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ОглавлениеJohn Kendall folgte seinem Herrn und verließ das Zimmer, der Zwerg ging hinterdrein. Philip Underdown und ich standen uns gegenüber wie zwei mißtrauische Tiere, die sich ihres Reviers nicht sicher sind. Jeder nahm übel, daß der eine dem anderen aufgebürdet worden war, doch in dieser Lage blieb uns keine andere Wahl, und wir waren gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Philip Underdown sprach aus, was ich dachte. «Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich mich über deine Gesellschaft freue. Soweit ich zu erkennen vermag, wirst du dich eher als Hindernis denn als Hilfe erweisen. Alleine käme ich zehnmal besser zurecht. Nur Gott weiß, welche Grille der Herzog sich in den Kopf gesetzt hat! Aber er hat dich mir aufgedrängt, und nun kann ich daran nichts mehr ändern, obwohl ich dir ruhig verraten will, daß ich nichts unversucht gelassen habe, als ich mit ihm allein da drin war.» Er machte eine Kopfbewegung zum inneren Raum hin. «Aber er hat darauf bestanden, daß du mit mir nach Plymouth reist, so daß ich mich in den nächsten Tagen mit dir abfinden muß. Bist du bereit, schon wieder zu essen? Seiner Gnaden zufolge waren es die Überreste deines Frühstücks, die ich auf dem Tisch gesehen habe.»
«Essen kann ich jederzeit», antwortete ich mit vorgeblicher Fröhlichkeit, denn mir war alles andere als fröhlich zumute. Ich freute mich auf Philip Underdowns Gesellschaft ebensowenig wie er sich auf die meine. «Seiner Gnaden zufolge erwartet man uns in der Küche des Bischofs. Machen wir uns auf den Weg?»
Nachdem wir schließlich am Ende eines der langen Tische in der äußersten Spülküche Platz genommen hatten, umgeben von lautem Stimmengewirr und Wirbel, was allein der Tatsache zuzuschreiben war, daß der Bruder des Königs mit dem Bischof speiste, entschloß ich mich, den herzoglichen Ratschlag zu befolgen und meinen Reisegefährten kennenzulernen. Wenn ich über seine Vergangenheit besser Bescheid wußte, konnte mir dies womöglich später von Nutzen sein. Als man zwei große Schüsseln mit Rinderbraten vor uns hingestellt hatte, sagte ich: «Der Zwerg Paolo schien dich nicht allzu sehr zu mögen. Daraus schließe ich, daß ihr euch schon vorher begegnet seid.»
Philip Underdown ließ ein Lachen vernehmen, dem jegliche Wärme fehlte, und tunkte einen Kanten Brot in die dampfende Fleischbrühe. «Oh, wir sind uns schon begegnet. Vor allem ihm habe ich es zu verdanken, daß es zu dieser Anstellung kam.» Er sah meinen verständnislosen Blick und lachte erneut. «Mein Bruder und ich waren Händler. Wir kauften und verkauften alles, was wir billig bekommen und mit Gewinn abstoßen konnten. Wir fingen klein an und rackerten uns ab, bis wir ein Schiff unser eigen nannten. Danach erweiterte sich unser Geschäft – Irland, Italien, Frankreich, die Bretagne. So gelangte ich zu einem kleinen Vermögen – und brachte es mit Trinken, Spielen und natürlich Weibern durch.» Ein raubtierhaftes Lächeln entblößte kurzzeitig seine Zähne. «Vor zwei Jahren dann, auf unserer letzten Heimfahrt aus Italien, wurden wir vor der Küste Korsikas von Piraten überfallen. Dabei mußte mein Bruder daran glauben, und das Schiff wurde übel zugerichtet. Ich konnte mich bis an diese Küste und den Kanal hoch nach London durchschlagen, doch ich wußte, daß die alte Speedwell nie mehr zur See fahren würde. Deshalb zahlte ich die Mannschaft aus und machte mich daran, die Ladung so schnell und einträglich wie möglich zu verscherbeln, in der Gewißheit, daß ich wieder von vorne anfangen mußte.»
