Читать книгу Erkläre mir das Leben - Katie Volckx - Страница 5
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ОглавлениеNach zwei Wochen war Winter Sommer wieder in die Schule zurückgekehrt. Ich kannte den Grund ihres Fehlens nach wie vor nicht. Womöglich hatte ihr eine hartnäckige Grippe zugesetzt. Zwar waren im Augenblick keine ansteckenden Krankheiten im Umlauf, aber mit einer Person musste eine Epidemie ja beginnen. Aktuell sah sie topfit aus. Aber nicht glücklich. Ihre hängenden Mundwinkel und eine tiefe Zornesfalte zwischen den Augen ließen darauf schließen.
Heute trug sie ihre Haare geschlossen. Als Knoten auf dem Kopf. Entweder diente es der Vorsorge, falls ein dusseliger Junge namens Cedric Claußen wieder ihren Weg kreuzen würde, oder sie gedachte, sich dem wohl hässlichsten Trend, den es je rund ums Haar gegeben hatte, anzunehmen. Dessen ungeachtet, an ihr sah der zerfranste Dutt gar nicht mal so verkehrt aus. Woran das lag, konnte ich mir nicht erklären. Eventuell lag es an ihrem insgesamt sehr attraktiven Erscheinungsbild, das nichts entstellen konnte, nicht einmal ein Kartoffelsack, wie man so schön zu sagen pflegte.
Offensichtlich übte ihr Wesen eine hypnotische Faszination auf mich aus, oder weswegen verspürte ich den Drang, sie so gründlich unter die Lupe zu nehmen? Es könnte jedoch genauso gut sein, dass ich mir lediglich Anns Worte zu Herzen nahm und herausfinden wollte, ob Winter Sommer diesen auch wirklich gerecht wurde.
Sie hatte das Schulgelände ohne Fahrrad betreten. Wahrscheinlich war es immer noch im Eimer. Aber Gewissensbisse hatte ich keine. Weil ich an dem verflixten Unfall schlicht und ergreifend nicht schuld war.
Ihre Freundin Inka begrüßte sie überschwänglich, nahm sie fest in die Arme und wog sie dabei hin und her. Daraufhin nahm sie Winters Gesicht liebevoll in die Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Das riss Winter zumindest zu einem flüchtigen Lächeln hin.
Ich überlegte, ob ich zu ihr hinübergehen und mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen sollte. Das gebot ja schon allein der Anstand, fand ich. So meldete ich mich bei Niko und meiner neuen Clique kurz ab und tat, was ich tun musste.
Winter sah mich auf sich zukommen, aber das kümmerte sie kaum. Sie warf mir nur einen kurzen, interesselosen Blick zu und sah keinen Grund darin, die Unterhaltung mit Inka zu unterbrechen. Erst als ich sie erreicht hatte, stellte sie das Sprechen ein und funkelte mich verärgert an. Ihr Blick fragte nicht nach einer rationalen Begründung für die Störung, er forderte die rationale Begründung geradezu ein.
»Geht es dir gut?«
Verwundert erwiderte sie: »Seh ich denn so scheiße aus, oder weshalb fragst du?« Ihre Freundin lachte hell auf.
»Ich dachte nur, du hättest dir bei deinem Fahrradunfall vielleicht mehr zugezogen als zunächst angenommen. Du warst ganz schön lange krank.«
»Und wenn? Warum sollte dich das groß interessieren?«
»Nun, ich war daran ja nicht ganz unbeteiligt.«
»Ach, plötzlich siehst du ein, dass du schuld hast?«
»Nein, nein, ich sagte nur, dass ich daran nicht ganz unbeteiligt war. Augen habe ich am Hinterkopf nämlich nach wie vor keine.« Ich wandte meinen Kopf um und fuhr mir durch mein braunes Haar, um es unter Beweis zu stellen.
