Читать книгу Der zerrissene Faden - Kate Sedley - Страница 5

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Es war ein kalter Wintertag, als ich Lillis und ihre Mutter, Margaret Walker, zum erstenmal sah. Das Weihnachtsfest des Jahres 1473 lag bereits hinter uns. Der «Lord of Misrule» hatte seine Kappe und seine Schellen abgelegt, und die Chorknaben, die man in der Weihnachtszeit zu Kinderbischöfen erkoren hatte, waren ihre geborgten Bischofsmützen wieder losgeworden. Es war Anfang Januar, doch an vielen geschützten Stellen sah man noch die Reste des Dezemberschnees. Der Graf von Oxford hielt sich auch weiterhin auf dem St. Michael’s Mount verschanzt. Die Sheriffs von Cornwall und die wachsamen Kapitäne der königlichen Flotte belagerten ihn, um ihn auszuhungern und zur Unterwerfung zu zwingen. Doch wer irgend konnte, blieb zu Hause in seinem warmen, gemütlichen Heim, um dem naßkalten, stürmischen Wetter zu entgehen, das allen, die sich im Freien aufhalten mußten, das Leben in den letzten Tagen so schwer gemacht hatte.

Unsicheren Schrittes stapfte ich über den verlassenen Marktplatz und schaute zu den gewaltigen Mauern des Schlosses von Bristol auf Der Burgturm streckte sein häßliches Gesicht über den inneren, von weiteren Mauern umgebenen Ring. Mein Bündel lastete unbequemer als sonst auf meinen Schultern, und die Beine waren mir schwer wie Blei. Nur mein Kopf fühlte sich so leicht an, als wäre er mit Federn gefüllt, genau wie die Gänsefedermatratze meiner Mutter, auf die sie immer so stolz gewesen war. Meine Stirn war glühend heiß.

Es ist sicherlich keine eitle Prahlerei, wenn ich behaupte, daß ich mich zeit meines Lebens einer guten, kaum zu erschütternden Gesundheit erfreuen konnte. Ich war immer stark und widerstandsfähig, doch wenn mich dann einmal eine Krankheit packte, traf es mich doppelt hart. Das Fieber, das mich jetzt in seinen Klauen hielt, hatte vor ungefähr einer Woche begonnen. Nach einem recht erfolgreichen Herbst, in dem ich meine Waren in den Dörfern und Weilern rund um Southampton feilgeboten hatte, war ich westwärts gewandert. Die klaren, sonnigen Oktobertage waren in einen ungewöhnlich milden November übergegangen, und ich hatte mich froh und zufrieden gefühlt. Die Erinnerung an meine Reise in die Bretagne verstärkte diese Zufriedenheit. Es war mir eine große Genugtuung, daß ich der Verpflichtung, die mir der Herzog von Gloucester auferlegt hatte, so erfolgreich nachgekommen war. Aber das ist eine andere Geschichte...* Es genügt wohl, wenn ich sage, daß mich der plötzlich einsetzende Schneefall und die eisigen Regenfälle, die den Süden Englands um die Weihnachtszeit heimsuchten, völlig unvorbereitet trafen.

Knapp eine Woche nach dem Geburtsfest unseres Herrn und Heilands wachte ich eines Morgens in einer einsamen Scheune irgendwo nördlich von Salisbury vor Fieber zitternd und schwitzend auf und blickte in das besorgte Gesicht meines Reisegefährten, der sich ängstlich über mich beugte. Es war ein Karmelitermönch, den die eisigen Stürme am Vorabend davon abgehalten hatten, sich eine bessere Schlafstätte zu suchen, und der deshalb meine bescheidene Unterkunft und mein Abendbrot mit mir geteilt hatte. Zum Glück hatte ich sowieso keinen rechten Appetit – ein Umstand, der allein mir schon hätte sagen müssen, daß mit mir etwas nicht in Ordnung war.

«Du bist krank, mein Sohn», sagte der Mönch und legte eine schwielige Hand auf meine Stirn.