Ein Küchenjunge, der uns bedienen sollte und mehr als erfreut war, daß er eine kurze Verschnaufpause lang die fettigen Töpfe und Pfannen nicht abzuwaschen brauchte, stellte zwei Humpen Ale vor uns hin, wobei es ihm gelang, das meiste von der Flüssigkeit auf den Tisch zu schwappen. Bevor wir uns beschweren konnten, hatte er sich dünngemacht. Ich starrte seinem davoneilenden Rücken nach, ohne ihn eigentlich zu sehen. «Was hat das alles aber mit dem Zwerg zu schaffen?» wollte ich wissen.
Philip Underdown saugte an seinen Zähnen. «Er war ein Teil unserer Ladung.»
Es dauerte einen Augenblick oder auch zwei, bevor seine Worte mir ins Bewußtsein drangen, dann rief ich entsetzt aus: «Sklavenhändler bist du gewesen!» Ich wußte nun, weshalb mir sein Akzent so vertraut vorkam. Er stammte aus Bristol, und die Menschen aus dieser Stadt waren jahrhundertelang in den Sklavenhandel verwickelt und handelten zumeist mit ihren Nachbarn in Südirland. Es gibt eine in meinem Teil der Welt oft wiederholte Geschichte, daß einst vor vielen, vielen Jahren König Johann darüber Klage führte, daß es in Dublin weniger Iren als Leute aus Bristol gebe. Diese Menschen waren von ihren eigenen Familien als Dienstboten verkauft worden.
Mein Gefährte sah mich mit kalter Belustigung an. «Ich habe mit solch unglücklichen Gestalten wie Paolo gehandelt. Die Eltern wie auch die Verwandten dieser Geschöpfe wollten sie nur allzu gerne loswerden, und die meisten von ihnen waren sehr arm und dem Hungertod nahe. Schon ein paar Shilling konnten ihr Überleben sichern. Die Liliputaner selbst landeten zumeist gut gekleidet und genährt in irgendeinem vornehmen Haushalt. Was wäre aus Paolo geworden, wenn ich ihn in Italien gelassen hätte? Die eigenen Leute hätten sich über ihn lustig gemacht, ihn verlacht und ausgestoßen. Als ich ihn traf, lebte er zusammen mit den Schweinen seines Vaters im Schweinekoben.»
Bei diesem Gesprächsthema fühlte ich mich unwohl. Mein Instinkt sagte mir, daß der Menschenhandel von Übel war, doch zugleich erkannte ich, daß er im Endergebnis zuweilen vorteilhaft sein konnte. Ich brachte das einzige Gegenargument vor, das mir in diesem Augenblick spontan einfiel: «Aber Paolo haßt dich.»
Philip Underdown lächelte verächtlich und sagte undeutlich, während er auf seinem Fleisch herumkaute: «Natürlich haßt er mich. Alle haßten sie mich und meinen Bruder. Diese Geschöpfe waren unsere Handelsware. Wir hatten keine Zeit, sie während unserer Seereisen zu bemuttern, die voller Gefahren steckten, gleich ob wir von der heimischen Küste aus in See stachen oder dorthin zurückkehrten. Ein gewisses Quantum an – wie soll ich sagen? – Härte war unvermeidlich.»
Fassungslos über die Gefühllosigkeit, die ihn so freimütig reden ließ, und seine vollkommene Gleichgültigkeit dem gegenüber, was die Menschen von ihm halten mochten, starrte ich ihn an. Nichts jedoch, was ich hätte sagen oder tun können, hätte ihn berührt, daher war jeder Protest sinnlos. Ich fragte: «Weshalb waren dazu denn die Seereisen nötig? Hast du nicht erwähnt, daß es solche Knirpse in jedem Land gibt?»
Er zuckte die Achseln und nahm den letzten Fleischhappen von seinem Teller. «Ein Gemeinplatz! Es ist besser, sie in einem fremden Land zu verkaufen, wo sie nicht ausreißen und nach Hause laufen können, wenn es ihnen einfällt. Deshalb schlugen wir englische Zwerge in Italien und Frankreich los, und französische und italienische Zwerge hier. Einmal gab es eine Zeitlang in Italien eine große Nachfrage nach englischen Zwergen. Kein vornehmer Haushalt kam ohne einen Zwerg aus.»
