Читать книгу Erkläre mir das Leben - Katie Volckx - Страница 4
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ОглавлениеInzwischen fand ich mich in der Schule nicht nur gut zurecht, sondern hatte mich dort (nicht im Kaff) gut eingelebt. Zweites war auch nicht schwierig. Von der Sohle bis zum Scheitel waren alle miteinander Spießbürger. Lehrer, Schüler, ja sogar der Hausmeister trieften vor höfliches, gesittetes Benehmen. Höflichkeit wurde hier nämlich großgeschrieben. Meistens jedenfalls. Da hatte ich grundsätzlich nichts gegen. Aber der Großteil wirkte eher wie abgerichtete Äffchen und überhaupt nicht echt. Gemessen an meiner alten Schule in Hamburg war diese Pipifax. Der Unterschied war wirklich enorm.
Meine Freizeit verbrachte ich hauptsächlich mit Niko und den anderen Jungs am Strand der Nordsee. Dort faulenzten wir, ließen uns von der Sonne allseitig rösten, suchten Abkühlung im Wasser und flirteten mit den hübschen, knackigen Mädchen. Niko und ich taten Letztes nicht so sehr wie Yun, Steve (wenn er sich dann einmal von seinem Handy loseisen konnte) und Dominic. Niko war in festen Händen. Ihr Name war Jule, und sie hätte auf alle Fälle etwas dagegen. Ihre Eifersucht auf die gut gebauten Mädchen, die oft bewusst mit ihren Reizen nicht geizten und auch spielten, war der Grund, aus dem er in der Sommerzeit stets ohne sie an den Strand ging. Und was mich anging, so hatte ich ganz einfach kein Interesse an oberflächliche Bekanntschaften, erst recht dann nicht, wenn diese sich entblößt vor mir räkelten, schon bevor ich sie überhaupt kennengelernt hatte. Den ein oder anderen verstohlenen Blick riskierte ich natürlich schon einmal. Aber viel mehr stimulierte mich der anhaltende Duft des Meeres in der Nase, der warme Sand unter meinen nackten Füßen und der Blick auf die zahlreichen bunten Strandkörbe. An dieser Stelle geriet mein Heimweh für eine Weile in Vergessenheit, denn an dieser Stelle kam ich mir vor wie im Urlaub. Es war noch nicht hundertprozentig zu mir durchgedrungen, dass ich diesen Ort nun mein Zuhause nennen konnte.
Außerdem gab es im Zentrum ein nettes Café. Es war ein modernes Cafè, beeindruckte besonders durch seinen Lounge-Charakter. Vermutlich wollten die Betreiber damit gezielt uns, die jüngere Generation des Dorfes, ansprechen. Es gab sogar ein Hinterzimmer, in dem Billardtische standen und die Musikcharts rauf und runter gespielt wurden, was die Teenager auch zu Abenden und Wochenenden herlocken sollte. Mich persönlich führte es jedoch nur nach der Schule regelmäßig dorthin, nicht zuletzt, weil es auf meinem Weg nach Hause lag. Und ich musste gestehen, dass ich mich dort auch sehr wohlfühlte, speziell wegen des Großstadtflairs. Es war nur eine Idee von einem echten Großstadtcafè entfernt.
Nachdem ich nahezu die gesamten Sommerferien mit Renovieren, Putzen und Einrichten unseres Hauses verbracht hatte und mir keinerlei Zeit für derartige Aktivitäten geblieben war, ich nicht einmal die Gegend hatte genauer erkunden können, war mir das nun neidlos gegönnt, fand ich.
Nebenbei bemerkt war ich Winter Sommer seit dem Zwischenfall nicht mehr begegnet. Genau genommen war sie wie vom Erdboden verschluckt. Seit dem zweiten Schultag schon. Zwar war sie mir egal, könnte man sagen, aber sie glänzte und fiel schon auf. Eben nicht nur, wenn sie anwesend war, auch wenn sie es nicht war.
Heute nach Schulschluss war ich mit einer Raumpflegerin namens Ann auf dem Jungenklo ins Gespräch gekommen. Sie war ganz okay. Eigentlich sogar ein Pfundsweib, wie mir zunehmend klar wurde. Ich glaube, sie war nicht sehr viel älter als ich. Sieben Jahre vielleicht. Sie klärte mich ein wenig über die allgemeinen Verhältnisse auf.
»Niemand ist hier sonderlich furchteinflößend. Keine großen Skandale. Nur vor diesem Harro musst du dich etwas vorsehen. Er ist sehr manipulativ. Droht jeder Nase, die ihm nicht passt, mit seinem Papi. Der ist nämlich Anwalt. Wenn du Harro also nur eine Spur zu nahe trittst, bist du geliefert.« Ann führte mit ihrem Mopp ein paar kampfsportähnliche Bewegungen vor meinem Gesicht aus – etwa wie beim Bo Jutsu –, um auf spöttische Weise einen erbitterten Kampf gegen die Familie Woltering (Harros Familienname) zu illustrieren, und schüttete sich aus vor Lachen.