«Unsinn!» gab ich zurück. «Ich bin niemals krank. Das ist nur ein kleiner Schwächeanfall und wird bald vorübergehen. Sobald ich gefrühstückt habe, mache ich mich auf den Weg.»

Er hockte sich neben mich und sah mich zweifelnd an. Seine weiße Kutte war bis zu den Knien mit Dreck und Schlamm beschmutzt, und sein Haar war voller Heu.

«Ich glaube kaum, daß du kräftig genug bist, um weiterzuwandern. Aber wenn es unbedingt sein muß, solltest du versuchen, so schnell wie möglich zu deinem Winterquartier zu kommen.»

Mühsam versuchte ich, meiner zitternden Glieder Herr zu werden. «Ich habe kein Winterquartier.»

Erstaunt zog er die buschigen Augenbrauen zusammen. «Soll das heißen, daß du sommers wie winters auf der Straße bist?» Als ich nickte, warf er entsetzt die Hände in die Luft. «Aber das ist Wahnsinn! Ich habe noch nie jemanden getroffen, der nicht wenigstens für die Wintermonate eine feste Bleibe hatte. Einen hübschen kleinen Unterschlupf bei der Ehefrau, der Mutter oder der Geliebten, wo er von den Einkünften des Sommers leben und sich ausruhen kann. Du könntest sogar die milderen Tage ausnutzen, in der näheren Umgebung deine Ware anbieten und dir auf diese Weise ein Zubrot verdienen.» Er klopfte mir väterlich auf den Arm. «Hör auf meinen Rat, mein Sohn, und geh heim zu deiner Mutter.»

«Sie ist tot», entgegnete ich.

«Aber du hast doch bestimmt irgendwelche anderen Verwandten, die dich den Winter über aufnehmen können.»

Ich wollte den Kopf schütteln, aber es tat schrecklich weh, und mir wurde sofort schwindelig. «Nein, ich habe niemanden.»

Der Mönch gab nicht so schnell auf. «Und wie ist es mit Freunden?» fragte er weiter. «Mit dem Pfarrer deiner Gemeinde? Erzähl mir, wo du herkommst, Junge.»

«Aus Wells. Mein Vater war Steinmetz und hat am Bau der Kathedrale mitgearbeitet.»

«Dann mußt du doch wenigstens ein paar Bekannte in Wells haben. Fällt dir denn niemand ein, der dich gegen Bezahlung aufnehmen könnte?» Und mit leiserer Stimme fügte er hinzu: «Am besten wäre es, wenn du heiratest, mein Junge. Such dir eine gute Frau, die dir ein warmes Nest bereitet, in das du Winter für Winter zurückkehren kannst und das sie für dich warm hält, während du im Sommer auf Reisen bist.» Mit einem verschmitzten Grinsen stieß er mir den Ellenbogen in die schmerzenden Rippen. «Das wäre doch ein herrliches Leben für dich, geradezu beneidenswert, und ich wundere mich, daß du nicht von selbst darauf gekommen bist. Du hättest beides: die Behaglichkeit eines eigenen Heims und die Freiheit, nach Herzenslust durch die Welt zu ziehen. Eine Frau, die dich verwöhnt und umsorgt, wenn Wind und Regen an den Fensterläden rütteln, und die Welt zu deinen Füßen, wenn Sonnenschein und laue Sommerwinde dich in die Fremde locken.»

Damals drang seine Rede kaum in mein benebeltes Bewußtsein vor. Später sollte ich mich fast Wort für Wort an seinen ziemlich unpriesterlichen Ratschlag entsinnen.

Doch der Gedanke, nach Hause zurückzukehren, spukte mir, auch nachdem sich der Mönch längst verabschiedet hatte und seiner Wege gegangen war, im Kopf herum. Die Vorstellung erschien mir plötzlich sehr verlockend. Der Mönch hatte recht: Es mußte in Wells noch Menschen geben, die sich an mich und meine Eltern erinnern konnten und uns freundlich gesonnen waren. So manche Hausfrau wäre vielleicht dankbar für ein kleines Zubrot, das sie sich durch einen zahlenden Hausgast verdienen könnte, bis das Leben auf der Straße im Frühling wieder erträglicher war.

