Читать книгу Wenn alle Dämme brechen - Katharina Rappmund - Страница 6
AUF INS GEFECHT – EIN VORWORT
ОглавлениеEigentlich wollte ich Piratin werden. Nicht so eine, die mit goldenen Ohrringen und weitem Rock schmachtend auf die Rückkehr ihres schnittigen Freibeuters lauert. Nein, ich wollte selbst mit den Schwertern rasseln, Messer wetzen und Weltmeere befahren. Mit flatterndem Haar unter einem roten Tuch in die Takelage klettern, mich auf fremde Schiffe schwingen und mitten ins Getümmel stürzen. So wie Mary Read, die berühmte englische Freibeuterin des 18. Jahrhunderts, dargestellt wird: mit mehreren Pistolen und einer Axt im Gürtel, wehendem Jackett und einem langen Messer in der Hand. Dabei sah ich mich Seite an Seite mit einem romantischen Weggefährten Modell »roter Korsar« oder noch lieber »Errol Flynn« für meine hehren Ideale kämpfen.
Doch wie so oft im Leben entwickelten sich die Dinge völlig anders als erträumt. In meinem ganzen Leben habe ich keine längere Schiffsreise unternommen, nicht einmal eine Mini-Kreuzfahrt: Ich werde einfach schrecklich seekrank. Einen Mann namens Errol habe ich zwar getroffen, aber der machte dem Namen keine Ehre. Nur ein einziges Detail meiner Jungmädchenträume habe ich verwirklichen können: Den Umgang mit scharfen Messern, den habe ich erlernt. Ich wurde Frauenärztin.
Viele Seemeilen liegen zwischen dem Tag, an dem ich die Segel setzte, und heute. Ein langer Weg, auf dem mich sowohl Patientinnen als auch Kollegen geprägt haben. Doch er war bestimmt nicht weniger aufregend. Was die Abenteuer, die blutigen Schlachten und die großen Gefühle angeht, kann es eine Arztkarriere durchaus mit einem Piratenleben aufnehmen. Jeder einzelne Tag ist voll von unerwarteten Wenden, voll glücklicher, trauriger, aber auch skurriler Episoden. Bestimmt gibt es eine Kollegin oder einen Kollegen, der noch drastischere Dinge, noch Verrückteres erlebt und zu berichten hat. Doch ich möchte nicht eintreten in einen Drama-Wettstreit auf Leben und Tod. Dies ist meine ganz persönliche Geschichte.
Ich wäre gern eine perfekte Ärztin geworden, eine Art Wonderwoman im Weißkittel. Doch was heißt schon perfekt? Neben den medizinischen Problemen gibt es da auch noch die Anweisungen der Verwaltungen, der Krankenkassen und nicht zuletzt der Vorgesetzten, die alle beachtet werden wollen. Es sei denn, man schlägt sich ganz nach Errol-Flynn-Manier auf die Seite der Opfer (in diesem Fall der Patientinnen).
Das erste Mal, dass ich dies tat, war bei Frau Friedrich. Sie hatte Zellveränderungen am Muttermund und kam am Tag vor ihrer Operation total aufgelöst und mit einem Gesichtsausdruck auf meine Station, als ginge sie auf ihre eigene Beerdigung.
»Ich will doch noch ein Kind. Kann ich danach noch Kinder bekommen? Ich will nicht aufwachen und ausgenommen sein wie eine Weihnachtsgans.«
Ich versuchte sie zu beruhigen, aber es war, als spräche ich chinesisch, kaukasisch oder einen seltenen Dialekt Papua-Neuguineas – ich kam einfach nicht zu ihr durch. Niemals würde ich sie davon überzeugen können, diese verdammte Einverständniserklärung zur OP zu unterschreiben.
Da klingelte plötzlich ihr Telefon. Es wurde ein kurzes Gespräch.
