Читать книгу Gefährliche Botschaft - Kate Sedley - Страница 6
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ОглавлениеEtwa zehn Sekunden lang herrschte Schweigen, bevor der Herzog etwas sagte. Als er wieder sprach, klang seine Stimme schneidender und eindringlicher.
«Du kannst dir denken, daß das, was ich dir jetzt sage, streng geheim ist und ich dir blind vertraue.» Er lächelte bitter. «Bis zu dem Augenblick, da Timothy Plummer meinem Sekretär gegenüber erwähnte, er habe dich am Morgen in Exeter gesehen, war ich mit meiner Weisheit am Ende. Ich wußte nicht, was ich tun und wen ich beauftragen sollte.» Er zuckte die Achseln. «In diesen Zeiten ist es nicht leicht, jemandem Vertrauen zu schenken.» Und ich wußte, daß er abermals seinen Bruder George meinte, und dazu womöglich noch jenen anderen George, seinen Vetter, den Erzbischof von York, der inzwischen in Schloß Hammes eingekerkert war.
Rasch warf ich ein: «Euer Gnaden brauchen sich nicht zu fürchten. Mir könnt Ihr blind vertrauen.»
«Wäre ich davon nicht überzeugt, so würde ich nicht mit dir reden. Dich hat der Zufall hergeführt, doch mir kommt es wie die Antwort auf ein Stoßgebet vor. Wer weiß? Vielleicht ist es genau das.»
Vermutlich hatte er sogar recht. Gott forderte die zweite Hälfte meiner Schuld ein, die noch ausstand, weil ich die Gelegenheit ausgeschlagen hatte, einer seiner Priester zu werden. Ich beschloß, einen lebhaften Dialog mit dem Allmächtigen zu führen und ihn bei Gelegenheit zu fragen, wie lange die Buße noch andauern sollte, doch hier war weder die Zeit noch der Ort dazu. Statt dessen lächelte ich, wenngleich mit knirschenden Zähnen, und murmelte: «Gottes Wege sind unergründlich, Hoheit.»
Ich hatte den Eindruck, der Herzog blicke mich ein wenig mißtrauisch an, bevor er fortfuhr: «Dir werden sicher die Gerüchte über eine Invasion zu Ohren gekommen sein, die bereits den ganzen Frühling und Sommer über im Land kursieren. Du wirst wissen, daß man sich von Herzog François erzählt, er unterstütze Henry Tudors Anspruch auf den englischen Thron und sei bereit, ein Kontingent bretonischer Schiffe und Matrosen zu entsenden, um diesem Anspruch Nachdruck zu verleihen. Sogar jetzt, da wir uns unterhalten, kreuzt der Graf von Oxford im Ärmelkanal und wartet nur auf eine günstige Gelegenheit zum Angriff, irgendwo an unserer Küste.» Er senkte den Blick und begann mit seinen Ringen zu spielen, wobei er einen der Ringe wiederholt von seinem Daumen zog und sogleich wieder aufsteckte. «Ebenso wird dir bekannt sein, daß ... daß gewissen Personen, die dem König und mir sehr nahestehen, an diesem Verrat beteiligt waren. Kurz gesagt, mein Bruder und mein Vetter.»
Hier entstand eine etwas längere Pause, dann hob er den Blick und fuhr fort: «Der König und ich sind allerdings keinesfalls von Herzog François’ Beteiligung an diesem Vorgang überzeugt. Keiner unserer Kundschafter, weder in Brest noch in St.-Malo, hat uns gemeldet, er habe irgend etwas beobachtet, was nach einer Invasionsflotte aussehe. Dennoch haben wir uns entschlossen, einen Kurier mit einem Schreiben an den Herzog in die Bretagne zu entsenden.» Wieder zuckte er die Achseln. «Sein Inhalt ist weder für dich noch für den ausgewählten Kurier von Bedeutung. Nur soviel sei gesagt, daß gewisse Zusicherungen verlangt und Zusagen gemacht wurden. Doch ist es unbedingt notwendig, daß das Schreiben sicher an seinen Bestimmungsort gelangt.» Er stützte die Ellbogen auf und sah mich über seine verschränkten Hände hinweg regungslos an. «Du fragst dich gewiß, welche Rolle du dabei spielen sollst. Ich will es dir erklären.»