«Ich staune, daß du so viele aufgetrieben hast.»
Wieder zuckte Philip Underdown seine breiten Achseln. «Es gibt immer Mittel und Wege, wenn man sich zu helfen weiß. Ich hatte das Glück, daß ich Paolo an den Haushalt des Herzogs von Gloucester verkauft habe. Irgendwie erfuhr der Herzog von meiner Geschichte und meinen Verhältnissen und empfahl mich bei König Eduard als Kurier, da ich viel in der Fremde herumgekommen bin und gut auf mich aufpassen kann. Wodurch es für mich noch viel ärgerlicher wird, daß ich dich für eine einfache Zweitagesreise von Exeter nach Plymouth an der Hacke habe. Für wen hält man mich? Etwa für ein hilfloses Kind?»
«Man will auf Nummer Sicher gehen. Der Brief, den du befördern sollst, muß sehr wichtig sein.»
«Alle Briefe sind wichtig», erwiderte er aufgebracht. «Weshalb sollte es bei diesem anders sein?»
Ich überlegte, ob ich den Herzog von Clarence zur Sprache bringen sollte, entschied schließlich jedoch dagegen. Ich hatte das Gefühl, daß ich eine ausweichende Antwort erhalten würde, außerdem hatte ich ihm für den Augenblick genug Fragen gestellt. Vor uns lagen zwei Tage und zwei Nächte, während deren ich noch mehr würde entdecken können. Ich schwenkte die Beine über die Bank und stand auf. «Ich bin bereit, wenn du soweit bist.»
Er nickte, wischte mit seinem Handrücken den Mund ab und erhob sich. «Unsere Pferde warten in den Stallungen des Bischofs auf uns. Ich bringe dich hin.»
«Zuerst muß ich noch meinen Knüppel holen. Er befindet sich in meinem Bündel in der Eingangshalle.»
Ich holte ihn heraus sowie auch mein Rasierzeug und ein kurzes Messer mit schwarzem Griff, das ich gewöhnlich zum Essen benutzte, legte Rasierzeug und Messer auf ein viereckiges Stück eines starken, dicht gewebten Wolltuchs, das ich zufällig bei mir trug, und verknotete es an den Enden. Dann folgte ich meinem Gefährten aus dem Palast heraus zu den etwa hundert Meter entfernten Stallungen.
Philip Underdowns Reittier war ein großer, grauscheckiger Gaul, der prächtig aussah und mit klugen Augen in meine Richtung sah, aber – wie ich bemerkte – kein freudiges Wiehern von sich gab, als sein Meister sich ihm näherte. Ich sollte ein kastanienbraunes und stämmiges Pferd satteln. Meine wenigen Siebensachen paßten in die Satteltasche, dagegen bereitete es mir, wie ich vorausgesehen hatte, einige Mühe, meinen Knüppel unterzubringen. Letzten Endes sah ich, wenn auch widerstrebend, ein, daß ich ihn um einige Zentimeter kürzen mußte, damit ich ihn quer über den Sattelzwiesel legen konnte.
«So ist er einfacher zu handhaben, denke ich», meinte Philip Underdown. «Du kannst besser zum Schlag ausholen. Nicht so unhandlich. Mit einem solchen Knüppel kann jedermann umgehen.»
«Von der Kunst, den Knüppelstock zu führen, hast du offenbar nicht die geringste Ahnung», entgegnete ich bissig und baute mein Selbstbewußtsein wieder auf, das bei meinem unbeholfenen Aufsteigen aufs Pferd Schaden genommen hatte. Meine Bemühungen hatten sowohl den Jungen als auch den Stallburschen mit dem Pickelgesicht, die uns zur Hand gingen, sehr belustigt. «Machen wir uns auf den Weg! Vor der Abenddämmerung wollen wir in Buckfast sein.»
