Читать книгу Der zerrissene Faden - Kate Sedley - Страница 9

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Eine tiefe Stille legte sich über das Zimmer, und der Ruf der Wache in einer nahen Straße klang plötzlich so laut, als stünde sie direkt neben uns. Margaret und ich schreckten hoch, nur Lillis rührte sich nicht.

Dennoch brach sie als erste das Schweigen, indem sie an die letzte Bemerkung ihrer Mutter anknüpfte. «Das denken alle. Auch die Leute des Sheriffs und der Sheriff selbst.»

Margaret schauderte. «Ja, Lillis hat recht. Keiner glaubte meinem Vater, und obgleich einige verständig genug waren, um zu erkennen, daß er für seine Worte nicht verantwortlich gemacht werden konnte – sein Geist war völlig benebelt und verwirrt –, gaben sich andere der Vermutung hin, er hätte bloß die Spuren seiner eigenen Untaten verwischen wollen.» Margaret preßte die Hand an die Stirn. «Und wer will es den armen Seelen verdenken, daß sie ihre eigene Schuld auf meinen Vater abwälzen wollten? Auf einmal erinnerten sie sich nur noch äußerst ungern daran, welche verheerenden Folgen ihre Worte für Robert Herepath hatten, auch wenn sie nicht selbst vor Gericht ausgesagt hatten. Ist es da ein Wunder, daß sie jemanden brauchten, dem sie die ganze Schuld in die Schuhe schieben konnten?»

«Und als er dann gestorben ist», war wieder Lillis’ Stimme zu hören, «fingen sie an, auch uns komisch anzusehen und hinter uns herzutuscheln. Sie taten so, als hätten wir ihnen nicht alles gesagt, was wir wußten.»

«Ist das wahr?» fragte ich Margaret.

Sie nickte. «Natürlich haben wir auch Freunde, wahre Freunde wie Nick Brimble, die uns beistehen und aufpassen, daß uns kein Leid geschieht. Aber es gibt auch Leute, die uns nicht einmal mehr guten Tag sagen, und Ladenbesitzer, die sich weigern, uns zu bedienen.»

Ich schnaubte empört. «Und was ist mit Edward Herepath und Cicely Ford? Wie behandeln die euch?»

«In der Hinsicht können wir uns eigentlich nicht beklagen», räumte Margaret ein. «Sicherlich empfinden sie Bitterkeit und großen Zorn, aber sie lassen ihre Gefühle nicht an uns aus, auch wenn Edward Herepath sich nie überwinden konnte, meinen kranken Vater zu besuchen. Cicely Ford dagegen ist mehrmals gekommen, und als sie sah, wie schlecht es um ihn stand, hat sie ihm aus der Küche ihres Hauses der Small Street sogar etwas zu essen mitgebracht. Sie macht sich große Vorwürfe, weil sie Robert nicht geglaubt hat. In letzter Zeit ist sie so dünn, blaß und schweigsam geworden, daß es mir schier das Herz bricht, wenn ich sie sehe.»

Lillis murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte, wahrscheinlich aber auch nicht verstehen wollte. Sie zeigte wenig Mitgefühl mit den Sorgen anderer Menschen, machte jedoch auch um die eigene Person wenig Aufhebens. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die sich dem Selbstmitleid hingeben, und reagierte unwirsch, wenn ich mit ihr und ihrer Mutter Mitleid zeigte. Dennoch spürte ich, daß die beiden dringend einen guten Freund gebrauchen konnten.

«Ich sehe, daß ihr in einer schwierigen Lage seid», sagte ich. «Die Menschen tun sich schwer damit, die Verantwortung für eine Tragödie zu übernehmen. Lieber suchen sie nach einem Sündenbock. Aber habt ihr selbst eine Erklärung für William Woodwards plötzliches Verschwinden? Etwas, was auch die Blutspuren in der Bell Lane begründen könnte? Seine Geschichte scheint immer noch die einzige zu sein, die alle Geschehnisse zu erklären vermag.»

Ich schaute nicht in Lillis Richtung, hörte aber, wie sie Luft holte, als wollte sie etwas sagen. Doch Margaret ließ es nicht dazu kommen. «Nein, wir haben nicht die geringste Idee», sagte sie rasch – und vielleicht ein wenig zu heftig? «Ich selbst bin mir allerdings sicher, daß man ihn nicht nach Irland gebracht hat, und zwar aus den Gründen, die ich dir bereits genannt habe. Und Ratsherr Weaver, der in Dublin und Waterford viele Leute kennt, hat sich für mich überall erkundigt. Niemand dort erinnert sich daran, meinen Vater je gesehen zu haben.»