»Ich muss gehen, mein Sohn ist krank«, sagte sie und setzte ohne hinzusehen ihre Unterschrift unter die Einwilligung. »Er hat Fieber, und mein Mann hat keine Ahnung, was er tun soll. Der denkt, Wadenwickel wären was zu essen, so wie Krautwickel.«
Ein Krankenhaus ist zwar kein Gefängnis, aber sich einfach so aus dem Staub zu machen ist nicht drin. Schon versicherungstechnisch wäre es sowohl für mich als auch für meine Patientin der reine Selbstmord, würde ihr auf dem Heimweg irgendetwas zustoßen. Aber ich bin ja kein Unmensch. Ich wollte außerdem nicht, dass sie die arme Nachtschwester mit ihrer Panik zur Weißglut trieb. Was würden also meine Kollegen tun? Was die Oberärztin? Und was wäre wohl das Beste für meine Patientin?
»Sie müssen nüchtern bleiben, verstehen Sie? Und Sie müssen vor Mitternacht wieder im Haus sein.«
»Heißt das, ich darf gehen?«
Ihre Augen leuchteten wie die eines Halloween-Kürbis.
»Bis Mitternacht«, sagte ich und nickte ihr zu.
»In Ordnung«, entgegnete sie euphorisch. »Danke!«
Doch wer ließ sich zur verabredeten Zeit nicht blicken? Frau Friedrich. Ich hätte heulen könne aus Angst und aus Wut. Das hatte ich nun davon, dass ich mich auf ihre Seite geschlagen hatte. Dass ich die Vorschriften umgangen und ihren nächtlichen Ausflug gedeckt hatte. Nichts als Scherereien! Da half es auch nicht, dass sie im Morgengrauen mit ein paar Zimtschnecken wieder auf der Matte stand.
»Sein Fieber ist runter!« Strahlend hielt sie eine Papiertüte hoch.
Die Schwestern waren begeistert, aber ich starrte sie entsetzt an.
»Hatten Sie etwa auch eine davon?«
»Nein, nein. Keine Sorge. Ich bin stocknüchtern. Abgesehen von Gutenachtgeschichten und Einschlafliedern ist nichts über meine Lippen gekommen.«
Erst in diesem Moment konnte ich aufatmen. Als sie dann im Krankenhausnachthemd, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, auf den Gang geschoben wurde, war Frau Friedrich so entspannt, als hätte sie gerade einen Joint geraucht. Die Nacht bei ihrem Sohn hatte besser gewirkt als jedes Beruhigungsmittel. Und was ich am Vortag noch für völlig unmöglich gehalten hatte, geschah: auf dem Weg in den OP lächelte sie.
Natürlich läuft nicht immer alles so glimpflich ab. Mal sind die medizinischen Umstände katastrophal, mal fliegt einem die Arzt-Patientin-Beziehung um die Ohren. Als Frauenärztin hat man so manches waghalsige Manöver zu absolvieren. Man soll den Menschen helfen, im besten Falle Leben retten. Man soll sanfte Geburten ermöglichen und ohne rot zu werden über ausgefallene Sexpraktiken reden können. Man soll ein gutes Verhältnis zu seinen Vorgesetzten und Kollegen pflegen, sich aber nicht ständig mit ihnen im Geräteraum vergnügen. Das ist wirklich kein leichter Job. Zudem ist man umgeben von Krankheit und Tod. Es gab Tage, da mochte ich alles hinschmeißen, einfach aufgeben. Momente, in denen mich nur das dankbare Lächeln einer jungen Mutter auf ihrem zuvor noch schmerzverzerrten Gesicht vor der Verzweiflung bewahrte und mich an den Sinn meiner Arbeit erinnerte.
»Was Piratinnen und Ärztinnen gemeinsam haben? – Ein großes Messer und eine Menge Mut.«
Diese Widmung schrieb meine Schwester in ein Buch, das sie mir zur Promotion schenkte. Ein Buch mit dem Titel »Piratinnen«, versteht sich. Es steht in meinem Regal direkt neben den Anatomieatlanten und den Lehrbüchern für Frauenheilkunde. Denn kein Fachartikel hat mich damals mehr motivieren können als diese beiden Sätze.