Читать книгу Der zerrissene Faden - Kate Sedley - Страница 6
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ОглавлениеIn den nächsten Tagen befand ich mich in einer Art Dämmerzustand. Ich schwankte zwischen Schlafen und Wachen, zwischen klaren Gedanken und schrecklichen Alpträumen, in denen die Stimmen des Bösen auf mich einzuwirken versuchten. Ehe das Fieber endgültig zurückging, war ich nur dreimal für kurze Zeit bei klarem Verstand.
Der erste Augenblick der Klarheit muß wohl gleich am Morgen nach meiner Ankunft eingetreten sein. Er dauerte gerade lange genug an, daß ich mir die Geschehnisse vom Vorabend ins Gedächtnis rufen und mich in meiner neuen Umgebung umschauen konnte. Ich trug keine eigenen Kleider mehr, sondern ein sauberes Leinenhemd, das mir ein wenig zu klein war; jedenfalls spannte der Stoff über meiner Brust, und oberhalb des einen Ärmels war bereits ein kleiner Riß zu sehen. Ich lag nahe der Feuerstelle in der Mitte des Raumes auf einer Strohmatratze, zugedeckt mit zwei groben Wolldecken, die nach getrocknetem Lavendel rochen. Im Feuer brannte Treibholz, das die beiden Frauen sicherlich am Ufer des Avon gesammelt hatten, und der Rauch zog durch ein Loch in der Decke des einzigen Zimmers hinaus. Ein verstellbarer Topfhaken hing von der metallenen Querstange über der Kochstelle und hielt einen mächtigen Eisentopf, in dem es verheißungsvoll blubberte, und es roch nach einer guten, kräftigen Suppe. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre mir von diesem Duft das Wasser im Munde zusammengelaufen, jetzt wurde mir bloß wieder übel.
Ich schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als sich mein Magen ein wenig beruhigt hatte. Vor dem einzigen Fenster sah ich ein Spinnrad stehen. Das Fenster war mit Pergament ausgekleidet, so daß ein wenig von dem bleichen Licht des kalten Januarmorgens ins Zimmer drang. In der einen Ecke stand ein Bett, das groß genug für zwei Personen war, an den Wänden standen eine Truhe, ein Tisch, zwei Stühle, eine hölzerne Bank und ein schmales Regal. Obgleich mein letzter Besuch in Bristol nun schon drei Jahre zurücklag, glaubte ich aufgrund der Richtung, in der man mich auf der Bahre getragen hatte, in Redcliffe zu sein, dem Stadtteil, in dem sich die Hütten der Weber rund um die Thomaskirche drängen. Natürlich hatte ich in Redcliffe auch stattliche Häuser gesehen, doch dies hier war eindeutig die Hütte eines armen Webers – oder war es zumindest gewesen, als Margaret Walkers Ehemann noch am Leben war. Es sprach sehr für seinen Herrn, daß er Margaret und ihre Tochter nach dem vorzeitigen Tod ihres Mannes nicht vor die Tür gesetzt hatte. Aber sicherlich war sie als Spinnerin für ihn auch eine wertvolle Arbeitskraft.
Das war mein letzter Gedanke, als ich wieder in meinen Dämmerzustand versank. Die leisen Stimmen der Frauen und das Rascheln ihrer Schritte auf den Binsen, mit denen der Fußboden ausgelegt war, vernahm ich ganz aus der Ferne, und auch ihre sanften Berührungen, als sie mich wuschen und fütterten und mich auch sonst in jeder Hinsicht versorgten, verspürte ich nur ganz schwach. Ich war wieder in die Dunkelheit zurückgekehrt, in eine Welt, in der ich nur noch schwitzte oder fror, und die nie ganz frei von bösen Dämonen war.
