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AUF MESSERS SCHNEIDE

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Ich war also reichlich ernüchtert, als ich nach meiner ersten Famulatur feststellte, dass die ersten Semester nichts als graue Theorie lieferten, die im klinischen Alltag eines Krankenhauses nicht von Bedeutung zu sein schienen. Nur widerwillig kehrte ich von den Klinikfluren in die Hörsäle zurück. Es war mir egal, dass ich erst physikalische Prinzipien verstehen musste, um die Stabilität von Prothesen oder die Wirkungen einer Augenoperation einschätzen zu können. Auch fand ich es ermüdend, biochemische Abläufe zu pauken, da mir der Zusammenhang mit den Körperfunktionen noch fehlte. Ich war leicht zu motivieren, aber schnell zu ermüden, wenn etwas nicht meinen Vorstellungen entsprach. Aber aufgeben wollte ich nicht. So schnell jedenfalls nicht. Ich hörte mich um und fand heraus, dass das Medizinstudium in Frankreich völlig anders aufgebaut war. Dass man dort gleich im zweiten Jahr studienbegleitende Praktika absolvierte. Bei uns war das erst nach Ende des Studiums im sogenannten »praktischen Jahr« vorgesehen. Natürlich konnte diese Erkenntnis nur ein Wink des Schicksals sein, der bedeutete: Ich musste nach Frankreich.

Wie gut, dass ich an der Schule Französisch im Leistungskurs hatte, dachte ich und ließ mich nicht durch eine Sprachprüfung abschrecken, die über die Zulassung zum Auslandsstipendium entschied. Natürlich wollte ich nach Paris. In die Stadt der Liebe und der Kultur, die Stadt von Edith Piaf und Colette. Drunter machte ich es nicht, das kam gar nicht in Frage. Weil das Stipendium aber nur für Romanisten und andere Geisteswissenschaftler vorgesehen war und die Organisatoren keine Erfahrung im Umgang mit medizinischen Fakultäten hatten, musste ich mich um alles selbst kümmern. Ich setzte meinen Kopf durch, beantragte die Immatrikulation an der Sorbonne und reiste mit allerlei deutschen Bescheinigungen nach Paris. Ob mir im Gegenzug die Scheine, die ich in Frankreich zu erwerben gedachte, auch in Deutschland anerkannt werden würden, war mir ziemlich egal. Ich ging wegen der Praktika dorthin. Ich wollte fürs Leben lernen, nicht für die Uni. Was mir auch tatsächlich gelang.

Zu meiner großen Enttäuschung lag die medizinische Fakultät allerdings nicht, wie ich angenommen hatte, in den altehrwürdigen Gemäuern der Sorbonne, im Zentrum von Paris. Ich musste jeden Tag 40 Minuten in das Universitätskrankenhaus Henri Mondor nach Creteil fahren. Meine Tage verbrachte ich also hauptsächlich in der Metro und im Krankenhaus. Sogar einige der Wochenenden. Denn obgleich ich den Montmartre und das Marais bis heute mit einem Hochgefühl durchstreife, mich stundenlang in die Kisten der Bouquinistes an der Seine vertiefen oder auf der Pont Marie den Hintern der Notre-Dame betrachten kann, kannte ich meine Prioritäten. Ich wollte nicht nur die Stadt, ich wollte auch medizinisch etwas erleben.

Eines meiner Praktikumsfächer war die Geburtshilfe, und gleich am ersten Tag kam ich in die Schwangerenambulanz. Den Anblick schwangerer Bäuche fand ich allerdings zunächst ziemlich irritierend. Doch ich gewöhnte mich daran. Was mir anfangs unförmig und nilpferdartig erschien, lernte ich zu bewundern. Ich konnte schon bald erkennen, ob der Bauch noch hoch stehend oder schon gesenkt war. Ob er wie eine Kugel vor sich her oder wie um die Hüften geschlungen getragen wurde. Mit den Händen konnte ich unterscheiden, ob der Po des Kindes oben lag oder unten und ob sein Kopf schon in den Beckenring der Mutter eingetreten war. Ich entwickelte also eine sehr innige Beziehung zu den schwangeren Bäuchen meiner Patientinnen. Was natürlich auch der Tatsache geschuldet war, dass sich in diesen Bäuchen kleine, lebendige Wesen befanden, deren Herzschlag ich abhören und deren Bewegungen ich ertasten konnte.