»Wie sieht dieser Harro aus?« Ich wollte vorbereitet sein.
»So ein langer Lulatsch. Blondes mittellanges Haar in so einem modernen Wuschellook. Recht bubenhaftes Gesicht, aber verboten gut aussehend. Hat ein Faible für College-Jacken. Er muss Hunderte davon besitzen.«
Aus der Ferne hatte ich ihn schon gesehen, umringt von lauter Arschkriechern, die er zu Leibeigenen befördert hatte. Steile Karriere!
»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.«
»Da hast du auch nichts verpasst. – Hast du Winter schon kennengelernt?«
Dieser Name rüttelte mich wie ein elektrischer Schlag. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Person in dieser Verbindung Erwähnung finden könnte. »Jupp«, hatte ich mich jedoch relaxed gestellt, »flüchtig.«
»Kleines süßes Prinzesschen. Nach außen. Traurige, verlorene Seele. Im Innern.« Was war das für eine kryptische Andeutung? War sie etwa so ein Emo, der sich jeden Tag kummervoll nach dem Sinn des Lebens fragte? Andererseits sah sie gar nicht aus wie eine von dieser Sorte. »Auf jeden Fall ist sie die feste Freundin von Harro. Seit gut vier Jahren. Ganz beliebtes Paar.«
»Wie kommt man zu einem solchen Titel?« Mich überraschte diese Konstellation nicht, nur, dass so unausstehlichen Persönlichkeiten so viel Bedeutung beigemessen wurde. Es waren immer die falschen Leute, die Ansehen genossen und am Machthebel saßen. »Ich meine, Harro ist ein arroganter Fatzke und Winter eine Oberzicke. Wer will freiwillig mit solchen Leuten verkehren?«
Ann sah nachdenklich aus. »Bei Harro stimme ich dir zu. Aber nicht bei Winter. Ich hoffe, du lernst sie richtig kennen. Sie ist ein gutes Mädchen. Es ist nur nicht immer sofort für jeden ersichtlich.«
Ich nickte nur. Dann verabschiedete ich mich von Ann und wünschte ihr ein entspanntes Wochenende.
Mama quetschte mich regelmäßig aus. Zumindest versuchte sie es jeden Tag aufs Neue. Direkt nach der Schule zum Mittagessen. Es war die einzige Gelegenheit, in der sie mich zu fassen bekam. Sie verübelte es mir nicht. Was sollte ich daheim auch groß anstellen? Draußen spielte sich das Leben ab. Leise, aber nicht so leise wie daheim.
Doch zu meinem Glück würde Papa heute für ein paar Tage nach Hause kommen. Das wirkte sich natürlich prompt positiv auf Mamas Laune aus. Darum war sie nun auch nicht so penetrant und löcherte mich mit ihren Fragen nur halb so lang wie normalerweise.
»Du weißt, ich habe keine Geheimnisse vor dir, aber wenn es nichts Aufregendes zu erzählen gibt, will ich dich nicht mit Belanglosigkeiten zusülzen.« Zugegeben, alles tischte ich ihr trotzdem nicht auf. Ein bisschen Privatsphäre behielt ich mir vor, erst recht dann, wenn ich schon im Voraus wusste, dass etwas sie verstören oder ihr Unbehagen bereiten könnte.
Mama kniff die Augen fest zusammen. Sie schwankte leicht. Es war offensichtlich, dass Schwindel sie befallen hatte. Kurz legte sie das Besteck aus den Händen, um die Innenflächen auf die Tischplatte zu pressen. Sie gab ihr Halt, wie es schien.
»Hui«, sang sie wie jemand, der Spaß am Karussellfahren hatte. Scheinbar kam es ihr selbst vor wie eine Achterbahnfahrt.
»Alles klar bei dir?«, erkundigte ich mich mit besorgter Stimme nach ihrem Befinden.
»Und ob! Ich habe nur einen Drehwurm.«
»Im Sitzen?«, stellte ich in Frage, dass dieser so unbedenklich war wie sie klang.
»Schatz, es gibt überhaupt keinen Grund zur Sorge. Du weißt doch, mein Blutdruck schießt ab und zu in die Höhe.« Sie öffnete die Augen wieder und schaute mich ätzend an. Mit aller Gewalt wollte sie mich davon überzeugen. »Bei den tropischen Temperaturen ist das nun wirklich nicht ungewöhnlich.«
Tatsächlich verlangte uns der diesjährige Sommer einiges ab. Auffällig war die Trockenheit. Es gab keinen Regen, keine typischen Sommergewitter, rein gar nichts, das für Abkühlung sorgte. Die beständige Hitze laugte uns buchstäblich aus.