Als ich das zweite Mal zu mir kam, war es Abend. Binsenlichter brannten in den Kerzenhaltern, die auf dem Tisch und auf der Truhe standen. Schattenbilder huschten und flackerten über die Wände. Margaret Walker saß am Spinnrad und spann beim Licht des verglühenden Feuers, und Lillis saß bei ihr und sah zu. Voller Schrecken bemerkte ich, daß sie mich auf das bequeme Bett gehievt hatten und die Matratze, auf der ich vorher gelegen hatte, an der Wand lehnte und nun offensichtlich von den beiden Frauen benutzt wurde. War ich so krank gewesen, daß dieses Opfer nötig geworden war? fragte ich mich. So muß es wohl gewesen sein, denn als ich den Versuch machte, mich zu bewegen und etwas zu sagen, verweigerten mir meine Stimme und meine Glieder ihren Dienst. Das äußerste, was ich bewerkstelligen konnte, war eine schwache Bewegung der Hand und ein erbärmliches Krächzen.
Es reichte aus, um Lillis’ Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Sie sprang auf und war sofort an meiner Seite. «Er ist wach, Mutter», sagte sie, und das Spinnrad hörte auf zu schnurren.
In ihrer besonnenen, ruhigen Art durchquerte Margaret Walker den Raum und lächelte mich freundlich an. «Versuch lieber nicht zu sprechen», sagte sie und legte eine beruhigende Hand auf meine Stirn. «Du hast bestimmt großen Durst. – Lillis, hol Wasser und gib noch etwas von dem getrockneten Salatsaft hinein. Davon wird er besser schlafen können, und das ist genau das, was er im Moment braucht. – Du bist sehr krank gewesen», fügte sie, an mich gewandt, hinzu, «und es wird noch ein paar Tage dauern, ehe du wieder kräftig genug bist, um das Bett zu verlassen.» Sie nahm Lillis den Becher ab und hielt ihn an meine Lippen. «Schluck das. Es wird dir guttun.» Sie stützte meine Schultern, während ich trank, dann bettete sie meinen Kopf wieder auf das Kissen. «Kannst du mir deinen Namen sagen?» fragte sie mich. «Es ist ein bißchen schwierig, wenn man nicht weiß, wie man dich anreden soll.»
«Roger», flüsterte ich und schloß die Augen. Es machte mir große Sorgen, daß ich mich so schwach fühlte und von der geringsten Anstrengung gleich völlig erschöpft war. Ich mußte so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen und durfte die Barmherzigkeit dieser guten Frauen nicht länger in Anspruch nehmen.
Margaret schien meine Gedanken lesen zu können. «Mach dir keine Sorgen», ermahnte sie mich. «Du kannst hierbleiben, bis du wieder völlig genesen bist. Wir brauchen deshalb nichts zu entbehren. Im Gegenteil, es ist uns ein Vergnügen, wieder für einen Mann sorgen zu können. Dieses Gefühl, richtig gebraucht zu werden, hatte ich nicht mehr, seitdem mein Vater gestorben ist...» Sie brach ab, als hätte sie schon viel mehr gesagt, als sie eigentlich preisgeben wollte, und stand abrupt auf. «Versuch jetzt zu schlafen.»
Sie ging zu ihrem Spinnrad zurück und rief nach Lillis, die wohl noch an meinem Bett bleiben und meine Stirn mit ihren kleinen, kühlen Fingern glätten wollte. Ich lächelte dem Mädchen zu und senkte meine Lider, beobachtete sie aber weiterhin aus halb geschlossenen Augen.