»Es geht mir gut, danke der Nachfrage.« Sie zupfte ihr weites blaues Top am unteren Saum zurecht. »Aber mein Ausfall hat nichts mit dem Unfall zu tun.« Sie zog das linke Hosenbein ihrer verwaschenen Dreiviertel-Sweathose hoch und legte eine fast verheilte Schürfwunde am Knie frei. »Auch wenn ich noch heute etwas davon habe, wie du sehen kannst.«
Ich erinnerte mich an das viele Blut, das damals durch ihre Leggings gesickert war. »Sieht ja übel aus.«
»Nicht mehr so sehr, wie am Tag des Unfalls.«
Mit den Worten: »Ich warte im Klassenzimmer auf dich« zog sich Inka jetzt zurück. Sie ahnte wohl, dass das Gespräch zwischen Winter und mir länger dauern würde.
»Okay«, erklärte Winter sich einverstanden. Dann wandte sie sich wieder an mich. »Lass uns doch schon mal dieselbe Richtung einschlagen. Wir können uns auch im Gehen unterhalten.« Sie zog ihre dicke geblümte Umhängetasche über den Kopf ab und drückte sie mir in die Hand. Durch die Dehnübungen mit den Armen, die ihre Schultern lockern sollten, teilte sie mir unmissverständlich mit, dass ich sie bis in das Klassenzimmer für sie tragen sollte. Obwohl ich mir vorkam wie einer ihrer Lakaien, tat ich ihr den Gefallen. So wären wir zumindest quitt.
»Lass das nicht zur Gewohnheit werden.«
»Dass du für mich die Tasche trägst?« Ich nickte bestätigend. Sie lachte gehässig auf. »Um den Fahrradunfall wiedergutzumachen, müsstest du noch weitaus öfter meine Tasche für mich tragen. Aber ich will mal nicht so sein.«
»Sehr gnädig von dir. – Du bist ganz schön überheblich.«
»In Wahrheit bist du der Überhebliche von uns beiden. Denn du meinst, mich zu kennen. Dabei weißt du gerade drei Fakten über mich.«
Ich zählte nach. Und sie hatte recht. War das nur ein Zufall? »Dass du einen irren Namen trägst. Dass Harro dein fester Freund ist. Und dass du fälschlicherweise glaubst, die Königin von Deutschland zu sein.«
»Hast du ein eidetisches Gedächtnis oder warum merkst du dir all die absolut unbestrittenen Informationen über mich?«
Sie hatte Sinn für sarkastischen Humor. Das gefiel mir. Was mir dagegen nicht gefiel, war, dass ich mir ein amüsiertes Grinsen kaum verdrücken konnte. Aber ich wollte auch nicht schon wieder den Coolen raushängen lassen, wenn die Sympathie für sie, die anscheinend in mir zu wachsen begann, einem so penetrant ins Auge sprang. So blieb mir nichts anderes übrig, als ehrlich zu antworten: »Du bist witzig.«
»Hab ich von meinem Vater«, erklärte sie stolz, »und das ist mal eine Info aus erster Hand. Kannst du mir glauben.« Nun folgte auch noch ein neckisches Augenzwinkern.
Mein Herz machte einen Sprung. Ich mochte ihre abgeklärte, problemlose Art. Zu blöd nur, dass ich gedacht hatte, sie wäre eine Oberzicke, denn damit hatte ich mich bei ihr längst unbeliebt gemacht.
»Es muss dich riesige Überwindung gekostet haben, das Kompliment laut auszusprechen.« Winter sollte über eine Ausbildung als Kommissarin bei der Kriminalpolizei nachdenken, und dann sollte man sie hauptsächlich mit Verhören betrauen, denn darin wäre sie Spezialistin. Sie achtete nicht nur auf Mimik und Gestik, sondern war noch dazu gut darin, sie zu entschlüsseln.
»Ging eigentlich. Denn ich war nicht ganz überzeugt von meiner bisherigen Meinung über dich. Die stand nur vorerst.« Jetzt zwinkerte ich ihr vielsagend mit einem Auge zu.
»Die meisten Leute, die ich kenne, tragen bedeutend mehr Stolz und Würde im Leib als du«, gab sie zu verstehen, dass ich mein Fähnlein anscheinend nach dem Winde drehte und mich widerstandslos unterordnete.
