Читать книгу Erkläre mir das Leben - Katie Volckx - Страница 8
6
ОглавлениеTags darauf, praktisch noch vor dem Aufstehen, hatte ich ein befremdendes Telefongespräch mit Papa. Das entsprach keineswegs der Gewohnheit. An und für sich war das heute eine Premiere. Unter normalen Umständen texteten wir miteinander übers Handy. Nicht einmal das taten wir oft. Dafür blieb ihm keine Zeit. Selbst wenn, dann nutzte er sie lieber für Mama oder zum Essen oder für ein Nickerchen auf der unbequemen, stahlharten Couch seines Büros.
»Könntest du einen Blick auf Mama behalten?« Wie ein Cowboy war er direkt mit der Tür ins Haus gefallen, quasi überfallartig mit Gebrüll und hallenden Schüssen in die Luft.
»Nun, sie ist erwachsen und ...«
»Lass die Scherze, Cedric«, schritt er ein, denn er war ziemlich kurz angebunden, »es ist mein blutiger Ernst.«
»Worum geht es?«
»Sie ist ein wenig komisch geworden, findest du nicht?«
»Schon«, sagte ich, aber ich hatte es ja der Fernbeziehung zugeschrieben. Gesellschaft würde ihr sicherlich guttun.
»Du musst unbedingt herausfinden, was mit ihr los ist.«
»Aber warum sprichst du Mama nicht offen darauf an?«
»Das habe ich bereits getan. Sie sagte, es sei alles in bester Ordnung und ich würde mir nur etwas einbilden. Darum behalte du einen Blick auf Mama, ja? Ich bin nicht ausreichend oft zu Hause, um dahinterkommen zu können.«
Es schien wirklich keinen einzigen Grund für ihn zu geben, kürzer zu treten. Nicht einmal, wenn es um seine Ehe ging. Doch wie stellte er sich das vor? Ich könnte ihn nicht vertreten. Ich war nur der Sohn. Für klare Verhältnisse müsste er allein sorgen, sobald ich hinter Mamas Problem kam. Nur das Problem zu kennen, würde ihm auch nicht weiterhelfen.
»Vielleicht sollte dir das zu denken geben, Papa.«
Als wir noch in Hamburg gelebt hatten, war seine Abwesenheit nicht so frappierend auffällig wie hier und heute, denn er hatte zu Hause wenigstens stattgefunden.
»Was soll das wieder heißen? Meinst du, dein Lebensstil finanziert sich von allein?«, geriet er in Rage.
»Meinetwegen musst du dich nicht buckelig schuften.«
»Ach, hör doch auf! Als ob du die Vorteile nicht genießt.«
»Papa, du spinnst. Ich brauche nicht mehr als andere Kinder. Was denkst du eigentlich von mir?« Jetzt geriet ich in Rage.
So war ich nicht erzogen worden. Ich war kein verwöhnter Rotzlöffel, der den Eltern auf der Nase herumtanzte, nichts entbehren musste und es sich auf seinem bevorstehenden Erbe bequem machte. Ich strengte mich an, um mit meinem Abitur und dem darauffolgenden Psychologiestudium etwas Eigenes auf die Beine stellen zu können, hatte nie und nirgends Dinge eingefordert, als hätte ich alle Rechte dieser Welt, und wertete niemanden nach seinen Lebensverhältnissen ab oder auf.
»Du willst mir allen Ernstes glauben machen, dass du das neue Haus gegen die alte Wohnung eintauschen würdest?« Er war ehrlich außer Fassung.
»Siehst du Papa, du kriegst mal wieder gar nichts mit. Denn dann wüsstest du, dass ich das jederzeit wahrhaftig tun würde. Und weißt du auch warum? Weil Hamburg mein Zuhause ist und weil ich meine Freunde vermisse.«
»Das weiß ich doch, immerhin hast du uns damit wochenlang vor dem Umzug in den Ohren gelegen ...«
»Aber du glaubst, ich wäre käuflich. Du glaubst, das Luxushaus oder mein riesiges Zimmer hätten mich derweil umgestimmt und meine Freunde einfach vergessen lassen. Aber das ist nicht passiert, sieh es ein.«
Papa blieb am anderen Ende still.