An den Wochenenden war die Ambulanz geschlossen, doch die Studenten waren weiterhin fest eingeplant. In den Nachtdiensten am Samstag, wenn auch in französischen Unikliniken die Personaldecke empfindlich dünn ist, waren wir nicht mehr nur Laufburschen oder Randfiguren. Wir mussten ran an den OP-Tisch und mit anpacken. Zum ersten Mal durfte ich hier einen der großen Edelstahlhaken halten, mit denen das Operationsfeld übersichtlich und einsehbar wird. Diese Verantwortung!

Während ich krampfhaft an dem Edelstahlgriff zog, malte ich mir aus, wie meine Muskelkraft in den nächsten Minuten erlahmen würde und durch meine Schuld eine geblähte, glitschige Darmschlinge ausgerechnet in dem Augenblick in das Sichtfeld des Operateurs geriete, in dem eine Arterie platzte. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie die anderen Darmschlingen sich dazugesellten, sich wie ein vielarmiger Krake um die Instrumente des Chirurgen schloss und ihm damit nicht nur jede Sicht, sondern auch die Möglichkeit genommen war, die Blutung zu stillen. Die Frau würde verbluten, und meine dürren Arme wären daran schuld. Also hielt ich die Haken so verkrampft, dass meine Muskeln bereist nach fünf Minuten zu zittern begannen.

»Doucement, doucement«, riet der Oberarzt beruhigend und tätschelte mir den Unterarm. Er war das Fleisch gewordene Klischee eines Franzosen: Sein Haar war dunkel und dick, und er trug es so schief gescheitelt, dass es aussah, als hätte er immerzu eine Baskenmütze auf. Er rauchte wie ein Schlot Gitanes ohne Filter. Seine Fingerspitzen waren vom Nikotin gelb verfärbt, ein Anblick, der sich auch nach einer ausgiebigen chirurgischen Händedesinfektion niemals änderte. Aber er war ein guter Lehrer, wenngleich ich sein genuscheltes Französisch nicht immer wortwörtlich verstand. Ich sah bei ihm meine erste Gebärmutteroperation und assistierte bei Ausschabungen, bevor beim Studium in Deutschland die Frauenheilkunde auch nur theoretisch auf dem Lehrplan stand.

Und eines Nachts war es dann soweit.

Ich schlief in dem durchgelegenen, oberen Stockbett des studentischen Bereitschaftsraumes, als es laut gegen die Tür pochte. Ich fuhr auf und musste mich erst mal orientieren. Eine herrische Stimme rief: »Allez! Césarienne!«

Was nichts anderes bedeutete, als dass ein Kaiserschnitt anstand.

Ich sprang auf – ich hatte in Bereitschaftskleidung gedöst – und rannte den menschenleeren Flur hinunter.

Ein Krankenhaus in der Nacht kann wirklich furchterregend sein. Die endlosen Gänge, das milchige Licht, die vielen dunklen Ecken und immer wieder unförmige Schatten von irgendwelchen abgestellten Geräten, Nachttischen, Betten. Kommt einem dort ein einsamer Mensch entgegen, denkt man am besten gar nicht weiter darüber nach, ob das nun wirklich ein Kollege oder ein Pfleger ist und nicht vielleicht ein pathologischer Serienkiller, der sich ins Krankenhaus eingeschlichen und verkleidet hat.

Der OP lag in einem anderen Stockwerk, ich musste durchs Treppenhaus. Es war zugig und nicht beleuchtet. Ich beeilte mich und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Atemlos erreichte ich die OP-Schleuse, diesen Ort der Transformation. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus, schlüpfte in die OP-Kleidung und ließ die normale Zeitrechnung in Form meiner Armbanduhr hinter mir. Dann trat ich ein in die helle, wirbelnde Geschäftigkeit. Als ich an den OP-Tisch kam, lag die Schwangere schon unter der grünen Abdeckung. Nur ihr Bauch wölbte sich hoffnungsfroh, prall und dünnhäutig empor.

Der Oberarzt hob das Skalpell. Ich hielt den Atem an. Er schnitt in die zarte Haut knapp oberhalb des Schambeins. Blutstropfen quollen hervor. Dann ging alles ganz schnell. Mit geübten Schnitten verwandelte er die schützende Halbkugel des Bauches in eine offene Wunde. Die Gebärmutter, die nun aussah wie eine riesige Geschwulst, eröffnete er mit einem gezielten Stich des Messers. Ich zuckte zusammen. Was, wenn er das Kind verletzte?