«Ratsherr Weaver?» fragte ich erstaunt. «Der aus der Broad Street?» Aber natürlich hatte sie schon vorher in Verbindung mit ihrem Vater von einem Alfred Weaver gesprochen. Ich hätte sofort begreifen müssen, wen sie damit meinte. Schließlich gehörten ihm viele der Weberhütten auf dieser Seite des Avon. Als sie verwundert nickte, erklärte ich: «Ich kenne den Ratsherrn. Vor zwei Jahren, als sein Sohn auf rätselhafte Weise plötzlich verschwunden ist, hatte ich die Ehre, ihm einen wichtigen Dienst zu erweisen. Ich erzähle euch ein andermal davon, denn die Geschichte ist zu lang, um sie jetzt hier auszubreiten.* Es mag genügen, wenn ich sage, daß ich mit seinem Segen möglicherweise weitere Erkundigungen für euch einholen kann – natürlich nur, falls ihr das möchtet.»

Einen Augenblick lang schienen die beiden Frauen geneigt, nachzuhaken und meine Beziehung zum Ratsherrn genauer zu erforschen, doch zum Glück waren ihnen ihre eigenen Sorgen näher, und sie ließen bald von ihren halbherzigen Fragen ab.

«Wenn du tatsächlich etwas herausfinden könntest, wäre das für uns natürlich eine große Erleichterung», sagte Margaret. «Vielleicht könnten wir dann zumindest beweisen, daß Lillis und ich keine Ahnung hatten, wer meinen Vater in jener Nacht aus dem Bett geholt und so grausam verwundet hat.» Aber in ihrer Stimme schwangen Zweifel mit – als wüßte sie, daß die Wahrheit nicht immer nur angenehm ist.

Lillis schien solche Bedenken nicht zu hegen. «Wir müssen alles erfahren, was Roger herausfinden kann, Mutter, auch wenn es Großvaters gutem Namen vielleicht schadet. Er muß versuchen, alles herauszubekommen.»

Margaret erhob sich und legte noch zwei Torfstücke aufs Feuer, damit es die Nacht über glomm, ohne daß Funken entweichen und die Hütte in Brand setzen konnten.

«Roger weiß bereits alles, was wir beide ihm berichten können», erwiderte sie sanft. In ihrem Tonfall glaubte ich dennoch eine gewisse Warnung zu erkennen. «Wenn uns noch irgend etwas einfallt, haben wir genügend Zeit, unsere Geschichte zu ergänzen. Im Augenblick sind wir alle drei ziemlich müde und brauchen unseren Schlaf. – Lillis, steh auf, leg die Decken zusammen und schieb die Matratze zur Wand.» Die Tochter folgte ihren Anweisungen, und Margaret zog das verblichene rotgrüne Tuch vor, lächelte mir zu und verschwand mit Lillis hinter dem Vorhang. «Schlaf gut», rief sie noch, ehe sie sich schlafen legte.

Ich zog mich bis aufs Hemd aus und schlüpfte unter die Decken, den Kopf auf das weiche, mit Federn gefüllte Kissen gebettet. Ich war von meiner Krankheit noch immer geschwächt, und alle Glieder taten mir weh. Trotzdem wollte der Schlaf nicht kommen. Ich wälzte mich unruhig hin und her und ging in Gedanken immer wieder die merkwürdigen Geschehnisse um William Woodwards Verschwinden durch. Daß er mit Gewalt aus seinem Haus entführt worden war, schien offensichtlich, denn warum sonst hätte man dort Blutspuren gefunden? Außerdem hatte Margaret von Narben gesprochen, die von Verwundungen am Kopf herrührten. Auch daß man seinen Hut im Fluß gefunden hatte, deutete daraufhin, daß man ihn tatsächlich auf einem Sklavenschiff nach Irland verschleppt hatte. Und in dem Fall machten auch die Aussagen der Zeugen Sinn, die in Williams Haus Schreie gehört oder dunkle Gestalten am St. John-Tor gesehen hatten.

An dieser Version der Geschichte hatten jedoch zu viele Menschen Zweifel geäußert, als daß ich sie für die wahrscheinlichste Erklärung halten konnte. Und ehe ich nicht mit dem Ratsherrn gesprochen hatte, mußte ich mich ohnehin jedes Urteils enthalten. Ich nahm mir vor, ihn gleich am nächsten Morgen aufzusuchen, und vertraute darauf, daß es mir aufgrund unserer früheren Bekanntschaft ohne Schwierigkeiten gelingen würde, zu ihm vorgelassen zu werden.