»Ich werde mit Mama sprechen, versprochen«, sagte ich wieder im ruhigen Ton, »aber für alles andere musst du aktiv werden.« Dann legte ich ohne Tschüss zu sagen auf.
Nun musste ich hier mal raus.
Darum hatte ich spontan beschlossen, das Wochenende bei Tante Effi in Hamburg zu verbringen und mich mit meinen alten Kumpels zu treffen. Seit die Schule begonnen hatte, war ich nicht mehr hier gewesen, war nicht einmal von den Fluchtgefühlen heimgesucht worden, die ich zuvor hatte auf mich zukommen sehen. Aber jetzt war es notwendig.
Mama war von meinem überstürzten Aufbruch nicht sehr begeistert gewesen, hatte Sorge wegen meiner Platzwunde an der Stirn und eine Rinderroulade zu viel im Kühlschrank. Sie war ja der Meinung, ich hätte besser daran getan, mich zu schonen und mich von ihr verwöhnen zu lassen. Schlussendlich war es ja nur für eine Nacht. Und ich fühlte mich topfit. Also hatte ich sie darum gebeten, eine fertige Roulade für mich im Kühlschrank aufzubewahren, bis ich wieder heim kam. Sie befand die Idee für gut, wenn auch nur schweren Herzens.
Seit die erhebliche Distanz von mehr als hundert Kilometern Mama und Papa trennte, klammerte Mama sich an mich und meine Gesellschaft. Das Irritierende daran war ja, dass sie ihre Zeit für sich in aller Regel genoss und für irgendwelche geheimnisvollen Aktivitäten nutzte. Erst seit Neustem schien sie allein nicht klarzukommen. Genau genommen seit Schulbeginn.
Tante Effi und ich behandelten zurzeit genau dieses Thema, während sie auf der Couch an einem rosarot gemuschelten Pulli strickte und ich einen Döner meines Lieblingsimbisses verdrückte.
»Überrascht dich das wirklich so dolle?«, fragte Tante Effi ganz von den Socken. »Zeit ihres Lebens war immer jemand um sie herum. Da machte ihre freie Zeit auch noch Sinn. Doch jetzt hat sie zu viel davon. Dein Vater ist kaum noch zu Hause und du brichst immer mehr aus und gehst deine eigenen Wege.«
»Und nun fühlt sie sich unbrauchbar?«, überlegte ich.
»Klar. Und genau deshalb habe ich ihr immer und immer wieder gepredigt, sie solle sich einen Job suchen, solle dringend etwas für sich tun. Sie ist viel zu abhängig.«
»Meinst du, ich sollte sie mal darauf ansprechen?«
»Versuch dein Glück.« Tante Effi hob kurz den Blick, um zu überprüfen, wie weit ich mit meinem Döner war. »Ich hätte auch gern einen gehabt.«
Ich hörte kurz auf zu kauen. »Allen Ernstes?« Denn es wäre mir neu, dass sie Imbissfraß gern hatte.
»Ohne Quatsch«, schwor sie feierlich.
»Aber ...«
Sie unterbrach mich schon im Ansatz meines Satzes: »Ja, ja, wohl wahr, ich war immer ein Gegner von so was, bin eher für Kartoffeln mit Mischgemüse und einen saftigen Braten und zeige mich wenig aufgeschlossen für alles Moderne.« Sie zog sich selbst ins Lächerliche, indem sie laut gackerte. »Aber neulich hatte ich die Gelegenheit, in den Döner einer Freundin zu beißen, und der war saulecker.«
Nun lachte auch ich. Ich konnte mir Tante Effi auf keinen Fall mit einem Döner vorstellen. Sie war einundsechzig, sehr großmütterlich mit ihrem weißen, schütteren Haar und einer altmodischen, bunt gemusterten Kittelschürze. Auch ihr sehr faltiges Gesicht und ihre knochigen Finger an stark pigmentierten Händen ließen sie viel älter wirken als sie war.