Ich dachte urplötzlich an das tote Baby in Afrika. Wäre ihm mit einem rechtzeitig durchgeführten Kaiserschnitt zu helfen gewesen? Und dieses Kind hier, nur durch eine dünne Muskelschicht von meinen Händen getrennt, in welcher Gefahr schwebte es? Würden wir noch rechtzeitig kommen?

Der Oberarzt hatte den Einschnitt vergrößert und nahm meine Hand. Er steckte sie in den offenen Bauch der Frau und sagte: »Jetzt bist du dran. Hol das Baby raus.«

Ich fühlte den harten Schädel unter meinen Fingerspitzen und fragte mich, wie um Himmels willen ich diese glitschige Kokosnuss, die so fest im Mutterschoß klemmte wie eine Kanonenkugel im Rohr, nur herausbekommen sollte.

»Mach schon, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!«

Mein Puls dröhnte in den Schläfen. Natürlich. Ich musste mich beeilen. Ich schob die Fingerspitzen wie einen Spatel zwischen das blutige Schambein der Frau und den Kindskopf. Der Oberarzt drückte von oben auf den mütterlichen Bauch und schob mir das Kind entgegen. Es kam mir nicht vor wie ein lebendes Wesen, nicht wie ein süßes kleines Baby. Es war schlüpfrig und dunkelrot und sein verbeulter Schädel erinnerte mich an E.T. Es hatte dieselben runden Glubschäuglein, hielt sie aber fest geschlossen. Es sollte sie öffnen, verdammt noch mal. Es durfte nicht sterben. Nicht dieses auch noch, ging es mir durch den Kopf.

Als ich mit unsicheren Händen unter das zarte Kinn fasste und dann zog, wurde das Kind länger und immer länger. Erst kamen die Arme, der Bauch, dann die Beine. Alles dran. Jetzt war es zu erkennen. Es war tatsächlich ein Kind, ein wirkliches, richtiges Kind. Ich hielt es wie einen Siegerpokal in die Höhe, als sein erster Schrei erklang. In diesem Moment wurde mein Gehirn von Glückshormonen geradezu überschwemmt. Ich hatte in einer Mischung aus Stolz und Gerührtheit den Eindruck, einige Millimeter über dem Boden zu schweben. Dieses Gefühl werde ich niemals vergessen, auch wenn es später vor allem die dramatischen Situationen waren, die sich mir ins Gedächtnis gebrannt haben.

»Gut gemacht!«, sagte der Oberarzt, und der Kinderarzt nahm mir das Baby aus der Hand. Dann begannen wir damit, den Bauch der Frau wieder zusammenzuflicken. Ich war wie betäubt, meine Ohren brannten, und ich musste unentwegt blinzeln, um das OP-Gebiet nicht mit meinen Tränen unsteril zu machen.

Selbstständig einen Kaiserschnitt durchzuführen war die erste Operation, die ich später in meiner Berufslaufbahn, zurück in Deutschland, gelernt habe. Denn es ist das wichtigste Vorgehen, um eine kindliche Notsituation zügig zu beenden und das Baby gesund und schnell zu entbinden. Natürlich werden hauptsächlich geplante Kaiserschnitte aufgrund irgendwelcher anderer Diagnosen durchgeführt: wegen vernarbter Gebärmutter, ungünstiger Lage oder weil die werdende Mutter Angst oder einen dringenden Termin hat. Wir Jungärzte wurden aber aus nur einem einzigen Grund auf den Kaiserschnitt getrimmt: um Leben zu retten. Denn in dem kleinen Krankenhaus, in dem ich nach abgeschlossenem Studium meine klinische Ausbildung begann, war nicht immer rund um die Uhr ein Oberarzt im Haus. Bei schwierigen Fällen wurde er angerufen und kam innerhalb von zwanzig Minuten dazu. Nur manchmal reichte das eben nicht. Manchmal kam es auf Minuten an.