Von meinem gegenwärtigen Aufenthaltsort aus lag Wells in nordwestlicher Richtung. Breite, ausgefahrene Wege führten in die Stadt mit der berühmten Kathedrale. Daß ich sie dennoch um mindestens zwanzig Meilen verfehlte und schließlich in Bristol landete, war wohl dem dichten Schneefall und meinem fiebrigen, sich von Tag zu Tag verschlechternden Zustand zuzuschreiben – einleuchtende Gründe, die kein vernünftiger Mensch je in Frage gestellt hätte. Ich selbst allerdings konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Gott wieder einmal Seine Hand im Spiel hatte und mich ein weiteres Mal dazu zwang, zu einem Werkzeug Seines Willens zu werden. Durch mein Talent, rätselhaften Vorgängen auf den Grund zu gehen und Geheimnisse aufzuklären, ließ er mich dazu beitragen, daß die Schurkerei auf Erden nicht unentdeckt blieb. Warum sonst hätte ich wohl gerade zu diesem Zeitpunkt krank werden sollen? Warum hätte mir der Mönch vorschlagen sollen, nach Hause zu gehen? Und warum hätte ich so weit vom Weg abkommen sollen, daß ich mich plötzlich ganz gegen meine Absicht in Bristol wiederfand? Wenn meine Kinder je diese Zeilen lesen, werden sie nur nachsichtig lächeln und über die Grillen ihres alten Vaters die Köpfe schütteln. Tatsächlich würde ich am liebsten selbst darüber lachen. Aber solche Ahnungen lassen sich nicht einfach abschütteln. Ich habe ein Leben lang mit Gott gerungen, mit Ihm gestritten und versucht, Ihn zu überlisten – alles ohne Erfolg. Und das hat mich in meiner Auffassung natürlich nur bestärken können. Schließlich ist es eine unumstößliche Tatsache, daß ich nur neun Monate, nachdem Robert Herepath für einen Mord gehängt worden war, den er nicht begangen hatte, in die Stadt Bristol kam und, ehe ich mich’s versah, in mein nächstes Abenteuer stolperte.

Im Schutz der Schloßmauern wandte ich mich nach rechts, überquerte die Brücke über den Frome, schleppte mich am Wehr und an der Mühle vorbei und ging schließlich am Ufer des Flusses entlang in Richtung Pithay-Tor. Durch den dichten Regen konnte ich gerade noch die Umrisse des Dominikanerklosters auf den Wiesen vor der Stadt erkennen. Der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu, die Dämmerung brach herein. An den äußeren Mauern des Klosters waren brennende Fackeln angebracht, um den Wanderern den Weg zu weisen, damit sie nicht den Halt verloren und im schlammigen Wasser des Frome versanken. Der Wachsoldat am Pithay-Tor war ungehobelt und mürrisch. Er konnte es kaum erwarten, das Tor für die Nacht zu schließen und in sein warmes Haus zurückzukehren. Bis zum Abendläuten war allerdings noch etwas Zeit.

Er nickte barsch und wollte schon zu den üblichen Fragen nach meinen Geschäften in der Stadt ansetzen, als er innehielt, um mich genauer zu betrachten. «Du siehst krank aus, Junge.» Sein Blick wurde mißtrauisch. «Etwas Ernstes?»

Ich nieste heftig und schüttelte den Kopf. «Nur eine Erkältung, weil ich über Nacht draußen geschlafen habe, das ist alles.»

«Du hast um diese Jahreszeit draußen geschlafen?» Seine Stimme klang ebenso ungläubig wie die des Karmelitermönchs.

«Ich bin Hausierer», gab ich ungeduldig zurück. «Ich biete meine Waren überall im Lande feil.»