Doch welche andere Erklärung könnte es für Williams angebliche Ermordung und wundersame Auferstehung geben? Und warum hatte ich das seltsame Gefühl, daß Margaret Walker mir irgend etwas verschwieg? Diese und andere ungelöste Fragen im Kopf, fiel ich schließlich in einen unruhigen Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich noch immer wie zerschlagen. Ich wußte, eigentlich hätte ich mir noch ein paar Tage Ruhe gönnen sollen, ehe ich wieder größere Kraftanstrengungen unternahm, doch ich vertraute auf meine natürliche Widerstandskraft und meine robuste Gesundheit und wollte mich unverzüglich daran machen, weitere Erkundigungen einzuziehen. Denn obgleich ich mich bereit erklärt hatte, den Winter über bei den Walkers zu bleiben, war ich doch bestrebt, meine Schuld so rasch wie möglich abzutragen und auf diese Weise meine Freiheit wiederzuerlangen. Nicht daß ich die beiden nicht gemocht hätte. Im Gegenteil, ich empfand freundschaftliche Zuneigung zu Margaret Walker, die mich in gewisser Weise an meine Mutter erinnerte. Nur in Lillis’ Gegenwart war mir unbehaglich zumute. Das zu allem entschlossene, raubkatzenhafte Funkeln, das in ihren Augen aufblitzte, sobald sie in meine Richtung sah, sagte mir, daß sie mich als ihre Beute betrachtete und über eine Möglichkeit nachsann, mich in eine Falle zu locken. Auch wenn sie viel jünger aussah, war sie zwanzig Jahre alt und reif für einen Ehemann.

Noch ehe sich die beiden Frauen regten, stand ich auf, zog mein Beinkleid an, öffnete die Tür und ging durch die schmale Gasse am Haus entlang in den hinteren Hof. Nach dem Gang auf den Abtritt holte ich Wasser aus dem Brunnen, der alle umliegenden Häuser mit frischem Wasser versorgte, und wusch mir den Kopf. Ein wohldosierter Einsatz des Blasebalgs erweckte das glimmende Feuer wieder zu neuem Leben. Ich schob den Torf beiseite, um mein Rasierwasser heiß zu machen. In der Hoffnung, daß ihr schwaches Licht die beiden Frauen nicht stören würde, hatte ich zwei kleine Binsenlichter angezündet. Doch gerade als ich die Hand zufrieden über mein glattes Kinn gleiten ließ, schlüpfte Lillis hinter dem Vorhang hervor.

Sie trug nichts weiter als ihr langes, dünnes Leinenhemd und hob, als ich mich zu ihr umschaute, die Arme, um sich zu strecken. Sie lächelte hinterlistig.

«Ohne Bart siehst du noch hübscher aus», sagte sie. «Das heißt, falls das überhaupt möglich ist.»

Ich gab keine Antwort. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich war kein eitler Junge mehr, aber falsche Bescheidenheit war auch nicht meine Sache. Ich wußte, daß die Frauen an mir Gefallen fanden, und hatte mich oft darüber gewundert, daß die Natur es mit mir so gut gemeint hatte, denn mein Vater war, soweit ich mich an ihn erinnern kann, klein und dunkelhäutig und hatte ein wettergegerbtes Gesicht. Meine Mutter hatte immer behauptet, daß ich nach meinem Großvater kam. «Ein wahrer Sachse», pflegte sie schwärmerisch von ihm zu sagen. Sie selbst war hellhäutig, ihr Haar so honigfarben wie meines, doch auch sie hatte nicht meine tiefblauen Augen.

«Ich hole noch etwas Wasser fürs Frühstück», bot ich rasch an, griff nach der Kanne und war schon auf dem Weg hinaus, als Lillis sich behende zwischen mich und die Tür schob.

«Hast du Angst vor mir?» fragte sie, ein herausforderndes Lächeln auf den Lippen.

«Warum sollte ich?» entgegnete ich und betete innerlich, daß Margaret zu meiner Rettung erscheinen würde, denn ich ahnte, wenn sie nicht sofort käme, würde es nur noch wenige Augenblicke dauern, bis Lillis ihre dünnen Arme um meinen Hals geschlungen und ihren schlanken, sinnlichen Körper an mich gepreßt hatte.

Mein Gebet wurde erhört. Obgleich ich mit dem Rücken zum Vorhang stand, konnte ich an Lillis Gesichtsausdruck erkennen, daß Margaret auf der Bildfläche erschienen war. Der Ausdruck der Begierde wich einem kindlichen Schmollmund, und die schmalen Schultern versteiften sich, als Margarets strenge Stimme erklang.