Noch bevor die Sonne am Himmel sehr viel tiefer gesunken war, hatten wir die belebten Straßen von Exeter hinter uns gelassen und trabten mit stetigem Tempo nach Süden. Ein früher Herbstschleier hüllte die Täler ein und lag wie Gaze über den Hügeln. Der Pfad, den wir benutzten, war einsam, hier und da standen Ginsterbüsche, deren goldgelbe Blüten mit spitzen schwarzen Dornen versehen waren. Smaragdgrünes Moos ließ erkennen, wo das Regen wasser sich in den Höhlen und Senken des Bodens aus Granitgestein angesammelt hatte. Nur der plötzliche Ruf eines Raben störte die Stille.
Um die Mitte des Nachmittags verließen wir den Pfad, stiegen ab und ließen die Pferde frei laufen, damit sie sich am verkümmerten Gras labten. Philip Underdown und ich setzten uns so hin, daß wir unseren Rücken bequem an einen Felsbrocken lehnen konnten, drehten das Gesicht zur Sonne und hielten unsere Knochen in die letzte Wärme des Tages. Diese Ruhepause hatte ich bitter nötig, obwohl ich mich eher hätte foltern lassen, als daß ich es zugegeben hätte. Doch in Wahrheit kam es mir so vor, als würde jeder Muskel und jede Sehne an Schenkeln und Gesäß mit rotglühenden Zangen auseinandergerissen. Arme und Schultern schmerzten nach der Anstrengung, selbst ein so friedliches Reittier wie das meine zu führen. Ich lehnte meinen Kopf an den Stein, schloß kurz die Augen und sah rote und orangenfarbene Sonnen unter den Augenlidern kreisen. Ich war dankbar dafür, daß mein Gefährte mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein und nicht geneigt schien, sich über meine Beschwerden zu mokieren.
Ich weiß nicht, was mich jäh aus meinem Halbschlaf riß und nach vornüber schleuderte, wobei sich mein Rücken straff anspannte und ich meine Hände fest neben mich auf den Boden drückte. Vielleicht war es ein Zusammenwirken aller Sinne, etwa wie bei einem Tier, das Gefahr wittert. Ich ließ die Augen flink von links nach rechts wandern, um die Quelle meiner Furcht auszumachen. Am Horizont, dort wo sich das Moor steil aufwärts ausdehnte, standen zwei riesige Granitfelsen, nichts Ungewöhnliches in diesem Teil der Welt. Und zwischen den beiden Felsen war die Gestalt eines Mannes zu sehen, die sich deutlich gegen die Strahlen der untergehenden Sonne abhob.
Ich muß laut geflucht haben, denn Philip Underdown, der mit halb geschlossenen Augen neben mir saß, war sogleich auf den Füßen. Seine Finger umklammerten bereits den Griff des Dolches, der in seinem Gürtel steckte. «Was gibt es?» fragte er.
«Ein Mann», flüsterte ich. «Da oben! Zwischen den beiden Granitfelsen.»
Ich zeigte in die entsprechende Richtung, doch als wir beide hinblickten, war nichts mehr zu sehen, lediglich die verwischten Konturen in der Ferne, die Sonnenstrahlen auf den Granitblöcken und der öde, stumme Pfad.
Philip lachte rauh auf. «Du siehst Gespenster.»
«Da war aber jemand», protestierte ich. «Ich habe ihn so deutlich gesehen, wie ich dich sehe.» Ich griff nach meinem Knüppel und stand auf. «Warte hier. Ich sehe mal nach.»
«Und mich läßt du allein?» fragte er spottend. «Befolgst du so die Anweisungen des Herzogs? Die Feen könnten mich wegzaubern, während du fort bist.»
An diesem Spiel konnten mehrere teilnehmen. «Wenn du ängstlich bist», erwiderte ich kühl, «stell dich mit dem Rücken zum Fels, damit dich niemand von hinterrücks übertölpeln kann. Falls du mich brauchen solltest, so rufe einfach. Ich bin ja nicht weit weg.»
Er fluchte. «Ich komme mit.»
«Na klar doch, wenn es dich nervös macht, allein zu bleiben.»