«Das ist noch lange kein Grund, in diesem Ton mit mir zu sprechen!» entgegnete er scharf. «Die meisten Hausierer, die ich kenne, verbringen den Winter zu Hause. Jedenfalls wenn sie nur halbwegs bei Verstand sind.» Er unterzog mich einer weiteren Prüfung, kam aber offenbar zu dem Schluß, daß ich tatsächlich unter keiner schlimmeren Krankheit litt. Dann deutete er auf das Tor. «Du kannst durch. Aber wenn ich du wäre, würde ich mir für heute Nacht ein warmes Bett suchen. Sieht so aus, als hättest du es bitter nötig.»

Ich nickte kurz und machte mich auf den Weg. Zu meiner Linken sah ich die Peterskirche, doch anstatt die schützenden Mauern der Abtei aufzusuchen, taumelte ich weiter auf die Stadtmitte zu. Ich erinnerte mich an das New Inn in der Nähe der Allerheiligenkirche, und falls ich dies verfehlen sollte, gab es auch noch das Full Moon ganz in der Nähe von St. James. Ich hielt den Blick fest auf den Kirchturm von St. Ewen gerichtet, das Gotteshaus der reichen Kaufleute und betuchten Bürger. Bristol war damals schon fast so wohlhabend wie heute, obwohl durch die Seereisen der Cabots seitdem noch mehr Geld in die Schatztruhen der Stadt geflossen ist. In den Mauern dieser Stadt wohnte eine eng miteinander verwobene Gemeinschaft, deren Blick weniger auf das restliche Europa als auf Irland gerichtet war. Mannigfaltige Blutsbande und Handelsbeziehungen verbanden Bristol mit der Grünen Insel.

Es war jetzt fast dunkel. Der Nieselregen hatte sich in einen dichten Nebel verwandelt, der sich in feuchten Tropfen auf den Kleidern und Bärten der Männer niederschlug. Überall wurden die Geschäfte und Läden geschlossen, und ihre Besitzer zogen sich entweder in die Wohnräume im hinteren Teil der Häuser zurück oder eilten, wenn sie nur kleine Verkaufsstände hatten, die sie abschließen und verriegeln konnten, über das Kopfsteinpflaster zu ihren bescheideneren, wenngleich nicht minder heimeligen Behausungen in anderen Stadtteilen davon. Endlich sah ich das High Cross vor mir aufragen. Ich zögerte – zum einen, um Atem zu schöpfen, zum anderen, weil ich unschlüssig war. Ich zitterte jetzt von Kopf bis Fuß. Am ganzen Körper war mir der kalte Schweiß ausgebrochen. Zu meiner Linken loderte an einer Hauswand eine Fackel auf und knisterte wie zerreißendes Pergament. Im flackernden Schein der Fackel sah ich zwei Frauengestalten die High Street heraufkommen, doch ob es junge oder alte Frauen waren, hätte ich in diesem Moment nicht sagen können. Ich verspürte nur den überwältigenden Wunsch, mich auf der Stelle niederzulegen und die Augen vor dieser feindlichen Welt zu verschließen, die einfach nicht stillhalten wollte, sondern ständig hin und her schwankte, sobald ich versuchte, den Blick auf etwas zu richten. Ich faßte mit der Hand nach dem Kreuz und lehnte die Stirn an den kühlen Stein.

Eine Hand berührte meine Schulter, und eine hohe, klare, fast noch kindliche Stimme rief: «Mutter! Komm her! Ich glaube, der junge Mann ist krank!»

Hölzerne Pantinen klapperten über das Pflaster, und eine tiefere Stimme fragte: «Was ist los, Lillis? Was hast du gesagt? Es wird bald dunkel, wir haben keine Zeit zu verlieren.» Dann folgte ein Ausruf der Bestürzung. Eine andere Hand, größer und kräftiger als die erste, packte mich an der Schulter. «Was ist mit dir, Junge? Bist du krank?»