«Lillis! Zieh dich sofort an! Stell dir vor, es käme jemand herein. Was sollen die Leute von uns denken? Es gibt schon genug Gerüchte über uns, da brauchst du nicht noch Öl auf ihr Feuer zu gießen.»

Das Frühstück – Porridge und Trockenfisch – nahmen wir in gedrückter Stimmung ein. Lillis war mürrisch und schlechter Laune, und Margaret schien mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt zu sein. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob sie die Situation nicht noch verschlimmert hatte, indem sie mich einlud, die Wintermonate in ihrem Haus zu verbringen. Auch ich machte mir deshalb Sorgen. Ich bekräftigte innerlich meinen Entschluß, so rasch wie möglich alles herauszufinden, was über William Woodward zu erfahren war, und anschließend Lebewohl zu sagen. Voller Sehnsucht betrachtete ich mein Reisebündel und konnte den Wunsch, es an mich zu reißen und davonzulaufen, nur schwer unterdrücken.

Margaret mußte meinem Blick gefolgt sein, denn als ich mich zu ihr umwandte, sah ich, daß sie mich ängstlich beobachtete. Ich lächelte ihr beruhigend zu. «Sobald es hell ist, mache ich mich auf den Weg in die Broad Street», versprach ich ihr.

Genau wie vor zwei Jahren näherte ich mich dem Haus des Ratsherrn von der Rückseite, also von der Tower Lane her. Der kleine, ummauerte Garten mit den kahlen Birn- und Apfelbäumen und den im tiefen Winterschlaf liegenden Kräuter- und Blumenbeeten sah noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Nur die stattliche Matrone mit dem großen Schlüsselbund am Gürtel, die auf mein Klopfen hin an der Küchentür erschien, war eine andere. Marjorie Dyers Tage waren seit langem vorbei.

Meinem Ansinnen, zum Ratsherrn vorgelassen zu werden, begegnete die Haushälterin mit großem Mißtrauen, und meine Behauptung, er würde mich kennen, rief offene Entrüstung hervor. Hinter ihrem Rücken sah ich zwei kleine Küchenmädchen, die mich, entzückt über die unerwartete Abwechslung, mit großen Augen anstarrten. Ich überlegte schon, wie lange es wohl dauern würde, bis man mir die Tür vor der Nase zuschlagen würde, als jemand in den Garten trat und sich an mir vorbei in die warme Küche schlängelte.

«Ned!» rief ich dankbar aus. «Ned Stoner! Ich muß dringend den Ratsherrn sprechen. Sag doch der Haushälterin bitte, daß er mich kennt.»

Der grobschlächtige Bursche beäugte mich argwöhnisch, dann verzog sich sein wettergegerbtes Gesicht zu einem breiten Grinsen. «Zum Teufel, wenn das nicht Roger Chapman ist! Wie geht’s denn, alter Knabe? Und was machst du hier in Bristol?» Ohne eine Antwort auf seine Fragen abzuwarten, wandte er sich an den Drachen, der mir den Weg versperrte. «Das geht schon in Ordnung, Dame Judith, den könnt Ihr ruhig dem Ratsherrn melden. Er wird ihn ganz bestimmt empfangen. Schließlich hat er unserem Freund, dem Hausierer, eine ganze Menge zu verdanken.»

Mit ungerührter Miene zog sich die Haushälterin zurück und kehrte einige Minuten später mit der Nachricht wieder, daß Ratsherr Weaver mich tatsächlich empfangen wolle.

Der Widerwille, mit dem sie mir diese Nachricht überbrachte, wurde wohl noch dadurch verstärkt, daß ich inzwischen Neds Einladung gefolgt und in ihre Küche getreten war, wo die beiden Mädchen ihre Pflichten vernachlässigten, mich verschämt anschauten und verlegen kicherten. Meine Beziehung zu ihrem Herrn war ihr ganz offensichtlich ein Rätsel, und ich fragte mich, ob ihr Stolz es wohl zulassen würde, sich bei Ned danach zu erkundigen, sobald ich gegangen war.

Der Ratsherr hatte gerade sein Frühstück beendet und empfing mich in der großen Halle mit den geschnitzten, üppig bemalten Türpfeilern und Deckenbalken. Die Glasfenster, die mich bei meinem ersten Besuch so beeindruckt hatten, waren jetzt vom Schmutz des Winters fast blind, ließen aber immer noch viel Tageslicht herein. Den ebenfalls mit reichen Schnitzereien verzierten Schrank mit dem Zinn und Silber hatte man in eine andere Ecke gerückt, doch sonst sah alles ganz genauso aus wie bei meinem ersten Besuch. Auch der Ratsherr, der sich von einem der prächtigen Sessel vor dem Kamin erhob, um mich freundlich zu begrüßen, War ganz der alte – nur ein wenig älter vielleicht, ein wenig mehr von den Sorgen des Lebens gezeichnet, doch von der gleichen untersetzten Statur und in die gleichen altmodischen Gewänder gekleidet.

