Читать книгу Wenn alle Dämme brechen - Katharina Rappmund - Страница 7

VOLL VERSAGT

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Als ich mich für das Medizinstudium bewarb, war das nicht wirklich Berufung. Biologie oder Kunstgeschichte hätten mich genauso interessiert. Doch mit einem (wenn auch knappen) Eins-Komma-Abi wurde automatisch erwartet, dass man sich für Jura oder zumindest für Medizin einschrieb.

Da stand ich nun, mit dem Zeugnis in der Hand, und wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Das Leben lag vor mir wie ein großer leerer Tisch, den ich nach eigenen Vorstellungen decken konnte. Ich war mir allerdings nicht im Klaren darüber, was ich als Hauptgang wählen würde. Bisher, so schien es mir, hatte ich lediglich eine Vorspeise genossen. Da mich Jura überhaupt nicht interessierte und ich »irgendwas mit Menschen« machen wollte, schrieb ich mich wegen der hohen Nachfrage sicherheitshalber mal für Medizin ein. Ich war jedoch nicht sicher, ob ich das Studium im Herbst auch wirklich aufnehmen würde. Vor allem hatte ich das Gefühl, nach all der Paukerei erst mal den Kopf freibekommen, meinen Horizont erweitern zu müssen. Daher beschloss ich, in ein exotisches Land zu reisen und zu sehen, was das Leben dort so mit sich brachte.

Außerdem drängte es mich, ehrlich gesagt, nicht wirklich in den Beruf der Ärztin. Als Zwölfjährige hatte ich meinen Vater im Krankenhaus besucht, nachdem er sich beim Grillanzünden mit dem Benzinkanister abgefackelt hatte. Ich war bei seinem Anblick zu Tode erschrocken. Sein Gesicht war mit eitrigen Krusten überzogen. Seine rechte Hand war verbunden. Er konnte kaum sprechen, grinste mich hilflos an und stank nach einer Mischung aus Rauch und seinem süßlichen Schmerz-Sirup. Ich konnte es kaum aushalten, ihn so zu sehen – und zugleich verursachte mir sein Anblick Übelkeit. Als er mich bat, mich auf sein Bett zu setzen, drehte ich mich, ohne ein Wort zu sagen, um und verließ fluchtartig das Krankenzimmer. Auf dem Heimweg schwor ich mir, niemals wieder einen Fuß in ein Krankenhaus zu setzen.

Ich war also nicht wirklich erpicht darauf, mich in das Medizinstudium zu stürzen. Meine Abenteuerlust gewann die Oberhand, ich wollte die nächsten Monate etwas von der Welt entdecken.

Meine Wahl fiel auf Afrika. Es war eine dieser eher spontanen Entscheidungen, die aus dem Bauch heraus kommen und die deshalb so eine unglaubliche Überzeugungskraft besitzen. Ich plante, meine Eltern zu überrumpeln, legte mir schlagkräftige Argumente zurecht, warum sie mein Abenteuer finanziell unterstützen sollten, und suchte Adressen von vertrauenswürdigen Reiseorganisatoren heraus. Ich stellte mich auf einen harten Kampf ein, auf wochenlanges, zähes Ringen. Mit ihrer Unterstützung hatte ich nicht gerechnet.

»Ich hab da noch einen alten Studienfreund«, sagte mein Vater mit pastoraler Stimme. »Der ist Missionar irgendwo in Zentralafrika.«

Und nach kurzem Briefkontakt bekam ich eine Einladung nach Kalemie, einem kleinen Ort an der Westküste des Tanganjikasees. Nicht ohne den praktischen Hinweis, mir ausreichend Tampons für ein paar Monate mitzunehmen.

Also machte ich mich auf die Reise. In Nairobi tauschte ich die riesige Boeing, die ich in Deutschland bestiegen hatte, gegen einen Pistenhopper. Nach Kalemie gab es keinen Linienflug, nur diese kleinen privaten Propellermaschinen. Es war ein ziemlich wackeliger Trip. Wir flogen nicht sehr hoch, und ich konnte die runden Hütten der Massai in der Steppe erkennen, die vor mir lagen wie schmutzige Murmeln im Sand. Als wir den Ostafrikanischen Graben überquerten, bekam ich eine Gänsehaut. Die steile Abbruchkante war nur aus unserer Höhe zu erkennen, und es sah aus, als hätte ein wütender Schöpfer seine Spitzhacke mit Macht durch dieses Land getrieben.