Tatsächlich hatte ich mich dies gefragt und einige wenige Schrecksekunden lang befürchtet, daß man mich zum Kurier bestimmen würde. Doch nach einigem Überlegen zerstreute sich meine Besorgnis. Für diese Mission bedurfte es eines Mannes, der sich in der Bretagne gut auskannte und dem der Herzog bekannt war. Dies traf auf mich nicht zu, da ich zu diesem Zeitpunkt noch nie zuvor das Land verlassen hatte und nichts von dem Leben jenseits des Meeres wußte. Ich murmelte irgend etwas Unverständliches und hoffte, daß Herzog Richard es für einen Ausdruck der Begeisterung halten würde.
Er fuhr fort: «Der für diesen äußerst wichtigen Botengang von Seiner Gnaden, dem König, ausgewählte Mann ist einer, den wir kennen und auch früher schon eingesetzt haben.» Er löste seine Hände aus der Verklammerung, erhob sich jählings, ging zum heruntergebrannten Kaminfeuer und starrte in die erloschene Glut. Nach einer Weile sagte er mir rauher Stimme: «Sein Name ist Philip Underdown, und ich traue ihm nicht ganz. Er hat eine zwielichtige Vergangenheit und daher auch viele Feinde. Mein Bruder hält mich für zu anspruchsvoll, doch ich zöge es vor, wenn wir Männer solcher Art gar nicht erst dingen würden. Man kann es sich eben nicht immer aussuchen, und diese Aufgabe setzt eine gewisse Verschlagenheit voraus, die unter redlichen Männern nicht zu finden ist.» Er hob den Kopf und wandte sich erneut mir zu. «Wie ich soeben erwähnte, gibt es viele Menschen, die Philip Underdown übel gesonnen sind, und deine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß er sicher nach Plymouth gelangt und an Bord des Schiffes geht, das ihn in die Bretagne bringen soll.»
«Aber ... aber warum schicken Euer Gnaden keine bewaffnete Eskorte mit ihm?» fragte ich stotternd. «Bestimmt können Eure Soldaten ihn besser schützen, als ich es vermag!»
Der Herzog lächelte schwach, als er zu seinem Lehnstuhl zurückkehrte, ein Lächeln, das sich über meine Naivität freundlich lustig machte. «Um damit jedem feindlichen Kundschafter zu signalisieren, daß ein Kurier des Königs in wichtiger Mission zum bretonischen Hof unterwegs ist? Unser Vorhaben würde sofort erraten, Herzog François würde vorgewarnt und gegen uns und unsere Vorschläge eingenommen werden, noch bevor unser Kurier einen Fuß auf bretonischen Boden gesetzt hätte. Dafür wird König Ludwig von Frankreich selbst sorgen, falls Jasper Tudor und seine Anhänger dies nicht erledigen. Nein, der König zieht es vor, daß sein Schreiben geheim bleibt, bis es in die Hände von Herzog François gelangt ist, damit er dessen Inhalt ohne Vorurteile und Umwege zur Kenntnis nehmen kann. Daher wünsche ich, daß Philip Underdown mit Begleitschutz loszieht, bis er sich sicher an Bord der Falk befindet, die übermorgen im Hafen von Plymouth auf ihn wartet. Damit ist dein Auftrag beendet, und du kannst hierher zurückkehren, um dein Bündel in Empfang zu nehmen. Bis dahin wird man es für dich aufheben. Noch heute nachmittag verlaßt ihr beide die Stadt, übernachtet in der Abtei Buckfast und zieht morgen in aller Herrgottsfrühe weiter, damit ihr ohne allzu große Eile vor Abenddämmerung in Plymouth eintrefft.» Ein jäher Gedanke durchfuhr ihn, und mit einer gewissen Besorgnis fragte er: «Du kannst doch reiten?»