»Hab ich schon mit fünfzehn verloren, als ich im tief betrunkenen Zustand halbnackt und völlig orientierungslos die Straßen meiner Nachbarschaft vollgekotzt habe.«
Ich erinnerte mich, als wäre es erst gestern gewesen. Es war die erste und einzige Erfahrung, die ich mit Alkohol durchlitten hatte. Katastrophe! Dabei war das noch nie mein Ding gewesen. Ich hatte nur nicht als elender Versager dastehen wollen, hatte vor allem Luisa, die auf harte Jungs stand, damit imponieren wollen.
»Igitt!«
»Mir ist schon klar, dass ich damit keine Bewunderung bei dir hervorrufe.«
»Also ist es dir wichtig, dass ich dich mag?«
Inzwischen hatten wir das Klassenzimmer von Winter fast erreicht. »Nee, eigentlich nicht.«
»Ach nein?«
»Ich will ja keinen Ärger mit Harro bekommen.«
Bevor sie näher darauf eingehen konnte und als hätte Harro nur auf seinen Einsatz gewartet, kam er auch schon um die Ecke geschlendert. Zielstrebig ging er auf Winter zu und drückte ihr zur Begrüßung einen festen Kuss auf den Mund. Dann legte er einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich heran, um, wie es schien, seinen Anspruch auf sie zu erheben. Ich konnte erkennen, dass er ihr mit seinem festen Griff wehtat. Doch sie wehrte sich nicht und rang sich ein Lächeln ab, das sie überglücklich zeigen sollte.
»Wer bist du?«, fragte er mit provokanter Stimme. Er mochte es wohl nicht, wenn sich seine Freundin mit anderen Jungs unterhielt.
»Inzwischen weiß das jeder.« Mit ziemlicher Sicherheit war ich schon bekannt gewesen wie ein bunter Hund, noch bevor ich zwei Schritte in dieses Geisterdorf gesetzt hatte. Klatsch und Tratsch erfuhr man hier doch an jeder Ecke.
»Du hast dich mir aber noch nicht vorgestellt.«
In diesem Augenblick stand schlagartig außer Zweifel: Da hatten sich zwei Hoheiten gesucht und gefunden! Und da Hoheiten besser unter sich blieben, erwiderte ich fix: »Müsste ich mich jedem einzelnen an dieser Schule persönlich mit Handschlag und allem Pipapo vorstellen, wäre ich frühstens Heiligabend damit fertig. Oder sollte ich wissen, dass du hier irgendeine wichtige Persönlichkeit bist?«
Auf einmal kam Niko um dieselbe Ecke gebogen wie zuvor Harro, der in Begriff war, in das Klassenzimmer nebenan zu gehen, jenes, in das auch ich musste. Als er an uns vorbeiging, lag Spannung in der Luft. Sie lag zwischen Harro und ihm. Das wurde mir in dieser Sekunde klar, als sich ihre Blicke trafen. Sie hätten vernichtender nicht sein können.
Winters Gesicht konnte ich ablesen, dass dieser Vorfall mein rettender Anker war und Harros Faust sich momentan nur deshalb nicht direkt in meiner Magengrube befand.
Bevor sich nun doch noch irgendein Unglück ereignen würde, schwärmten wir für die erste Unterrichtsstunde des Tages in unsere Klassenzimmer aus.
In der ersten großen Pause, in der Niko, Yun, Dominic, Steve und ich uns vor dem Schulgelände aufhielten, um unbemerkt eine Zigarette rauchen zu können, fragte ich Niko: »Was ist das Problem zwischen euch?« Ich machte keinen Hehl aus meiner Beobachtung.
»Was meinst du?«, stellte er sich begriffsstutzig.
»Mit dir und Harro stimmt was nicht. Erzähl schon!«
»Quatsch, du spinnst. Alles ist in bester Ordnung.« Lügen gehörte nicht zu seiner Paradedisziplin. Wieso tat er das? Wieso belog er ausgerechnet mich, denjenigen, dem er alles erzählen konnte?