»Bevor ich mich mit den Jungs treffe, besorge ich dir eben auch einen Döner, einverstanden?«
Tante Effi lächelte zufrieden und widmete sich wieder ihrer Strickerei. »Vor einigen Tagen bin ich Luisa im Supermarkt begegnet.«
»Und?«, reagierte ich ungerührt und verputzte den letzten Bissen meines Döners.
»Sie hat nach dir gefragt und war ganz verwundert, dass du weggezogen bist.«
»Aha.«
Tante Effi sah wieder auf und musterte mich fragend über ihre Brille. »Sag mal, langweile ich dich irgendwie?«
»Keineswegs.«
»Aber?«
Mein Blick ruhte auf ihren Händen. »Worauf willst du hinaus? Luisa und ich sind seit einer halben Ewigkeit kein Paar mehr. Gewöhn dich allmählich daran.«
»Ach herrje, wo denkst du hin?« Tante Effi war sichtlich entsetzt. »Ich wollte darauf hinaus, dass sie eine dicke Kugel vor sich herträgt. Der Entbindungstermin ist in zwei Wochen.«
Das war allerdings ein starkes Stück. War sie denn nicht fest entschlossen gewesen, Jura zu studieren? Mit einem Kind würde sich das sicher ziemlich schwierig gestalten. »Wer ist der Vater?« Keine Ahnung, warum ich das wissen wollte. Spielte das eine Rolle? Ich war doch sowieso nicht mehr auf dem Laufenden. Schon über ein Jahr war es her, als ich sie das letztes Mal gesehen und mit ihr gesprochen hatte. Und das Aufeinandertreffen war nicht gerade das, was man ideal nannte.
»Ihr letzter Freund. Kevin.«
»Auch der ist schon Schnee von gestern? Alle Achtung!« Ihr Männerverschleiß seit unserer Trennung vor zweieinhalb Jahren war kaum noch zu toppen. »Und hat sie schon einen Ersatzdaddy gefunden?«
Tante Effi verging das Lächeln. »Cedric, nimm dich zusammen!«
»Entschuldige.«
»Sie ist allein. Vielleicht solltest du sie mal anrufen. Ich glaube, sie kann jemanden wie dich gut gebrauchen.«
Ich musste mich wohl verhört haben. »Bitte?«
»Ich musste feststellen, dass sie in etwas … nun ja, gesellschaftsschädliche Verhältnisse geraten ist, lebt noch dazu von Stütze. Stell dir das mal vor, mit achtzehn schon. Und nun habe ich mir gedacht, wenn sie dich sieht ... wenn sie sieht, was aus dir geworden ist, meine ich, könnte es sie anspornen und wieder auf ihren rechten Weg bringen.«
Falsch gedacht! Luisa war Geschichte. Und das sollte auch so bleiben. Sie hatte mich nicht mehr gewollt, weil sich ihre Ansprüche an Jungen geändert hatten. Und als sie mich nicht nur als Junge, sondern auch als Mensch abgelehnt hatte, hatte sie damit auch eine Freundschaft verspielt.
»Bei Gelegenheit«, log ich aus Anstand zu Tante Effi. Ich wollte sie nichts darüber wissen lassen, was ich wirklich für Luisa empfand, wie strapaziös der Kampf mit dem Verlust ihrer Liebe gewesen war und wie mörderisch groß auch jetzt noch meine Enttäuschung darüber war. Tante Effi war zu alt für Feindseligkeit, war geradezu angeekelt von jeder Art von Negativgefühlen. In ihr herrschte hauptsächlich traute Harmonie und purer Frieden. Sie würde meine Haltung also nie und nimmer verstehen.