Durch eine energische Verneinung seiner Frage hätte ich Gelegenheit gehabt, mich dieser Aufgabe zu entziehen, der ich mit Bestürzung und Abneigung entgegensah. Doch meine Ehrlichkeit, zusammen mit dem Empfinden, daß Gott mich aus irgendeinem besonderen Grund für diese Mission ausgewählt hatte, zwang mich zur Wahrheit: «Ein bißchen. Als Junge bin ich auf Ackergäulen geritten, mal mit, mal ohne Erlaubnis der Bauern.»
Der Herzog lachte. «In diesem Fall müssen wir für dich ein zahmes Reittier für die Reise finden und hoffen, daß der Ritt sich nicht als zu schmerzvoll erweist.» Er stand auf, ging zur Tür und öffnete sie, sprach einige Minuten mit jemandem, der vor der Tür stand, kam zurück und setzte sich wieder. «Nun, willst du mich noch etwas fragen?»
Mir lagen Dutzende von Fragen auf der Zunge, doch die brennendste war: Wer genau setzte Philip Underdown zu? Der Herzog sah sich außerstande, mir eine befriedigende Antwort darauf zu geben.
«Vielleicht niemand, vielleicht gibt es auch verschiedene Gefahrenquellen, wie ich bereits angedeutet habe. Es muß viele Menschen aus seiner Vergangenheit geben, die ihm an die Gurgel wollen, und es wäre naiv anzunehmen, daß seine Arbeit für meinen Bruder und mich während der vergangenen Jahre vollständig unbemerkt geblieben wäre. Wir selbst sind uns im klaren über die Identität einer Anzahl fremder Spione, auch derjenigen des Hauses Lancaster, die in unserem Land tätig sind. Einige sind verhaftet worden, andere lassen wir weiter ihren Verrichtungen nachgehen. Auf diese Weise können wir unsere Feinde mit gezielten Falschinformationen verwirren.» Er lächelte betrübt. «An deiner Miene kann ich erkennen, daß dir diese Welt aus Intrige und Verstellung fremd ist. Ich wünschte nur, ich hätte dir deine Unschuld gelassen, doch leider brauche ich dich. Ich habe nach Philip Underdown geschickt, er dürfte bald hier sein, sobald meine Leute ihn aus der Taverne geholt haben, in der er sich zur Zeit aufhält.» Es entstand wiederum eine Pause, und mir schien, daß dem Herzog irgend etwas durch den Kopf ging, was sehr wichtig war. Doch als er wieder sprach, sagte er nur: «Du behauptest, daß du als Junge Ackerpferde geritten hast. Wer war denn so wohlhabend, daß er sich statt der üblichen Ochsen Pferde leisten konnte?»
«Der Bischof von Bath und Wells», antwortete ich und wagte ein verschwörerisches Grinsen. Seine frühere Bemerkung über den Lebensstandard der Bischöfe ermutigte mich zu der Annahme, daß er meinen ironischen Einwurf schätzen werde. Statt dessen schien meine Bemerkung ihn zu weiteren Überlegungen anzuregen, und einige Augenblicke lang herrschte absolutes Schweigen. Schließlich suchte sein Blick den meinen. Mit einem langen dünnen Finger rieb er über einen Nasenflügel.