Ich konnte nicht sprechen, deshalb nickte ich nur. Ich spürte, wie meine Knie nachgaben, und hielt mich verzweifelt an der Säule des Kreuzes fest, um nicht zu Boden zu sinken.

Die tiefere Stimme fragte weiter: «Wo wohnst du?» Aber die jüngere Frau hatte offenbar mein Bündel gesehen.

«Er ist Hausierer, Mutter. Wahrscheinlich ist er auf der Wanderschaft.»

Ich nickte wieder und öffnete dabei dummerweise die Augen. Die Welt machte einen Purzelbaum, mir wurde schrecklich übel, und ich erbrach das wenige, was ich in den letzten Stunden gegessen hatte. Seufzend sank ich in mich zusammen.

Die ältere Frau gab ihrer Tochter Anweisungen und verscheuchte gleichzeitig das Grüppchen Neugieriger, das sich um uns versammelt hatte. An einem ungemütlichen Winternachmittag wie diesem war den Leuten jede Ablenkung recht.

«Lauf zurück über die Brücke, Lillis, und hol ein paar Männer, die uns beim Tragen helfen können. Wir können den armen Kerl doch hier nicht so einfach liegenlassen. Er hat Fieber. Wir beide werden ihn pflegen, bis es ihm besser geht. – Was gibt es da zu glotzen, Leute? Macht Platz und laßt ihn in Ruhe. Wie soll er denn atmen, wenn ihr euch alle über ihn beugt?» Aus dem unruhigen Gemurmel der Gruppe meinte ich das Wort ‹Pest› herauszuhören. Meine Wohltäterin schnaubte verächtlich. «Um diese Jahreszeit? Nein, nein, mit dem Jungen ist alles in Ordnung. Er leidet bloß unter einer dicken Erkältung, zu der durch Leichtfertigkeit und kalte Nächte im Freien ein Fieber gekommen ist. Ich habe schon so manchen großen, starken Burschen gesehen. Sie halten sich für Samson und achten nicht auf ihre Gesundheit, bis sich ihr Leichtsinn dann doch einmal rächt. Bei guter Pflege ist er in zwei Wochen wieder kerngesund.»

Damit gaben sich die Gaffer zufrieden, und die Grupppe zerstreute sich. Ich wagte nicht, meine Augen noch einmal zu öffnen, aber ich hörte das Scharren ihrer Füße und spürte, wie es um mich herum freier wurde. Ein Mann mußte jedoch zurückgeblieben sein, denn plötzlich hörte ich eine barsche, tiefe Stimme: «Du solltest lieber vorsichtig sein, Margaret Walker, und keinen wildfremden Mann ins Haus nehmen. Und dann auch noch ausgerechnet einen Hausierer! Eines Tages schneidet er euch die Kehlen durch und macht sich mit eurer Börse auf und davon, während ihr beide noch im tiefsten Schlummer liegt.»

«Mit durchgeschnittener Kehle kann man nicht schlafen, du alter Dummkopf!» erwiderte Margaret Walker. «Glaubst du nicht, daß ich lange genug auf dieser Welt bin, um ein ehrliches von einem unehrlichen Gesicht unterscheiden zu können, Nick Brimble?» Als Antwort hörte ich nur ein Grunzen, das sich als Zustimmung, aber auch als Ablehnung deuten ließ – mit geschlossenen Augen konnte ich das nicht entscheiden. Doch kurz darauf erhob Nick Brimble wieder seine warnende Stimme: «Ich mache mir bloß Sorgen um dich und Lillis. Ihr habt in den letzten zehn Monaten schon genug durchgemacht.»

Margaret Walker hatte sich, ohne an den Dreck auf dem Pflaster zu denken, neben mich gekniet und meinen Kopf an ihre Brust gebettet. Gleichzeitig stützte sie mit den Schultern meinen zusammengesunkenen Körper. Beim Klang ihrer Stimme hatte ich mir – soweit ich in meinem Zustand überhaupt zum Denken fähig war – eine stattliche Frau vorgestellt und war nun von der Zierlichkeit ihres Körperbaus sehr überrascht.