Lillis Walker war ein zierliches und dunkles Mädchen. Ihre Erscheinung wirkte schlank und schlicht. Das Auffallendste an ihr waren die großen braunen Augen und die dicken schwarzen Locken. Ihre Haut war blaß, ihr Gesicht elfengleich, und ihr Körperbau besaß noch die spitze Ungelenkigkeit eines Kindes. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, als ich erfuhr, daß sie nur knapp zwei Jahre jünger war als ich und ihr zwanzigster Geburtstag kurz bevorstand. Ihre Bewegungen waren flink und leichtfüßig wie die eines Vogels; sie sprang rasch von einer Sache zur anderen und erfaßte alles, was um sie herum vorging, mit wachem, fragendem Blick. Ihr starker keltischer Zug stammte von ihrer Großmutter mütterlicherseits, einer Frau aus Cornwall, und der Familie ihres Vaters, die ursprünglich aus Wales nach Bristol gekommen war. All dies erfuhr ich natürlich erst sehr viel später, als ich bereits genesen war.
Der getrocknete Salatsaft zeigte bald seine Wirkung und lullte mich ein, so daß ich fast schon wieder eingeschlafen war, als es plötzlich an der Haustür klopfte. Die beiden Frauen sahen einander erschrocken an.
«Mach nicht auf», flüsterte Lillis.
Doch das leise, hartnäckige Klopfen wollte nicht nachlassen.
Seufzend stand Margaret auf, schob den Riegel zur Seite und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Von meinem Bett aus konnte ich durch die schmale Öffnung einen Schatten und den schwachen Schein einer mit einem schwarzen Tuch teilweise bedeckten Laterne erkennen. Wer auch immer dort draußen stand, er war bemüht, nicht aufzufallen und seine Geschäfte in den nächtlichen, dunklen Straßen zu verbergen. Natürlich hätte diese Heimlichtuerei auch damit zu tun haben können, daß das Abendläuten bereits vorüber war, doch aus irgendeinem Grund kam mir das eher unwahrscheinlich vor. Dem Abendläuten wurde längst nicht mehr soviel Bedeutung beigemessen wie früher, und kaum jemand hielt sich noch an die alten Regeln zur Verhütung von Feuersbrünsten.
Ich hörte leises, unverständliches Gemurmel und dann Margarets klare, feste Stimme: «Nein. Du weißt doch, daß ich dich hier nicht mehr sehen will. Gleich nachdem mein Vater gestorben ist, habe ich es dir klipp und klar gesagt. Du verschwendest nur deine Zeit. Bitte geh jetzt.»
Der Besucher ließ sich nicht so einfach abwimmeln. Ich hörte weiteres Gemurmel, bis Margaret ungehalten ausrief: «Nein! Und nochmals nein! Du und deinesgleichen, ihr habt in diesem Haus nichts mehr verloren. Nimm deinen Fuß aus der Tür, oder ich lasse meine Tochter nach der Wache laufen.» Margaret schaute über die Schulter zurück ins Haus. «Lillis!»
Doch Lillis brauchte sich, wie ihre Mutter wohl schon vermutet hatte, gar nicht erst hinaus in die Dunkelheit zu wagen. Die Drohung allein reichte aus, um den ungebetenen Besucher abzuschrecken, und er zog sich eilig zurück. Ich hörte einen gedämpften Fluch und sah die Laterne ein paarmal auf und ab wippen, bis das Licht endgültig verschwand. Margaret Walker schloß die Tür, verriegelte sie wieder und kehrte an ihren Platz am Feuer zurück. Als sie sprach, klang ihre Stimme eher verärgert als beunruhigt.
«Ich glaube, jetzt haben sie endlich begriffen, daß es mir ernst ist. Ich hoffe, sie werden uns nicht noch einmal belästigen. Sie müssen doch endlich verstehen...»
Doch es war mir an diesem Abend nicht vergönnt zu erfahren, was diese geheimnisvollen Leute endlich verstehen sollten. Das Schlafmittel hatte seine volle Wirkung entfaltet, und ich sah und hörte nichts mehr. Mein Bewußtsein erlosch so abrupt wie eine Kerzenflamme, die von einer Lichtputzschere erstickt wird.