«Ich will aufrichtig zu dir sein, auch wenn es mir sehr gegen den Strich geht. Womöglich gibt es eine andere Gefahrenquelle für Philip Underdown. Vor kurzem war er in Gesellschaft meines Bruders, des Herzogs von Clarence, der ... der ihn verdächtigt, ein Agent der Tudors zu sein. Du siehst, zu welchem Doppelspiel wir uns genötigt sehen!» Er tat einen Seufzer, der aus den Tiefen seiner Brust kam. Es war mir zumindest klargeworden, daß er an seinem älteren Bruder hing, ungeachtet dessen persönlicher Feindschaft, Treulosigkeit und Falschheit. Herzog Richard fuhr fort: «Was ich dir nunmehr sagen werde, ist ausschließlich für deine Ohren bestimmt. Kein Wort zu irgendwem darüber! Doch angesichts der Umstände ist es nur recht und billig, daß ich es dir gegenüber erwähne, da ich Philip Underdowns Sicherheit in deine Hände lege. Mein Bruder George hütet ein Geheimnis, wenn man so sagen darf, denn er ist nicht in der Lage, es vollkommen für sich zu behalten. Andeutungen, Anspielungen und vielsagende Bemerkungen machen allen Interessierten klar, daß er etwas weiß, was sie nicht wissen. Ich habe ihm erklärt, daß ich nicht erfahren möchte, was er weiß oder zu wissen glaubt. Doch ich ahne wohl, daß es sich um etwas handelt, das die Familie der Königin ins Zwielicht bringt. Nun sind die Woodvilles sehr mächtig, wie du wissen wirst, und ihre Spitzel und Spione sind überall. Ganz sicherlich gehört wenigstens einer zum Haushalt des Herzogs von Clarence, aber er ist sich keiner Gefahr bewußt und glaubt selbst, daß er als Bruder des Königs vor den Vergeltungsakten der Woodvilles sicher sei. Und vielleicht ist er es im Augenblick auch. Doch dies gilt nicht für andere Personen, und ich befürchte, daß er seine Kenntnisse oder seinen Verdacht Philip Underdown, einem mutmaßlichen Agenten der Tudors, mitgeteilt hat. Wenn dies der Fall ist, so wird die Familie der Königin davon erfahren und gleichfalls versuchen, ihm nach dem Leben zu trachten. Dies ist nur eine Vermutung meinerseits, doch ich teile sie dir mit, damit du noch mehr auf der Hut bist.»
Ich verdaute diese Information und kam zu dem Schluß, daß in den Gefahren, die von dieser Seite drohten, der eigentliche Grund für des Herzogs Besorgnis um die Sicherheit seines Kuriers lag. Ich war drauf und dran, ihn zu fragen, warum er Philip Underdown nicht geradeheraus fragte, ob der Herzog von Clarence ihm irgendeine gefährliche Information anvertraut habe. Dann ging mir auf, daß er darauf keine ehrliche Antwort erhalten würde. Ein Mann, der offenbar mit allen Wassern gewaschen war, würde sich nicht davon abhalten lassen, ein doppeltes Spiel zu treiben. Ich seufzte. Mir wurde klar, daß ich mein Gewerbe aufgeben und statt dessen diese zwielichtige Gestalt würde beschützen müssen. Die beiden nächsten Tage standen mir wahrhaftig bevor.
Die Tür ging auf, und Timothy Plummer erschien wieder. Er warf mir einen kurzen, neugierigen Blick zu, bevor er sich vor dem Herzog verbeugte und meldete: «Master Philip Underdown.»
Dem Mann, der den Raum betrat, schenkte ich meine ganze Aufmerksamkeit, obwohl er mich lediglich mit einem schnellen Blick seiner dunklen Augen bedachte. Sie waren von jenem tiefen Braun, das fast schwarz und so intensiv ist, daß ihr Ausdruck davon verschleiert wird und die Gedanken dahinter schwer zu erkennen sind. Sein dichtes, lockiges Haar auf dem wohlgeformten Schädel war ebenfalls dunkel. Er war groß und kräftig gebaut, ganz von jenem Schlag, der beim Kämpfen seinen Mann stehen konnte. Mehr und mehr erschien mir meine Rolle als Schutzengel überflüssig, bis ich mir vergegenwärtigte, daß niemand gegen eine Gefahr angehen und zugleich seinen Rücken zu sichern vermochte. Ich stand auf und arbeitete mich zum vollen Ausmaß meiner erheblichen Länge hoch.
Zwischen uns beiden erschien der Herzog wie ein Zwerg, obwohl ich es, merkwürdig genug, in diesem Moment nicht bemerkte. Nach wie vor beherrschte seine Person den Raum, auch schienen ihm selbst seine fehlenden Zentimeter nicht weiter aufzufallen.
«Philip», sagte er gelassen. «das ist Roger Chapman, ein alter Freund von mir. Er reitet mir dir nach Plymouth und bringt dich sicher an Bord der Falcon. Sollten irgendwelche Schwierigkeiten auftreten, so kann er dir aus der Patsche helfen.»