Er deutete mit der Hand auf den anderen Sessel. «Roger Chapman!» rief er aus. «Was kann ich für dich tun?»

Ich erklärte ihm mein Anliegen, und während ich sprach, lag ein schwaches, von Traurigkeit getrübtes Lächeln auf seinen Lippen.

«Du nutzt also noch immer dein außergewöhnliches Talent, um anderen Menschen zu helfen, genau wie damals, als du mir einen unschätzbaren Dienst erwiesen hast», sagte er, als ich meine Erzählung beendet hatte. «Leider besteht allerdings auch diesmal wenig Aussicht auf ein glückliches Ende», fügte er nach einigem kummervollem Nachdenken hinzu. «Oder vielleicht ist die Aussicht sogar noch schlechter, denn ich hatte zumindest die Genugtuung, die Übeltäter ihrer wohlverdienten Strafe zuführen zu können. Darauf wird es in diesem Fall wohl keine Hoffnung geben, denn das fragliche Verbrechen haben wir uns alle anzulasten, alle Bürger Bristols waren daran beteiligt. Wir haben unserer Abneigung gegen den jungen Mann nachgegeben und uns zu einem voreiligen Urteil hinreißen lassen. Wir haben zugesehen, wie Beweise und Aussagen gegen ihn erfunden wurden, und wir haben uns selbst eingeredet, diesen Aussagen zu glauben, weil wir wollten, daß der Junge schuldig ist. Mit dieser Schande müssen wir bis an das Ende unserer Tage leben.» Er sah mich an und hob beschwichtigend die Hand. «Oh, ich kann erraten, was du jetzt denkst. Was geschehen ist, hat Robert Herepath nicht zu einer geringeren Bürde für seinen gutherzigen Bruder gemacht – und natürlich auch nicht für uns, die wir seine Unverschämtheit, seine Spielleidenschaft, seine Schulden und seine Trinkerei erdulden mußten. Aber kein Mensch, und sei er auch noch so mit Fehlern behaftet, hat es verdient, durch den Strick eines Henkers für einen Mord zu sterben, den er nicht begangen hat.»

Ich nickte und sagte: «Ich stimme Euch voll und ganz zu. Aber ebenso wenig sollten zwei unschuldige Frauen für etwas leiden, für das sie nicht verantwortlich sind. Deshalb möchte ich auch unbedingt herausfinden, wo sich William Woodward in der Zeit zwischen März und August letzten Jahres, von Märia Verkündigung bis Märia Himmelfahrt, aufgehalten hat.»

Der Ratsherr runzelte die Stirn. «Ein unmögliches Unterfangen, wenn du meine Meinung hören willst. Der einzige Mensch, der in diese Angelegenheit Licht hätte bringen können, ist tot.»

«William Woodward hat behauptet, von Sklavenhändlern nach Irland gebracht worden zu sein, aber keiner scheint ihm geglaubt zu haben. Der im Fluß gefundene Hut und die Zeugenaussagen bei Robert Herepaths Prozeß scheinen diese Behauptung aber zu unterstützen. Warum wurde William Woodwards Geschichte rundheraus abgelehnt?»

Ratsherr Weaver seufzte. «Weil die Sklavenhändler sich in aller Regel nicht mit altern Leuten abgeben. Mit denen läßt sich einfach kein Geld verdienen. Und wenn sie sich doch einmal an alten Menschen vergreifen – es gibt genug ruchlose Männer und Frauen, denen es ein hübsches Sümmchen wert ist, ihre alten Verwandten loszuwerden –, dann sind sie nicht dumm genug, ihre Opfer so fest auf den Kopf zu schlagen, daß sie den Verstand verlieren. Was für einen Nutzen hätten sie davon? Nein, die Wahrheit über Williams Schicksal muß irgendwo anders liegen. Und jetzt, junger Mann, mußt du mich entschuldigen. Ich muß heute vormittag noch zu den Weberhütten hinübergehen. Der Aulnager kommt, um die Tücher zu prüfen, ehe sie an den Londoner Stalhof gehen.»

* Rogers erstes Abenteuer wird in dem Roman «Die letzte Rast» erzählt.

Der zerrissene Faden

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