Ich wartete seine Antwort nicht ab, sondern machte mich zu den Granitfelsen auf, indem ich den steilen Hang hinauflief und für eine Weile meine Wehwehchen vergaß. Als ich oben angekommen und zwischen den beiden Felsen war, hielt ich inne und sah mich sorgfältig um, konnte jedoch nichts Verdächtiges ausmachen. Ich schlich um die beiden Brocken herum und rechnete jeden Moment damit, Auge in Auge einem gedungenen Mörder gegenüberzustehen, doch es war niemand da. Ich wandte mich um und blickte zu Philip Underdown, der noch immer neben den Pferden stand. Er zuckte die Achseln und breitete die Arme aus, wodurch er mir zu verstehen gab, daß auch er keine Seele gesehen hatte. Langsam fragte ich mich, ob der Vorfall wirklich nur meiner lebhaften Phantasie zuzuschreiben war.
Dann vernahm ich in der Ferne den dumpfen Hufschlag eines Pferdes, kaum mehr als ein schwaches Vibrieren des Bodens. Ich schnellte herum und kniff die Augen zusammen, während ich gegen die Sonne spähte. Es fiel mir schwer, irgend etwas zu erkennen, doch glaubte ich, eine Bewegung ausmachen zu können. Darauf schob sich eine kleine Wolke einige Sekunden lang vor die Sonne, und nun konnte ich deutlich einen Reiter erkennen, der in Richtung Süden auf die Abtei Buckfast zu galoppierte. Ich fluchte vor mich hin und beschimpfte mich wegen meiner langsamen Reaktion, der dieser Mann sein Entkommen verdankte. Schließlich kehrte ich zu Philip Underdown zurück.
«Es war wirklich jemand da. Ich habe gesehen, wie er in der Ferne weggeritten ist. Ich hätte schneller auf den Beinen sein müssen.»
Philip zuckte die Achseln. «Er hätte dich kommen sehen. Du hättest ihn doch nicht gegriffen. Und nichts spricht dagegen, daß er ein vollkommen unschuldiger Reisender ist, der ebenso wie wir gerastet hat.»
«Weshalb ist er dann auf den Hügel gestiegen? Er hätte sich kaum soviel Mühe gemacht, nur um sich dort auszuruhen. Nein, er hat uns ausspioniert. Für mich steht fest, daß er uns in einiger Entfernung gefolgt ist, seit wir Exeter verlassen haben.»
«Wie hat er uns dann überholt, ohne daß wir es bemerkt haben?»
«In diesem Moor muß es Dutzende von Wegen geben, die man, wenn man sich auskennt, benutzen kann, ohne daß man gesehen wird. Vermutlich konnte er uns überholen, wann immer er wollte. Ich glaube, wir reiten jetzt besser weiter. Noch vor dem Abend müssen wir die sichere Abtei erreichen, und zu dieser Jahreszeit wird es bereits früh dunkel. Sollte sich ein weiterer Fremder in der Abtei aufhalten, müssen wir auf der Hut sein.»
«Ich glaube kaum, daß es zu dieser Jahreszeit viele Besucher gibt.» Philip stieg auf sein Pferd und setzte sich bequem in seinen Sattel. «Wie du gesagt hast, werden die Tage jetzt kürzer, und nur Reisende halten sich noch auf den Straßen im Dartmoor auf.»
Während ich mich abmühte, mein Pferd zu besteigen, das weiterhin friedlich graste und vollkommen unbeteiligt auf meine hilflosen Versuche reagierte, kam mir in den Sinn, daß der Zwischenfall meinen Gefährten mehr mitgenommen haben könnte, als er erkennen ließ. Sein spöttelnder, höhnischer Ton war verflogen. Statt dessen war eine Nervosität herauszuhören, die auf innere Anspannung hindeutete. Philips Besorgnis nahm zu, wenngleich er einen gegenteiligen Eindruck zu vermitteln suchte. Ich wünschte mir, dieser Zustand möge von langer Dauer sein. Die Verantwortung für seine Sicherheit würde dann nicht vollständig auf meinen Schultern lasten. Ich betete darum, daß wir das Gästehaus der Abtei in der Nacht für uns allein haben würden.