Kurze Zeit später landete ich mit meinen Großpackungen Hygieneartikel im Gepäck auf der buckeligen Sandpiste in Kalemie. Die Luft, die mir entgegenschlug, nachdem ich mich aus meinem klimatisierten Kokon geschält hatte, traf mich wie der Schlag mit einer heißen Bratpfanne. Hinten auf einem verbeulten Pick-up wurde ich zu meiner Gastfamilie gefahren, wo ich ein winziges Zimmer bezog, über dessen schmaler Pritsche ein zusammengeknotetes, staubiges Moskitonetz schaukelte. Vom Fenster aus hatte ich einen Blick auf den Hang gegenüber. Ich sah dort die afrikanischen Kinder hinter einer alten Fahrradfelge herlaufen, sie mit dem Stock antreiben, bis sie ins Trudeln geriet und auf die Seite fiel. Ein Spiel, das sie abwechselnd immer und immer wieder spielten. Einer der Jungen schaffte es über Stock und Stein, den ganzen Hügel hinunter und auf meiner Seite ein Stück wieder hinauf. Als das Rad fiel, sah er kurz auf, musterte mich und winkte mir zu. Ich war überrascht und winkte vorsichtig zurück. Ein glückliches, elfenbeinfarbenes Lächeln erschien auf seinem kleinen Gesicht, so herzlich, als sei ich ein lange erwartetes Familienmitglied, das er persönlich willkommen heißen wollte.

Ich lebte mich schnell bei dem Missionar und seiner Familie ein und versuchte, mich nützlich zu machen.

»Hättest du vielleicht Lust, mir ein wenig zur Hand zu gehen?«, fragte mich ein paar Tage später Inga, eine finnische Krankenschwester, die auch in Kalemie arbeitete. Sie hatte eine sonnengegerbte Haut und weißes Haar, sodass sie aussah wie eine alte Indianerin.

»Klar, gern. Nur«, stotterte ich herum, »ich kann nicht garantieren, dass ich wirklich eine Hilfe bin.«

»Kein Problem. Du bist weiß, gesund und gebildet. Dass du Schuhe an den Füßen trägst, reicht allein schon als Vorbild aus. Wenn du einfach ein paar Hygieneartikel austeilst, hilft mir das sehr. Außerdem«, sie zwinkerte mir mit bernsteinfarbenen Augen zu, »bin ich froh, wenn ich Unterstützung beim Reifenwechsel habe.«

Begeistert begleitete ich sie also bei ihren Besuchen in den umliegenden Dörfern. Ich liebte diese Fahrten über die schlechten Pisten, liebte das hohe Gras, das unseren Landrover streifte, das satte Grün und die kleinen, erdigen Häuser. Sie waren aus diesem roten Lehm gebaut, der so lebendig wirkte, als sei aus ihm tatsächlich der erste Mensch geformt worden. In den Orten roch es nach Kohlefeuer und heißem Palmöl. Wir hielten Vorträge darüber, dass Plastikschuhe gegen Wurmbefall schützen, rieten zum Händewaschen und empfahlen, das Wasser abzukochen. Ich nahm die kleinen Kinder, die mir entgegengehalten wurden, auf den Arm und wog sie mit einer Waage, die wir an dem tiefen Ast eines Mangobaumes befestigt hatten. Die Säuglinge waren nicht unterernährt. So konnte ich sie mit zustimmender Miene zurückgeben und erntete heißen Dank. Denn bei all unseren Verbesserungsvorschlägen waren die Frauen stolz, wenn sie nicht nur Mitleid bekamen, sondern auch Lob.

Der schicksalhafte Vorfall ereignete sich beim Besuch in Kibwe, einer Ansammlung verstaubter Hütten rund um eine kreischende Wasserpumpe. Zunächst hatte ich es ganz entspannt genossen, im Jeep die wenigen Kilometer dorthin zu zuckeln, nach dem Aussteigen umringt zu werden und Hände schüttelnd Gutes zu tun. Horden von Kindern im Alter zwischen vier und zehn Jahren, barfuß, mit roten, grünen oder blauen Fetzen am Leib, rannten herbei. Teilweise balancierten sie ihre jüngeren Geschwister auf keck gekippten Hüften, kaum dass sie selbst laufen konnten. Ein altes Weib mit tief liegenden Augen und einer von Trockenheit grau gewordenen Haut drängelte sich vor. Sie grinste mit zahnlosem Mund, in dem ein einzelner, schief stehender Goldzahn von besseren Zeiten kündete.

Neuigkeiten aus der Stadt, Medikamente gegen ihre Leiden, Anteil haben am Leben einer fernen, fremden Welt, all das hofften sie zu ergattern. Wir verteilten, was wir hatten: Malariatabletten, Plastikschuhe, aufmunterndes Lächeln. Ich lernte, den Schwangeren den Blutdruck zu messen, Inga verband eine alte Verbrennung und säuberte verdreckte Wunden.