Ich habe gesagt, daß ich während meiner schweren Krankheit drei klare Momente hatte, und bei den beiden, die ich bisher geschildert habe, bin ich mir auch absolut sicher, daß es sie wirklich gegeben hat. Sie haben sich fest in mein Gedächtnis eingeprägt, und noch lange Zeit, nachdem ich aufgestanden war und meine ersten vorsichtigen Schritte durchs Zimmer machte, konnte ich mich ganz deutlich an sie erinnern. Was den dritten Moment angeht, hatte ich gewisse Zweifel, bis Lillis selbst mir, ohne zu erröten, gestand, daß sich alles genauso zugetragen, ich es also nicht geträumt hatte. Sie war tatsächlich nackt in mein Bett geschlüpft, um mich zu wärmen, als mich während meiner Fieberattacken ein schrecklicher Schüttelfrost in seinen Klauen hielt.
«Du hast so sehr gefroren», sagte sie. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte das Kinn in beide Hände und schaute mich über den schmalen Tisch hinweg so offen und unbekümmert an, als handelte es sich dabei um die natürlichste Sache der Welt. Und genauso hätte ich es bei diesem seltsam entrückten, elfengleichen Wesen, das schon halb Frau, aber auch noch halb Kind war, hinnehmen können – wäre da in ihren großen, dunklen Augen nicht dieser sinnliche Blick gewesen.
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, und war dankbar dafür, daß ich noch nicht wieder genug Kraft gehabt hatte, um mich zu rasieren. Die dicken blonden Bartstoppeln, die mir im Laufe einer Woche gewachsen waren, reichten aus, um mein Erröten zu verbergen.
Doch Lillis fuhr unerbittlich fort: «Ich habe dich nur gefragt, ob du dich daran erinnerst, weil du es bisher nie erwähnt hast und ich nicht wußte, ob du es noch weißt. Ich dachte, falls du dich daran erinnerst, plauderst du es vielleicht in Mutters Gegenwart aus und sie... na ja... sie könnte es mißverstehen.»
Das war in der Tat gut möglich. Ich räusperte mich umständlich und antwortete so ruhig wie möglich: «Ja, ich erinnere mich... Aber ehrlich gesagt, ich dachte, ich hätte es nur geträumt.»
Lillis lächelte geheimnisvoll, senkte die langen Wimpern und schenkte mir einen verschwörerischen Blick. «O nein, du hast es nicht geträumt. Es war gleich in der ersten Nacht. Du lagst auf der Matratze auf dem Boden, und Mutter und ich waren im Bett. Mutter und du, ihr schlieft beide fest, aber gegen Morgen bist du ganz unruhig geworden, hast angefangen, vor Kälte zu zittern und mit den Zähnen zu klappern. Ich bin aus dem Bett geschlüpft, um noch ein Stück Torf auf das Feuer zu werfen, und dann... na ja... ich dachte, es wäre eine gute Idee, zu dir unter die Decke zu kriechen und meine Arme um dich zu legen.» Ihr Lächeln wurde breiter, und ihre Augen verengten sich zu funkelnden Schlitzen. «Es hat dich beruhigt. Nach einer Weile hast du aufgehört zu zittern und bist wieder eingeschlafen. Ich bin bei dir geblieben, bis die ersten Lichtstrahlen durch die Fensterläden drangen, dann bin ich zurück ins große Bett geschlüpft. Das war auch allerhöchste Zeit, denn kurz darauf ist Mutter aufgewacht. Aber sie ahnt nichts davon, und ich glaube, es ist auch besser, wenn sie es nicht erfährt.»
«Ich werde es ihr ganz bestimmt nicht erzählen», versicherte ich.
Sie lachte auf. «Du bist verlegen! Ein stattlicher Kerl wie du, der bestimmt schon Dutzende von Mädchen gehabt hat. Warum denn bloß?»