Doch mein Gebet wurde nicht erhört. Schon während wir über die Buckfastbrücke zogen, sahen wir, daß es in der näheren Umgebung der Abtei von Menschen nur so wimmelte. Als wir durch die Straßen des Dorfes ritten, zügelte ich mein Pferd und sprach eine Frau an, die in einem der Häuser aus einem Fenster im oberen Stockwerk herausschaute.
«Was ist denn hier los? Wir haben damit gerechnet, in der Abtei Herberge zu finden, doch es sieht ganz danach aus, als würde daraus nichts.»
«Ihr seid wohl Fremde, was?» Der schnarrende Zungenschlag aus Devon war überdeutlich herauszuhören. «Gestern war das Fest des heiligen Michael, und die Abtei besitzt die Genehmigung, an diesem und den beiden vorangehenden Tagen am Brent-Tor Jahrmarkt abzuhalten. Viele der Leute, die zum Jahrmarkt gekommen sind, halten sich noch hier auf, um sich von der Wirkung des Mosts aus der Abtei zu erholen. Ein starkes Gebräu, mein Lieber, was du schnell feststellen kannst, nachdem du davon gekostet hast. Obwohl ein großer Kerl wie du eine Menge vertragen müßte.» Ihr kecker Blick wanderte von mir zu Philip Underdown. «Und das gilt auch für dich, mein Hübscher.»
Er lachte. Die Sorgen und die Anspannung der letzten Stunden fielen so leicht von ihm ab, wie die Schlange ihre Haut abstreift. Er richtete sich auf seinen Steigbügeln auf, langte nach oben, ergriff eine Hand der Frau und zog sie so zu sich herunter, daß er ihr einen schallenden Kuß auf die Wange pflanzen konnte. Sie lachte ebenfalls und erwiderte seinen Kuß doppelt und dreifach.
Als wir uns einen Weg durch die Menschenmenge bahnten, bemerkte ich: «War sie nicht etwas zu alt für dich? Sie hatte schon ziemlich viele Falten im Gesicht, und was ich von ihrem Haar unter der Haube habe sehen können, war teilweise grau.»
Philip drehte sich grinsend nach mir um. «Wenn du mich besser kenntest – was der Himmel verhüten möge! –, so wüßtest du, daß ich Frauen jeden Alters liebe. Nur senile oder äußerst häßliche Frauen stoßen mich ab. Gleich ob dünn, dick, groß, klein jung, alt – ich lege sie alle aufs Kreuz, wenn sie mich ranlassen. Und die meisten lassen mich.»
Das bezweifelte ich nicht. Er gehörte zu jener Sorte Mann, die sich nimmt, was sie haben will, und rücksichtslos entschlossen ist, sich durchzusetzen. Menschliches Leben und Würde galten ihm wenig, wie er bereits bewiesen hatte. Ich hielt den Mund und drängte mein Pferd zur Pforte der Abtei, wo einer der Laienbrüder seinen Dienst versah.
«Wir reisen im Auftrag des Königs», sagte ich. «Mein Freund hier zeigt dir unser Beglaubigungsschreiben. Wir suchen Herberge für eine Nacht.»
«Du und ein halbes Dutzend anderer», sagte er brummend, doch er ließ uns herein, ohne nach irgendeinem Ausweispapier zu fragen. «Am besten sprecht Ihr mit Pater Abbot, wenn ihr die seid, für die ihr euch ausgebt. Wartet hier! Ich gehe und sehe nach, ob er frei ist. Das Gästehaus ist belegt, doch er wird euch anderweitig unterbringen. Vermutlich in seinem eigenen Quartier.»
Während er geschäftig davoneilte, stiegen Philip und ich ab. Als ich mich bückte, um meine Satteltasche zu lösen, wurde ich das Gefühl nicht los, daß jemand mich beobachtete. Doch als ich mich umsah, schien jedermann konzentriert seiner Beschäftigung nachzugehen. Dennoch hielt dieses Empfinden an, und mein Unbehagen kehrte zurück.