Da auch ich in den letzten Wochen schon so einige Schwindelattacken erlitten hatte, gab ich Mamas Begründung mit einem leichten Kopfnicken meinen Segen, schnitt ein mundgerechtes Stück von dem Schnitzel auf meinem Teller ab und schob es mir in den Mund. Es war köstlich, so wie alles, was Mama kochte, ob gesund oder ungesund.
Als ich mit dem Essen fertig war, lehnte ich mich zufrieden in den Stuhl zurück. »Mama, wie kommt es, dass du Hamburg nicht vermisst, hier einfach neu anfangen und leben kannst, als wäre es nie anders gewesen?«
Auch sie hatte gerade den letzten Bissen zu sich genommen und begann zu sprechen, noch bevor sie die zerkaute Masse heruntergeschluckt hatte. »Ich schätze, es liegt daran, dass meine Vorstellung vom Leben eine andere ist als die deine. Ich fühle mich hier pudelwohl. Alles ist, wie ich es mir schon in jungen Jahren erträumt habe. Aber natürlich vermisse ich Hamburg auch ein bisschen. Die Gewohnheit macht es. Immerhin habe ich zweidrittel meines Lebens dort verbracht, du sogar dein gesamtes Leben. Nur fällt es mir deshalb leichter, den Weggang wegzustecken, weil Hamburg auf der Karte eben nicht unendlich weit weg von hier liegt. Ganz im Gegenteil, Hamburg ist in greifbarer Nähe.«
Anscheinend musste ich das erst einmal realisieren. Bisher war mir das nicht möglich. Ich fühlte mich von der Außenwelt komplett abgeschnitten. Wahrscheinlich war das normal. Jeder brauchte seine Zeit, Dinge zu verinnerlichen. Ich befürchtete nur, dass mir das mit diesem Ort niemals gelingen würde.
»Ich verstehe deinen Kummer. Deine besten Freunde können nicht mehr auf diese Weise Teil deines Lebens sein, wie du es gern hättest. Aber gefällt es dir hier nicht wenigstens ein klitzekleines bisschen?«
»Es ist ein Kaff, Mama!« Das sagte doch alles, oder?
Bedrückt senkte sie den Blick. »Nur dieses eine Jahr! Dann kannst du wieder nach Hamburg zurückgehen.«
Einen kurzen Moment ging ich in mich. Ich fragte mich, ob es meinen Eltern gegenüber fair war, nur an mich zu denken. Immerhin hatten sie mich mein ganzes Leben lang unterstützt, und zwar in allem, was mir lieb und teuer war. Dass mir der Umzug so sehr zusetzte, hatten sie sicherlich nicht erwartet und schon gar nicht gewollt. Vielmehr hatten sie geglaubt, mir eine Freude damit zu machen. Daher wäre es vielleicht an der Zeit, auch Mama und Papa ihr Glück zu gönnen und ihnen nicht permanent den Eindruck zu vermitteln, dass sie irgendetwas falsch gemacht hatten. Verflixt noch mal, es war Mamas Traum! Warum konnte ich denn nicht wenigstens im Stillen leiden? Das war ich ihr schuldig.
»Zuallererst ist es wichtig, dass du und Papa glücklich seid. Und es ist ja nicht so, dass ich kreuzunglücklich bin. Im Grunde ist das Leben hier ja eine Art Langzeiturlaub.«
Mama grinste und stimmte dem zu: »Das ist ein gutes Argument, mit dem man sich durchaus über die Zeit trösten kann.«
Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war später als gedacht und ich stieß ein schreckhaftes »Oh!« aus.
»Was ist los?«, fragte sie wie vom Donner gerührt.
Ich raffte mich hoch. »Ich muss gehen. Ich treffe mich nämlich mit Niko und Jule.«
Wir planten einen Kinobesuch. Zuerst hatte ich mich geweigert, die beiden zu begleiten, denn es lag mir fern, ein Pärchen bei ihrem romantischen Date zu stören, geschweige denn ein hübsches fünftes Rad am Wagen abzugeben. Aber beide schworen tausend Eide, dass dies kein romantisches Date sei und es auch keinen romantischen Film geben würde. Irgendetwas Amüsantes stand auf dem Plan.
»Na dann, viel Vergnügen«, rief sie mir völlig verdattert hinterher. Für den Wirbel, den ich mit einem Mal veranstaltete, hatte sie kein Verständnis übrig.
Als ich zwanzig Minuten später zu ihnen stieß, empfing Niko mich mit einem langen Gesicht, während Jule wie auf Knopfdruck umschalten konnte und mich mit heiterer Miene begrüßte. Ich wusste, dass seine miese Laune nicht mir galt, denn schon von Weitem hatte ich die beiden Turteltauben mit unwirschen Gesten debattieren gesehen. Ich hätte einen meiner gängigen Sprüche ablassen können, aber ich hielt lieber den Mund, um seine miese Laune nicht auch noch zu schüren und uns den Abend zu verderben. Zudem ging mich ihr Problem nichts an.