Ich konnte mir selbst kaum erklären, warum der Gedanke an diese nächtliche Begegnung, die ich selbst gar nicht bewußt mitbekommen hatte, mich so verwirrte. Sie hatte völlig recht, ich hatte Mädchen zur Genüge gehabt, seitdem ich vor zwei Jahren als völlig unerfahrener Junge, der gerade erst dem klösterlichen Leben entsagt hatte, am fernen Ufer des Stour zum erstenmal mit einem Mädchen im Gras gelegen hatte. War es, weil mir bereits schwante, daß mich diese ungestüme Jägerin als ihre alleinige Beute betrachtete?
Es war am späten Nachmittag, ungefähr zwei Wochen nachdem ich Bristol durch das Pithay-Tor betreten hatte, und der vierte oder fünfte Tag, an dem ich aufgestanden war, mich selbst gewaschen und angezogen und ein paar vorsichtige Schritte im Zimmer gewagt hatte. Am nächsten Tag wollte ich mich ein für allemal von meinen Bartstoppeln trennen und anschließend so bald wie möglich nach einer anderen Unterkunft umsehen, wo ich bleiben konnte, bis ich kräftig genug war, mein Bündel zu schultern und über die Landstraßen zu ziehen. Ich hatte darauf bestanden, wieder auf der Matratze am Boden zu schlafen, damit die beiden Frauen in ihr bequemes Bett zurückkehren konnten, aber die Enge führte immer öfter zu Peinlichkeiten, und ich fühlte mich wie eingesperrt.
Margaret Walker hatte an diesem Tag früher aufgehört zu spinnen, war mit dem fertigen Garn zu den Weberhütten hinübergegangen und würde in Kürze mit zwei Weidenkörben voll ungesponnener Wolle an der Schultertrage zurückkehren. Das Wetter war eiskalt und naß, der unerbittliche Regen überflutete das Pflaster und machte die Steine schlüpfrig, so daß die Packtiere unter ihren Lasten hin und her schlitterten. Das hatte ich zumindest von der offenen Tür beobachten können, ehe mich Lillis ausschimpfte und zurück ans warme Feuer zog. Schuldbewußt hatte ich auf einem Stuhl Platz genommen und meine Füße zum Feuer hin ausgestreckt, und sie hatte sich neben mir niedergelassen und mich gefragt, ob ich mich daran erinnern könnte, wie sie in der allerersten Nacht zu mir ins Bett gekrochen war.
Inzwischen war unsere Unterhaltung zum Stillstand gekommen. Wir hockten stumm nebeneinander, während Lillis mich auch weiterhin anfunkelte wie eine Katze eine verängstigte Maus und ich ihrem Blick auswich und unverwandt ins Feuer starrte. So saßen wir beisammen, als Margaret Walker endlich zur Tür hereinkam. Trotz ihrer schweren Last wurde sie von den kalten Windböen fast in die Luft gehoben.
«Ihr seid ja so schweigsam», sagte sie, stellte die Körbe ab und ließ die hölzerne Trage von den Schultern gleiten. Dann schüttelte sie die Wassertropfen von ihrem Umhang, schob die Kapuze zurück und rief in scharfem Ton: «Lillis! Warum hast du denn noch nicht mit dem Kochen begonnen? Du hast ja noch nicht einmal das Wasser übers Feuer gehängt, und das Gemüse ist auch noch nicht geputzt.»
Lillis verzog das Gesicht, doch muß ich zu ihren Gunsten sagen, daß sie ihrer Mutter nie Widerworte gab, so barsch deren Ton auch sein mochte, und manchmal waren Margarets Ermahnungen auch wirklich nicht angebracht. Lillis stand auf, zog den eisernen Topf vom Regal neben der Tür und füllte ihn am Wasserfaß in der Ecke des Zimmers. Als ich ihr helfen wollte, den Topf zum Herd zu tragen, befahl mir Margaret, mich wieder hinzusetzen.
«Du bist noch nicht kräftig genug, um schwere Sachen zu tragen. Und außerdem müssen wir beide, wenn du nicht mehr da bist, auch wieder allein zurechtkommen. Wir sind beide stark und geübt genug.»