Bei meiner Vorstellung hatte Philip Underdown die dichten Augenbrauen gehoben, und seine spöttische Miene wurde eine Spur ernsthafter, als er meine Größe und meine Fähigkeiten als Kämpfer abschätzte. In trockenem Ton fragte er mich: «Weißt du mit Schwert und Dolch meisterhaft umzugehen?»
Das Blut stieg mir ins Gesicht. Zu jener Zeit errötete ich beim geringsten Anlaß, und angesichts meiner hellen Haut war es mir nicht möglich, diesen Sachverhalt zu verheimlichen. Trotzdem antwortete ich ihm fest: «Die Kunst des Fechtens habe ich nie gelernt, dafür weiß ich mit einem Knüppel sachverständig umzugehen. Das muß man, wenn man über Land zieht. Mein Knüppel befindet sich in meinem Bündel, und ich würde mich glücklich schätzen, dir eine kleine Vorführung zu geben.»
«Nicht in meiner Anwesenheit, Roger», sagte der Herzog tadelnd. «Doch wir beide glauben dir aufs Wort. Ist ein solch solider Knüppel in diesem Teil des Landes nicht als ‹Umhang von Plymouth› bekannt?»
«Das stimmt, Euer Gnaden. Es heißt, ein Reisender, der von auswärts nach Plymouth komme, schneide sich als erstes einen Ast vom nächstbesten Baum, wegen der vielen Gauner und Beutelschneider und Gesetzlosen, die ihn auf dem Weg durch das Dartmoor überfallen könnten.»
Der Herzog lachte. «Ein prächtiger Kommentar über den Zustand unserer öffentlichen Straßen in Devon. Die alte Bezeichnung für Devon lautet Dyvnaint – Land der dunklen Täler. Es hat den Anschein, als gebe es diese dunklen Täler nach wie vor und als würden Verbrecher sie gut nutzen. Bei Gelegenheit muß ich mit meinem Bruder, dem König, darüber sprechen. Fürs erste nehme ich an, daß dein Umhang von Plymouth dich ausreichend beschützt.»
«Wenn man ihn geschickt einsetzt, kann er einem Kerl den Schädel zertrümmern oder die Knochen brechen. Was das betrifft, so brauchen Euer Gnaden sich keine Sorgen zu machen. Ich kann gut auf mich aufpassen.»
«Gut, ich denke, das war dann alles. Wie ich bereits erwähnt habe, Roger, bleibt dein Bündel bis zu deiner Rückkehr hier. Ihr beide nehmt eure Mahlzeit in der Küche des Bischofs ein und reist noch heute nachmittag bis zur Abtei Buckfast, wo ihr für die Nacht Unterkunft findet. Morgen, am Freitag, eilt ihr dann nach Plymouth weiter, und während der Flut am Samstag wird die Falcon in Sutton Pool warten, um dich, Philip, an Bord zu nehmen und nach St.-Malo zu bringen.» Der Herzog wandte sich an mich. «Ich möchte einen Augenblick allein mit Philip reden. Warte im Vorzimmer auf ihn. Gott sei mit dir, Roger. Erneut stehe ich in deiner Schuld.»
Ich verbeugte mich, verließ den Raum und schloß die Tür leise hinter mir. An einem Tisch im Vorraum saß ein junger Mann, der sich mit dem Ordnen von Papieren beschäftigte. Bei meinem Besuch von Schloß Baynard in London zwei Jahre zuvor hatte ich ihn als Sekretär des Herzogs kennengelernt, sein Name war John Kendall. Er blickte zu mir auf und machte mit dem Kopf eine Bewegung zu der Bank an der Wand hin, bevor er sich wieder über seine Arbeit beugte. Er trug Reisekleider und war bereit, seinen Herrn noch am Nachmittag auf der ersten Etappe seiner Reise nach Norden zu begleiten. Gern hätte ich mich mit ihm unterhalten, einige der Zweifel und Befürchtungen, die mir im Kopf herumschwirrten, mit ihm besprochen, und die unerwartete Wendung meines Schicksals diskutiert. Doch da er offensichtlich nicht gestört zu werden wünschte, setzte ich mich stumm hin, starrte meine Füße an und blickte nur auf, wenn die Tür nach draußen geöffnet wurde.