Mit einem Notkaiserschnitt kann man das Baby, wenn alles glatt geht, innerhalb von drei bis fünf Minuten herausholen. Gerade noch rechtzeitig, um einen schweren Sauerstoffmangel zu vermeiden. Früher wurden die Frauen, bei denen die Geburt nicht voranging, von einigen starken Männern mit dem Laken in die Luft geschleudert. Was auch nicht mehr brachte, als hätte man sie auf den Kopf gestellt. Heutzutage nimmt man einfach ein scharfes Messer und kann das Kleine wie eine saftige Orange mit einigen gezielten Schnitten aus dem Mutterbauch herausschälen. Dafür muss aber jeder Schnitt am richtigen Ort sitzen. Man muss genau wissen, was man tut. Und darauf wurden wir gedrillt.

Zuerst mussten wir bei Dutzenden von Kaiserschnitten assistieren, bis wir den Ablauf auswendig wussten. Dann führten wir unter Anleitung die Routinekaiserschnitte selbst aus. Immer öfter, immer schneller. Dabei muss man in all der Eile auch auf die Nachbarorgane achten, wie uns unsere Ausbilder immer wieder einbläuten. Bloß nicht den Darm, die Gebärmutterarterien oder die Harnblase verletzen!

Dr. Dresen, mein damaliger Oberarzt, war ein Seebär von Mann. Er trug einen Vollbart, der gerade noch durch den Mundschutz verdeckt wurde, und hatte kleine, geschickte Wurstfinger. Jedem neuen Assistenten erzählte er immer wieder die gleiche Geschichte: Wie er nachts von einem ganz jungen Arzt zu einem Notkaiserschnitt gerufen wurde. Als er ankam, war das Kind schon draußen, aber der Arzt stand vor dem offenen Bauch und sah ihn hilflos an: Er hatte keine Ahnung, wie er das angestellt hatte. Ohne Rücksicht auf die Anatomie hatte er versehentlich die Harnblase aufgeschnitten. Als dort kein Baby zu finden war, schnitt er einfach weiter, bis er die Gebärmutter eröffnen und das Kind entwickeln konnte. Da die Blase direkt an der Gebärmutter klebt, ist das ein häufiger Fehler. Statt ihn zu tadeln, lobte der Oberarzt ihn am nächsten Morgen vor versammelter Mannschaft.

»Du darfst nicht zögern. Im Notfall scheiß auf die Blase und hol das Kind raus. Ich flick das schon wieder zusammen.« Das war die wichtigste Lektion, die er jedem Neuen zu geben hatte.

Kein angehender Arzt ist wie der andere, was seine operative Begabung angeht. Auch hier gibt es die Geschickten und die Umständlichen. Diejenigen, unter deren Händen einfach alles wie am Schnürchen klappt, und die anderen, bei denen es stärker blutet, die Fäden ausreißen oder die Knoten nicht halten. Aber sie alle müssen es lernen. Es ist der bewundernswerten Geduld und Gelassenheit der Oberärzte zu verdanken, dass es am Ende doch so wenig wirklich schlimme Zwischenfälle in den Operationssälen gibt. Sie wissen ziemlich gut einzuschätzen, wann der- oder diejenige so weit ist, selbstständig zu operieren. Doch manchmal erlebt man eben doch böse Überraschungen.

Ich war Ärztin im Praktikum, und Katja, eine Kollegin von mir, die seit zwei Jahren Assistenzärztin war, hatte Nachtdienst. Ich schätzte sie eigentlich nicht so sehr. Sie redete zu schnell, zu viel und zu laut und kaschierte damit ihre generelle Unsicherheit. Was andere Kollegen zu viel an Forschheit hatten, sie hatte davon zu wenig. Damit das nicht so offensichtlich wurde, diskutierte sie die Dinge, anstatt zügig zu einer Entscheidung zu kommen. Was mich kribbelig machte, denn ich bin ein Mensch der Tat. Häufig kam es dann dazu, dass die Lage sich zuspitzte und Katja die Entscheidung aus der Hand nahm.

Sie hatte mich von sich aus gefragt, ob ich an diesem Tag mit ihr zusammen Nachtdienst schieben wollte. Das kam nicht oft vor, denn den älteren Kollegen war nicht sonderlich daran gelegen, ständig eine Anfängerin im Schlepptau zu haben. Aber Katja war nicht dumm. Sie war berechnend. Sie delegierte gern so kleine Dinge wie Blutabnahmen und Spritzensetzen an mich, um sich den wirklich wichtigen Dingen zu widmen. Sie schickte mich Laborwerte holen, wenn die Chefvisite anstand, oder Patientinnenbefragungen durchführen, wenn sie in den OP wollte. Ich wusste also, worauf ich mich einließ. Aber ich wollte unbedingt in den Nachtdienst. Denn nachts war im Kreißsaal am meisten los, und ich versauerte tagsüber nur mit Papierkram und Botengängen auf Station.