Mit ihren befangenen Blicken, die sie sich erst untereinander, dann Niko zuwarfen, machten die anderen Jungs es viel schlimmer und bekräftigten meinen Verdacht auch noch unbewusst. Mehr noch legten sie offen, dass etwas Gravierendes zwischen Harro und Niko vorgefallen sein musste.
»Oh komm schon, das ist doch albern. Warum kriegst du die Zähne nicht auseinander? Tut das Not?«
»Ich möchte darüber nicht sprechen. Ganz einfach.«
»Und wieso sagst du mir das nicht gleich? Als hätte ich das nicht respektiert!«
Niko schwieg kurz, murmelte dann kleinlaut: »Entschuldige, du hast recht.«
Daraufhin war die Stimmung gedrückt. Dominics klägliche Versuche, diese mit Humor wieder aufzulockern, scheiterten gnadenlos. »Ist das jetzt ein Grund, Trübsal zu blasen?«, war er gereizt. Ich konnte nicht wirklich ausmachen, ob sein Ärger sich auf die miese Stimmung bezog oder darauf, dass seine Witze eine Schlappe erlitten hatten.
Die Schulklingel läutete, was uns nötigte, wieder hineinzugehen. Doch Niko hielt mich kurz auf und ließ den anderen Jungs einen großen Vorsprung.
»Könntest du mir was versprechen?«, sprach er so leise, dass es nur für mich hörbar war.
»Alles!« Meine Tonlage ließ jedoch mehr auf Verwunderung als auf Bestimmtheit schließen.
»Auch wenn du es gerade nicht verstehst und das ein bisschen zu viel verlangt ist, aber könntest du Winter in Ruhe lassen?«
»Warum?« Damit hatte ich zuallerletzt gerechnet.
»Lass sie einfach in Ruhe.«
Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, mir würde seine Äußerung nicht zu denken geben. Trotzdem wollte ich mir Gewissheit verschaffen und fragte: »Ist das ein Befehl?« Denn wenn es ein Befehl gewesen wäre, müsste ich ihm zuliebe mein Versprechen erfüllen. Das war eine unserer goldenen Freundschaftsregeln.
Zu meinem Glück erwiderte er: »Nein, nur ein Rat.« Vielleicht hatte er meine Sympathie für sie in letzter Sekunde bemerkt und wollte sich mir nicht in den Weg stellen?
Oder: »Bist du irgendwie verliebt in Winter? Soll ich deswegen die Finger von ihr lassen?«
Er starrte mich voller Entsetzen an. Dann prustete er los. »Soll das ein Witz sein?«
»Nein, dein merkwürdiges Verhalten spricht dafür.« War ihm das denn nicht bewusst?
»Deine Theorie hat nur einen Haken: ich bin mit Jule zusammen.«
»Und wovor schützt dich das? Ich meine, so wie sich Liebe entwickelt, kann sie auch wieder vergehen. Und vielleicht vergeht sie dir mit Jule gerade. Ihr seid gut vier Jahre ein Paar. Da würde es wohl niemanden sonderlich verwundern.«
»Ach, denk doch, was du willst!«, kapitulierte er schon jetzt, nach so kurz gesprochenen Worten, und ließ mich eiskalt stehen.
Besagte Jule traf ich am nächsten Tag zufällig im Zentrum im Stadtcafé. Dass ich hier auf sie traf, war kein Zufall. Auch sie verbrachte ihre Freizeit gern und oft hier. Mal mit, mal ohne Niko. Heute war ein Ohne-Tag.
Ich musste mich zu ihr herunterbücken, um sie zur Begrüßung zu drücken, denn sie war ziemlich klein. Einsfünfundfünfzig, um genau zu sein. Ich mochte sie, sogar wirklich gern, aber lang hielt man es mit ihr nicht aus. Sie war sehr lebhaft. Und gesprächig. Ich meine, nicht gesprächig im Sinne von kommunikativ und gesellig. Sie war eine Quasselstrippe wie sie im Buche stand. Und dabei war ihre Stimme so piepsig wie die von Schlumpfine und hektisch wie ein Maschinengewehr.