Da wurde ich plötzlich in eine abseits gelegene Hütte geführt. Begleitet von aufgeregten Gesten, trat ich ein. Ich musste mich bücken, meine Hände berührten den gestampften Boden, als ich mich leicht befremdet in das Dunkel der Hütte vortastete. Ich sah erst mal gar nichts. Meine Augen entwöhnten sich nur langsam vom grellen Sonnenlicht. Dann hörte ich das Wimmern und Scharren und konnte die Umrisse im Halbdunkel nur erahnen. Dort hockte, in der hintersten Ecke, eine Frau. Abgewandt, gesichtslos. Ein bärtiger Mann in fleckigem T-Shirt hielt mir ein Baby hin. Soweit ich das in meiner Verwirrung beurteilen konnte, schien es ein Neugeborenes zu sein, von ungesunder, violettblauer Farbe. Die Äuglein waren geschlossen, der Gesichtsausdruck entspannt. Als er es zu mir emporhob, fielen die Ärmchen schlaff herab. Die Geburt war vor einer Stunde gewesen, teilte der Mann mir in gebrochenem Französisch mit. Seitdem versuche er, das Kind wiederzubeleben. Er zeigte mir, wie er immer wieder seine dünnen Arme auseinandergebreitet und vor der Brust gekreuzt hatte. Auf und zu, auf und zu. Aber das Baby wollte nicht atmen. Seine Haut war klamm und kalt. Als mir klar wurde, dass ich eine Leiche berührte, schnappte ich nach Luft. Es war die erste Leiche, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam, und es war gleichzeitig so überraschend wie erschreckend, dass es sich dabei um ein Baby handelte.

Ich war hierhergekommen mit der Zuversicht und Ignoranz meiner Jugend und der Überzeugung, dass allen Menschen geholfen werden konnte. Das Wimmern belehrte mich eines Besseren. Hier konnte ich niemandem helfen, obgleich ich nichts lieber getan hätte.

Ich wich zurück und hob die Hände. Ich traute mich nicht mehr, das tote Kind zu berühren.

Du bist doch eine Weiße, sagten die Augen des Mannes.

Die Frau im Hintergrund hatte aufgehört zu weinen, als hielte sie den Atem an, als warte sie auf das Wunder, den Schrei ihres Kindes.

Aber ich kann keine Wunder vollbringen, ging es mir panisch durch den Kopf, und dafür schämte ich mich. Ich schämte mich für das falsche Versprechen, das meine Hautfarbe zu geben schien und das ich nicht einlösen konnte.

Wie komme ich hier bloß wieder raus?, dachte ich, machte eine bedauernde Handbewegung ins Dunkel der Hütte hinein, drehte mich um und schlüpfte zurück in den Tag. Die Sonne gab mir heftig eins auf den Schädel. Ich blinzelte verstört in der Helligkeit.

Inga sprach gerade mit dem Dorfältesten.

Ich machte ihr ein Zeichen, sie kam, ging in die Hütte, und blieb sehr lange dort. Ich für meinen Teil flüchtete in den Jeep. Ich konnte nicht helfen und noch weniger trösten. Ich hatte versagt, auf ganzer Linie, und wollte nur noch weg, weit weg.

Auf dem Rückweg sprachen wir kaum. Inga verschonte mich zum Glück mit guten Ratschlägen, die meine Scham nur noch vergrößert hätten, und spekulierte auch nicht über die genaueren Ursachen der gerade erlebten Tragödie. Stumm und irgendwie andächtig ruckelten und zuckelten wir von einem Schlagloch ins nächste. Das graubraune Wasser einer Schlammpfütze spritze an die vom Staub fast blind gewordenen Scheiben und machte den Durchblick völlig unmöglich. So trüb wie die Scheibe zuckten auch meine Gedanken hin und her, im Takt mit dem schaukelnden Gefährt. Und während die Hitze des Tages abkühlte und die Dämmerung rasch herauf zog, wusste ich plötzlich, dass ich meinen Studienplatz antreten würde. Ich würde Medizin studieren und zurückkehren, um den Menschen zu helfen. Und um anderen Kindern womöglich das Leben zu retten.

Ich bekam tatsächlich einen Studienplatz im Herbst. Nicht gerade an meiner Wunsch-Universität, aber das störte mich nicht weiter. Nichts würde mich von meinem Plan abbringen. Ich musste mich nicht mehr fragen, ob Biologie nicht vielleicht doch interessanter oder Kunstgeschichte lockerer sei. Medizin war sinnvoll. Und das war es, worauf es ankam.

Wenn alle Dämme brechen

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