Ich mußte zugeben, daß Lillis trotz ihrer dünnen Ärmchen erstaunliche Kräfte besaß und um das Aufhängen des Eisentopfs über dem Feuer nicht mehr Aufhebens machte als um das Auf stellen einer Blumenvase. Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl und sah den beiden Frauen zu, wie sie Kräuter und Wurzelgemüse für das Abendessen putzten. Zum Mittagessen hatte es etwas gesalzenes Hammelfleisch gegeben, doch für unsere Abendsuppe wurde ein Stück Speck als ausreichend erachtet. Zusammen mit einer dicken Scheibe Brot aus Weizen- und Roggenmehl würde er meinen rasch zurückkehrenden Appetit schon im Zaume halten.
Margaret schaute zu mir auf und sagte: «Du bekommst langsam wieder ein bißchen Farbe in die Wangen... das heißt, soweit man das unter deinem Bart erkennen kann.»
«Der wird morgen verschwinden», versprach ich und rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her, da ich wußte, daß sie meine nächsten Worte nicht besonders wohlwollend aufnehmen würde. «Und dann muß ich weiterziehen, in Richtung Wells. Dahin war ich unterwegs, als ich mich auf dem Weg von Salisbury verirrt habe. Ich bin in Wells geboren und hatte gehofft, dort ein paar alte Bekannte meiner Mutter ausfindig zu machen, die mich den Winter über beherbergen können.»
Das Entsetzen stand den beiden Frauen in den Gesichtern geschrieben.
«Aber du kannst in deinem Zustand unmöglich zwanzig oder gar mehr Meilen wandern», sagte Margaret ärgerlich. «So etwas Törichtes habe ich ja noch nie gehört.»
«Du hast doch einen Platz, wo du bleiben kannst. Hier bei uns!» rief Lillis. «Nach allem, was wir für dich getan haben, kannst du uns doch nicht einfach wieder allein lassen.»
Mit dieser Bemerkung lenkte sie jedoch nur den Zorn ihrer Mutter auf sich. «Was wir getan haben, war bloß unsere Christenpflicht, mein liebes Mädchen, das darfst du nie vergessen! Wir dürfen es nicht dazu mißbrauchen, Roger zu irgend etwas zu zwingen, was er selbst nicht will.» Dann wandte sich Margaret wieder an mich. «Beachte sie gar nicht, Roger, und glaube nicht, daß du uns in irgendeiner Weise verpflichtet wärst. Meine Sorge gilt ganz allein deiner Gesundheit, obwohl ich nicht verhehlen kann, daß wir beide über deine Gesellschaft äußerst glücklich wären, falls du deine Meinung ändern und dich dafür entscheiden könntest hierzubleiben. Uns ist manchmal sehr einsam zumute, wenn wir in den langen, dunklen Winternächten allein sind.»
Lillis nickte zustimmend. «Vor allem, seitdem Großvater gestorben ist und die Leute hinter unseren Rücken über uns tuscheln. Manchmal machen sie sogar in unserer Gegenwart gehässige Bemerkungen. Als wenn das, was passiert ist, unsere Schuld wäre. Dabei hatte es überhaupt nichts mit uns zu tun. Wir kennen die Wahrheit genausowenig wie alle anderen.» Als sie Margarets warnenden Blick auffing, fügte sie ungeduldig hinzu: «Wenn er hierbleibt, wird er früher oder später ohnehin davon erfahren, also kann er es genausogut auch gleich von uns hören. Zumindest werden wir uns auf die Tatsachen beschränken und keine Gerüchte verbreiten.» Sie lachte triumphierend. «Schau! Wir haben sein Interesse geweckt, ich sehe es ganz deutlich an seinem Gesicht. Wer weiß», fuhr Lillis mit einem leicht spöttischen Lächeln fort, «vielleicht kann Roger sogar für uns das Rätsel lösen.»