»Heute so allein hier?«
Wir setzten uns an einem der fünf Tische vor dem Café, der uns durch einen Sonnenschirm vor der direkten Sonneneinstrahlung schützte. Im Sommer war es schier illusorisch, hier einen Platz zu ergattern. Aber zumindest heute war das Glück auf unserer Seite.
»Nicht ganz.« Sie griff in ihre Handtasche und nahm eine prallvolle Schachtel Zigaretten heraus. Während sie sich eine herausfingerte, bot sie mir eine an. Ich verneinte mit einem Kopfschütteln, denn ich wollte mir das Rauchen abgewöhnen. Fast eine Woche hielt ich schon durch.
»Nicht ganz?«, ging ich auf ihre Antwort ein.
»Nun, du bist doch jetzt da, Dummerchen.«
Rücksichtsvoll blies Jule den ersten Zug ihrer Zigarette in eine andere Richtung, doch der leichte Wind trug den Qualm wieder zurück zu mir. Ich störte mich nicht die Bohne daran. Mir war schon klar, dass Passivrauchen nicht gerade gesund war, aber ich mochte den Geruch von frischem Zigarettenqualm, wenn er sich mit der natürlichen Luft vereinigte.
»Willst du denn allein sein?«
»Wenn du beschließt, hierherzukommen, ist man doch nie allein, oder? Irgendjemanden, den man kennt, trifft man am Ende doch immer.«
»Da kann ich dir leider nicht widersprechen.« Ich grinste nur zaghaft, denn ich sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie etwas bedrückte.
Den zweiten Zug ihrer Zigarette inhalierte sie so genusssüchtig, dass meine Lunge schon vom Zusehen bestialisch stach. »Isabell kommt später noch rum.«
Isabell war mir nicht bekannt. »Eine Freundin?«
»Jein. Eine Arbeitskollegin. Sie ist nicht so sehr Arbeitskollegin wie sie mir eine Freundin geworden ist. Aber wir unternehmen nicht sehr viel zusammen in unserer Freizeit, weil wir uns schon von früh bis spät in der Praxis sehen.«
Jule war ebenfalls achtzehn, aber sie besuchte längst nicht mehr die Schule. Sie hatte ihr Abitur geschmissen und machte entgegen aller Kritik eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten in einer Gynäkologie. Dafür braucht man kein Abitur, verflucht noch mal, hatte sie vor allem ihren Eltern die Stirn geboten. Aber du könntest wesentlich mehr sein, hatte ihr Vater dagegen argumentiert. Zum Beispiel die Gynäkologin, hm? Mehr! Im Leben geht es immer um mehr, nicht wahr? Ich will aber nicht mehr. Ich will Arzthelferin sein. Das und nichts anderes will ich sein. Nachdem er erkannt hatte, mit welch unermüdlicher Leidenschaft sie ihre Ausbildung durchzog, hatte sich der Vater bei ihr inständig dafür entschuldigt, dass er ihr jemals das Gefühl gegeben hatte, nicht genug zu sein und ließ sie seither tun, was nicht ihn, sondern sie glücklich machte.
»Sehr verständlich.«
Endlich kam die Bedienung an unseren Tisch und nahm unsere Bestellungen entgegen. Jule hatte keine Lust auf ein Heißgetränk und orderte eine eiskalte Zitronen-Limetten-Limonade. Ich entschied mich für einen Milchkaffee. Mein persönlicher Seelenwärmer, auch wenn draußen tropische Temperaturen herrschten und mir die Schweißperlen auf die Stirn trieben.
»Niko ist deinetwegen leicht angepisst«, ließ sie es ungefiltert heraus, sobald die Bedienung wieder fort war.
