut. Die weissen Zähne. Die grossen, lachenden Münder. Nichts konnte ihn mehr faszinieren und mehr anziehen als diese Gesichter und die nackten oder halbnackten dunkelhäutigen Körper. Er entwickelte eine unbändige Sehnsucht nach dem Kontinent, auf dem solche Menschen lebten. Es war die Zeit, als man Schwarzer statt Neger zu sagen begann, aber davon wusste Lukas nichts. Für ihn war Neger der Inbegriff eines wundersamen Wesens aus einer fremden, zauberhaften Welt. Wie Indianer. Wie Krieger oder Jäger. Nur noch abenteuerlicher: Neger!
Endgültig war es um ihn geschehen, als er, zehnjährig, in den Sommerferien Khalid und Driss begegnete, zwei Buben aus Afrika. Lukas verbrachte die Sommerferien wie immer im Ferienheim Büel. Er traute seinen Augen kaum, als eines Abends ein grosser Citroën vorfuhr, dem eine Negerfamilie entstieg. Das heisst, der Vater war ein Neger, die Mutter sah ganz gewöhnlich aus. Sie redeten in einer fremden Sprache und luden zwei Buben aus, einen Neger und einen halben. Der ältere, Khalid, war fast schwarz und hätte Grossvaters Buch entsprungen sein können. Er war etwa gleich alt und gleich gross wie Lukas. Der jüngere, Driss, war bloss kaffeebraun, ein feingliedriges Bürschchen, nach Lukas’ Schätzung ein Zweit- oder Drittklässler, Khalid wie er ein Viertklässler. Lukas war fasziniert, vor allem von Khalid. Da die meisten andern Kinder vor ihnen fremdelten, packte Lukas seine Chance. Er wollte Khalid partout zum Freund haben. Tante Heidi fragte ihn, ob er im gleichen Zimmer schlafen wolle wie die beiden Buben aus Marokko. Um mit ihnen in Kontakt zu kommen, brach er eine Kissenschlacht vom Zaun, auf die sich die beiden lachend einliessen. So lange, bis Tante Heidi auftauchte und für Ruhe sorgte. In der folgenden Nacht blieb die Kissenschlacht aus, dafür führte der gelenkige Driss, nackt bis auf die weissen Unterhosen, vor dem Lichterlöschen einen afrikanischen Tanz auf. Khalid schlug den Takt. Er klatschte in die Hände, trommelte auf den Boden und auf seine schwarzen Schenkel. Lukas war hingerissen. Jeden Samstag wurde gebadet, die Kinder wurden zu zweit in die Badewanne gestellt und von Tante Heidi abgeschrubbt. Nach dem Schrubben war Plantschen im Schaumbad erlaubt. Lukas drängte sich vor, um mit Khalid in die Badewanne gestellt und geschrubbt zu werden. Er konnte sich an dem nackten schwarzen Körper kaum sattsehen. Lachend spritzten sie sich gegenseitig an. Lukas setzte Khalid eine Schaumkrone auf. Sie standen auf und guckten zusammen in den beschlagenen Spiegel. Lukas rieb mit der Hand ein Fenster und sah das schöne, schwarze Negergesicht, breit lachend unter der weissen Haube. Daneben sein eigenes, beschämend bleich, im Dampf und vor Bedeutungslosigkeit verschwindend. Sie setzten sich wieder in die Wanne, schubsten sich herum und versuchten, sich gegenseitig unter Wasser zu drücken. Lukas konnte es kaum fassen: Er hatte einen Neger zum Freund! Dass es sich bei den Brüdern um Söhne aus wohlhabendem Haus handeln musste und überdies um Städter, nicht um Wilde, darüber machte er sich keine Gedanken. Für ihn waren es zwei Buben aus Afrika, zwei echte Neger. Längst hatte Khalid seine Avancen erwidert. Er setzte sich bei Tisch neben ihn und kletterte nach dem Essen mit ihm in die Baumhütte hinauf. Die drei Wochen Sommerferien vergingen wie im Flug. Mit einem einzigen Satz verabschiedeten sich die zwei Freunde: «Tu es mon ami», hatte Lukas zum Schluss sagen können. Während Wochen, wenn nicht Monaten, wurde er von einem grenzenlosen Heimweh nach Khalid geplagt. Sie hatten nicht daran gedacht, Adressen auszutauschen, und so hoffte Lukas einfach, dass Khalid irgendwann auf wundersame Weise wieder auftauchen würde.
Diese Begegnung hinterliess bei Zangger eine Voreingenommenheit für schwarze Menschen. Ein echtes Vorurteil, nur mit positivem Vorzeichen. Es machte es ihm schwerer, nicht leichter, unbefangen mit dunkelhäutigen Patienten zu arbeiten. Und ausgerechnet jetzt musste dieser Johnathan Achebe wieder in seiner Sprechstunde auftauchen.
Achebe war eine Nervensäge. Ein Jammerlappen, den Zangger schon früher während eines Jahres behandelt hatte. Ohne nennenswerten Erfolg, wie sich jetzt herausstellte. Sohn eines Nigerianers, der irgendwann auf Nimmerwiedersehen verschwand, und einer Schweizerin, die ihn als allein erziehende Mutter aufgezogen hatte. Achebe war vierundzwanzig und konnte noch kaum einen persönlichen Erfolg vorweisen. Zwar hatte er mit Ach und Krach an einer Privatschule, deren Schulgeld sich seine Mutter am Mund absparte, die Matura bestanden, aber danach brachte er nichts mehr zustande. Er schrieb sich an der Uni ein, doch legte er keine Prüfungen ab, nahm keine Freizeitjobs an, pflegte keine Freundschaften. Er bezeichnete sich selbst bei jeder Gelegenheit als Versager, als dümmer, unwichtiger und unattraktiver als andere, seine Gesellschaft als uninteressant und sein Leben als sinnlos. Er hatte einen echten Minderwertigkeitskomplex. Dabei war seine dunkle Hautfarbe nur noch das Tüpfchen auf dem i, das seine sowieso schon gefühlte Minderwertigkeit noch unterstrich. Widerspruch oder Zuspruch halfen nichts, es musste ihm schlecht gehen – das war die einzige Lebensform, mit der er seiner Überzeugung nach Beachtung und Zuwendung, und sei es bloss von seiner Mutter und seinen Ärzten, ergattern konnte.
Hätte Zangger tief in seiner Seele geforscht, so hätte er festgestellt, dass er von Achebe ganz einfach enttäuscht war. Ein neurotischer Afrikaner!, das gabs doch gar nicht. Das beleidigte sein Afrikabild. Er hatte mausarme, verwahrloste, hungernde Afrikaner gesehen. Traumatisierte, Invalide und Kranke, auch Geisteskranke. Aber keine neurotischen. Amerikaner waren neurotisch. Und Europäer, ganz klar. Aber Afrikaner doch nicht! Eines wusste er: Um Achebe nachhaltig behandeln oder gar heilen zu können, hätte es therapeutischen Biss gebraucht. Und den hatte er verloren. Er hatte schlicht nicht die Energie dazu. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Johnathan Achebes Behandlung vorläufig auf Eis zu legen. Er wies ihn an, im Notfall auf seine Website zu gehen, dort seien seine Ferienvertreter aufgeführt, sollte er jemanden brauchen.