Als Katja und ich allein waren, lag eine einzige Frau in den Wehen. Wie so oft im Kreißsaal war nun einzig und allein Geduld gefragt und der lange Atem ruhigen Wartens. Katja verfügte im Gegensatz zu mir im Überfluss über diese Tugend und schmückte unsere gemeinsame Wartezeit mit langatmigen Geschichten über ihre Familie aus. Sie jammerte über ihre Schwiegermutter und jammerte über ihr Au-pair-Mädchen. Sie jammerte, dass sie zu wenig Zeit für ihre Kinder hatte und dass sie ihren Mann kaum sah. Sie jammerte mir die Ohren voll, während die Gebärende im Nachbarzimmer grauenvoll stöhnte. Ich konnte es bald nicht mehr hören.

»Glaubst du, da drüben ist alles in Ordnung?«, erkundigte ich mich. Nicht nur, um ihren Redestrom zu unterbrechen, sondern auch, weil mich das Geschrei der Frau unruhig werden ließ.

»Ach, das haben die Hebammen schon im Griff. Die rufen uns dann, wenn es so weit ist.« Sie griff nach einem ihrer mitgebrachten Muffins. »Weißt du, letzte Woche gab es geniale Rezepte für Blaubeermuffins in der Brigitte.«

»Ach ja?«, sagte ich, stand auf und trat ins Entbindungszimmer, um zu sehen, wie es voranging. Die Frau hatte Schmerzen und heftige Wehen.

»Es tut sich nichts mehr,« sagte die Hebamme, eine Hand noch in der Frau.

»Soll ich Katja holen?«

Die Hebamme nickte. Katja kam. Sie hatte einen irgendwie gehetzten Ausdruck im Gesicht, als sie die Frau untersucht hatte.

»Was ist, sollen wir einen Kaiserschnitt machen?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht, vielleicht ist es noch zu früh.«

»Wie lange können wir denn warten?«

»Solange das Kind mitspielt.« Sie lächelte plötzlich, als sähe sie es schon Bauklötze stapeln.

Wir ließen die Frau in der Obhut der kundigen Hebamme und gingen also zurück zu den Blaubeermuffins, wo ich mir zähneknirschend die Geschichte über den Rollersturz ihres Sohnes anhörte.

Der Warnruf kam, als die kindlichen Herztöne auf dem Monitor in unserem Arztzimmer steil abfielen. Ohne die Konsequenzen abzuwarten, die der Sturz für Katjas Sohnemann haben würde, sprang ich auf und rannte ins Entbindungszimmer. Der Herztonschreiber gab nur noch ein graues Rauschen von sich, und die Frau begann, heftig zu bluten.

»Notsectio!«, schrie Katja, die schwer atmend hinter mir stand und die Situation mit einem Blick erfasste. Alle rannten los, den Kaiserschnitt vorzubereiten. Einer schob die Frau zum OP, ein anderer betätigte den Sammelnotruf für OP-Personal und Anästhesisten. Katja und ich wickelten uns in die Kittel und zogen zwei Paar Handschuhe übereinander an. Zum Waschen war keine Zeit. Sobald die Schwangere auf dem OP-Tisch lag, stürmte das OP-Team herein und warf die Tücher so schwungvoll über sie wie Illusionisten.

Katja kippte die braune Desinfektionslösung einfach über den Bauch, hob das Skalpell und sah hinüber zum Narkosearzt. Er würde das Zeichen geben. Wir standen in den Startlöchern, ich mit erhobenem Tupfer. Jetzt war es wichtiger denn je, dass Katja einen guten Überblick hatte. Hier ging es um Sekunden, das war allen klar.

»Und Schnitt!«, kommandierte der Anästhesist, und los ging’s. Zack und zack und zack. Katja war voll in Fahrt. Ich tupfte, so schnell ich konnte, ihrem fliegenden Skalpell hinterher.

»Wo ist die Blase? Wo ist, verdammt noch mal, die Blase?«, hörte ich sie murmeln, als sie die Bauchmuskeln durchtrennt hatte. Man konnte nichts sehen. Alles war voller Blut. Ihr Skalpell hing zögernd in der Luft.