Zuerst dachte ich, die Silhouette eines Kindes hebe sich vom regen Treiben auf dem Flur hinter ihm ab. Dann entdeckte ich, daß es ein Mann war, ein Zwerg in der blaubraunen Livree des Herzogs von Gloucester. Er war nicht einmal einen Meter groß und bewegte sich mit der Unbeholfenheit seinesgleichen, die Folge eines zu schweren Körpers auf zu kurz geratenen Beinen. In seinen Augen lag jener traurige, verlorene Blick, den ich seitdem auch in den Augen anderer Zwerge wiedererkannt habe, Ausdruck einer mit Empörung vermischten Verwirrung über den grausamen Streich, den die Natur ihnen gespielt hatte und der sie zur Zielscheibe des Gespötts ihrer Mitmenschen machte.
Zu jenem Zeitpunkt war dies allerdings der erste Zwerg, den ich aus nächster Nähe sah, obwohl ich einen oder zwei schon von weitem gesehen hatte. Damals galt es bei den Reichen und Wohlhabenden als vornehm, sich der Dienste wenigstens eines Liliputaners im Haushalt zu versichern, ihn zu verwöhnen und zu hätscheln oder je nach Laune und Willkür zu treten und zu quälen. Diese kleinen Männer dienten als Pagen, Schleppenträger und gelegentlich als Hofnarren. In manchen Häusern wurden sie kaum besser als Haushunde behandelt.
John Kendall hob den Kopf und sagte irritiert: «Jetzt nicht, Paolo! Seine Gnaden ist beschäftigt.»
Der Zwerg stieß einen Schwall italienischer Wörter hervor. Der Sekretär zügelte ersichtlich seinen Ärger und antwortete höflich in derselben Sprache. Ich glaube kaum, daß der Herzog wissentlich einen unfreundlichen Umgang seiner Diener untereinander zugelassen hätte. Diejenigen, die ich kennengelernt habe, waren ihm sämtlich treu ergeben. Der kleine Mann zuckte die Achseln und wandte sich zum Gehen, als die Tür zum inneren Raum geöffnet wurde und Herzog Richard heraustrat, dicht hinter ihm Philip Underdown. John Kendall und ich sprangen sofort auf. Als ich eine Verbeugung andeutete, konnte ich einen Blick in Paolos Gesicht werfen.
Mit einem zugleich haßerfüllten und ängstlichen Ausdruck sah er nicht etwa den Herzog an, sondern den Mann hinter ihm. Wie ich bemerkte, blickte Philip Underdown ihn mit einem leichten Anflug von Spott an und sah dann fort, als wäre der Zwerg keines größeren Interesses oder Ansehens würdig als eine jener späten Herbstfliegen, die durch ein offenes Fenster hereingeflogen waren und nun träge im Raum herumschwirrten.
Als der Herzog den Zwerg erblickte, runzelte er die Stirn, und John Kendall beeilte sich zu erklären: «Paolo wollte wissen, ob Euer Gnaden wünscht, daß er mit der Vorausgesellschaft heute nachmittag abreist, oder ob er warten und morgen mit den übrigen Gepäckwagen folgen soll.»
Herzog Richard lächelte dem kleinen Mann liebevoll zu. «Warte lieber, Paolo! Du würdest es zu anstrengend finden, wenn du heute mit uns kämst.» Durch ein Kopfnicken gab er ihm zu verstehen, daß er entlassen war, dann wandte er sich erneut mir zu, indem er mir die ausgestreckte Hand hinhielt. «Wenn du zurückkommst, werde ich nicht hier sein, Roger Chapman, doch sei meines Dankes gewiß, jetzt und immerdar. Noch einmal, Gott sei mit dir! Ich muß jetzt gehen. Ich habe Bischof Bothe versprochen, um elf Uhr mit ihm zu speisen. Deshalb lasse ich dich und Master Underdown allein, damit ihr euch kennenlernt.»