Sie hob entrüstet den Kopf. «In den letzten zehn Monaten ? Da hast du aber ein kurzes Gedächtnis, Nick Brimble! Im kommenden Mai bin ich seit siebzehn Jahren Witwe! Habe einen guten Ehemann und meinen kleinen Sohn durch einen Unfall verloren, zu dem es nie hätte kommen dürfen!»

«Es war der Wille Gottes!» murmelte Nick Brimble ergeben.

«Es war der Fehler eines betrunkenen Fuhrmanns, der sein wildes Pferd nicht in den Griffbekam!» Ihre Stimme klang bitter und bebte vor unterdrückter Wut.

«Und dennoch war es der Wille Gottes», beharrte ihr Freund. «Aber dieses letzte Unglück...» Es entstand eine Pause, und er seufzte, ehe er mit ernster Stimme weitersprach: «Da hatte nun wirklich der Teufel seine Hand im Spiel, und ich bezweifle, daß wir jemals erfahren werden, was damals wirklich geschehen ist. Dein Vater war der einzige, der das Rätsel hätte lösen können, doch er hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.»

Ehe Margaret Walker noch darauf antworten konnte, hörte man Lillis nach ihrer Mutter rufen, und ihre Holzschuhe klapperten über das Pflaster. Auch ein paar tiefere Stimmen drangen an mein Ohr. Offenbar hatte sie Helfer mitgebracht. «Wie geht es ihm?» fragte Lillis ihre Mutter.

«Er wird schon wieder auf die Beine kommen. Aber je eher wir ihn in ein Bett packen, in ein paar ordentliche Wolldecken einwickeln und mit heißen Steinen wärmen, desto besser. Ah, ihr habt eine Tragbahre mitgebracht. Das ist gut. Nick, wenn du sowieso nichts Wichtigeres zu tun hast, hilf doch Hob und Burl dabei, den Jungen hochzuheben. Er ist bestimmt nicht gerade leicht. Burl, du nimmst seine Beine, und Hob und Nick, ihr hebt vorsichtig seinen Kopf. So ist es gut. Wir haben ihn.»

Ich spürte, wie mein Körper hochgehoben und auf ein zwischen zwei Stangen gespanntes Tuch gelegt wurde. Ich wagte einen kurzen Blick durch meine halb geschlossenen Augenlider, aber es war jetzt völlig dunkel, und schon von dieser winzigen Anstrengung drehte sich mir wieder der Magen um. Ich hörte, wie Margaret Walker ihrer Tochter die Anweisung gab, mein Bündel zu schleppen und nicht über das Gewicht zu klagen.

«Andere kannst du vielleicht mit deinem zierlichen Aussehen hinters Licht führen, Lillis, aber mir machst du nichts vor. Ich weiß, daß du stark und zäh bist wie ein Maulesel.»

Die Tochter murrte ein wenig, mühte sich dann aber doch folgsam mit meinem Bündel ab, das zum Glück nicht allzu vollgepackt war. Was mich betraf, so war ich schon viel zu weit weg, um irgendwelche Gewissensbisse zu empfinden. Zwei gute Samariterinnen hatten mich gerettet, das war alles, was ich wußte, und daran hielt ich mich fest. Als Hob und Burl die Tragbahre anhoben und wir uns alle zusammen die High Street hinunterbewegten, wobei mein leidgeprüfter Körper heftig hin und her geschüttelt wurde, ließ ich alle meine Sorgen fahren und gab mich ganz der Vorstellung von einem warmen Bett und der Pflege durch diese beiden tüchtigen Frauen hin. Als wir in die dunkle Schlucht der Bristol Bridge mit ihren hoch aufragenden Läden und Häusern eintauchten, wurde mir noch einmal furchtbar übel, ehe ich gnädigerweise das Bewußtsein verlor.

* Erzählt wird sie in dem Roman «Gefährliche Botschaft»

Der zerrissene Faden

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