»Scheiß auf die Blase!«, erinnerte ich sie. Katja grunzte nur.

»Saugen!«, rief sie dann, und ich schwenkte das schlürfende Rohr, so präzise ich konnte. Allmählich wurde klar, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.

»Verdammt. Ein Gebärmutterriss!«, keuchte Katja. Sie warf das Skalpell auf den Instrumententisch und tauchte mit der Hand in den Bauch hinein.

»Ach du Scheiße!«

Einen unwirklich langen Moment hielt sie erstarrt inne. Keiner sagte etwas. Es war, als bliebe die Zeit stehen. Als sei jede unserer Bewegungen vor Angst eingefroren.

»Was ist los?«, flüsterte ich.

»Das Kind ist weg!«

»Das Kind ist weg?«

»Ich krieg es nicht raus. Es ist weggeflutscht!«

Weggeflutscht? Wie konnte ein Baby ihr im mütterlichen Bauch einfach abhandenkommen? Wie dumm konnte man sich eigentlich anstellen? Eine unsägliche Wut bäumte sich in mir auf. Etwas in mir weigerte sich, einfach nur danebenzustehen, während Katja hilflos schluchzend in diesem Bauch herumrührte und das Kind nicht zu packen bekam.

Es würde in seinem eigenen Blut ertrinken.

War das zu fassen? Ich war bereits drauf und dran, selber mein Glück zu versuchen und unerlaubterweise nach dem Baby zu fischen, als die Schritte von Oberarzt Dresen erklangen. Er kam in Lackschuhen direkt in den OP, wurde ohne Mundschutz einfach durchgewinkt, aus seinem Smokingjackett geschält, in einen Kittel gewickelt und mit Handschuhen versorgt und griff im nächsten Moment direkt in den Bauchraum der Frau. Sein Arm verschwand bis über den Ellenbogen im Blut. Der Stoffkittel sog sich voll bis zur Schulternaht. Sein Smokinghemd war ganz sicher nicht mehr zu retten.

»Ich hab’s!«, rief er aus und zog das schmale, blau angelaufene Kind an einem Fuß heraus. »Es klemmte ganz weit oben, direkt unter der Leber«, erklärte er, als er es der Kinderärztin zur Reanimation übergab. Ich sah dem Kleinen schockiert nach. Würde es überhaupt jemals mit Bauklötzen spielen?

Dr. Dresen blieb noch so lange am Tisch, bis die Übersicht wiederhergestellt, die Blutung gestillt und die Gebärmutter vernäht war. Dann trat er ab und zog sich die blutige Festkleidung aus. Das Vernähen von Bauchfell und Muskulatur dauerte beinahe doppelt so lange wie üblich, so sehr zitterten Katja die Hände. Jetzt tat sie mir wirklich leid. Ich war froh, dass ich nicht für diese Entbindung verantwortlich gewesen war. Noch nicht. Würde ich in solch einer Situation die Nerven behalten? Hätte ich den zielstrebigen Willen, den zupackenden Griff gehabt, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre? Ich war mir plötzlich nicht mehr so sicher. Ich sah, welche Anstrengung sie jeder einzelne Stich kostete. Sah, dass sie nur noch raus aus diesem OP, raus aus dieser Situation wollte, um in Ruhe ihrer Verzweiflung und ihrer Scham freien Lauf lassen zu können. Aber sie hielt sich tapfer, und sie vergaß mich nicht. Die Hautnaht überließ sie mir, bedankte sich bei allen und trat ab. Jetzt musste sie den ganzen Schlamassel noch für den OP-Bericht in Worte fassen. Ich beneidete sie nicht.

Ich ließ mir beim Nähen alle Zeit der Welt. Keine hässliche Bikininarbe sollte die junge Mutter ständig an die Dramatik dieser Entbindung erinnern. Sie hatte viel Blut verloren und nur knapp überlebt. Und auch das Kind würde, wie die Kinderärztin uns mitteilte, seine Geburt überleben. Daher war die Atmosphäre entspannt. Alle Anwesenden waren erleichtert, aber erschöpft, und niemand drängte oder hetzte mich. Es war meine erste Bikininaht. Sie wurde vielleicht nicht meine allerschönste, dafür aber blieb sie unvergessen.

Wenn alle Dämme brechen

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