»Ach ja? Dabei hat er sich heute in der Schule mir gegenüber ganz normal gegeben.«
»Okay, das wusste ich nicht. Zuletzt habe ich ihn gestern Abend gesehen. Seine Laune war nicht zum Aushalten. Ich habe ihn gefragt, was los sei. Zuerst hat er ein riesengroßes Staatsgeheimnis daraus gemacht. Als ich ihn dann endlich dazu bringen konnte, sich auszusprechen, machte er wiederum eine riesengroße Staatsaktion daraus. Man könnte meinen, er steht zurzeit vor seinen Tagen.« Sie war sichtlich amüsiert. »Ich wollte ihm schon eines meiner Röckchen anbieten.«
Auch ich lachte, denn Niko wurde unwillkürlich Opfer meiner blühenden Fantasie. Zwar kam ich mir dabei schäbig vor, aber die Bilder von ihm im pinken Tutu drängten sich mir förmlich auf. Wie hätte ich da ernst bleiben können?
»Was hat er erzählt?«
»Grob umrissen? Dass du ihm angedichtet hast, er sei in Winter verschossen.«
»Das habe ich auch getan«, bekannte ich mich schuldig im Sinne der Anklage. »Sein Allgemeinverhalten zum Thema Winter Sommer hat mich lediglich irritiert. – Falsche Rücksicht kenne ich nicht, das weißt du.«
Sie nickte zustimmend, während sie sagte: »Ich kenne jedoch die Hintergründe, und ich weiß, dass Niko sich weigert, auch nur ein Sterbenswörtchen über die blöden Geschehnisse zu verlieren. Er glaubt, er könnte sie auf diese Weise hinter sich lassen.«
Was hatte ich verpasst? Offenbar hatte er einmal in einer prekären Lage gesteckt, die eine emotionale Wunde verursacht hatte, die einfach nicht heilen wollte und ihn zwang, sie mit sich zu führen wie eine Bulldogge, die sich in ihn festgebissen hatte und versuchte, ihn totzuschütteln. Wieso hatte er mir nie etwas davon erzählt?
Ich konnte mich vage an eine Phase erinnern – die lag nun anderthalb Jahre zurück –, in der er sich nur selten in Hamburg sehen lassen hatte und Anrufen oder Nachrichten ausgewichen war. Allerdings hatte ich ihm geglaubt, als er es mit familiärem Stress abgetan hatte. Tatsächlich hatten seine Eltern eine Scheidung in Betracht gezogen, sich letztendlich jedoch wieder berappelt gehabt.
»Tja, funktioniert ja astrein!«, scherzte ich mit einem Augenzwinkern.
»Nun, so gesehen funktioniert es schon. Er begegnet Winter zwar ignorant, und trotzdem so, als wäre nie etwas geschehen. Weißt du, was ich meine?« Ja, ich verstand, was sie meinte, denn ich hatte es ja selbst erlebt. Bis gestern Vormittag hatte ich nicht einmal den Hauch einer Ahnung, dass zwischen ihm und Winter etwas nicht stimmte. Ich hätte ihnen nicht mehr Verbindung als normal zugetraut. »Bis auf Harro. An ihm kann er kaum vorbeigehen, ohne bald zu explodieren. Das ist ziemlich anstrengend auf Dauer. Für alle Beteiligten. Wir können von Glück reden, dass sie nicht in dieselbe Klasse gehen. Das käme einer Katastrophe gleich, sag ich dir. Erstaunlicherweise ist Harro sehr bemüht, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich hat Winter ihn dazu angehalten. Ja, wahrscheinlich ist es sogar eine Bedingung. Denn Winter weiß genau um Nikos Wut. Aber es ist ja nicht an Niko, sich unter Kontrolle zu halten. Es ist ganz allein an Harro. Und wenn der feine Herr es sich nicht mit Winter verscherzen will, hat er sich wohl oder übel zu beweisen.«
Ich war dankbar für die Informationen, die Jule nun so frei und offen auf den Tisch legte, ja, auch wenn sie mehr Fragen aufwarfen als beantworteten.
Die Bedienung unterbrach uns, indem sie unsere bestellten Getränke an den Tisch brachte. Sie lächelte freundlich, als sie uns wieder verließ.
Und ich fuhr fort: »Aber liegt das Problem nicht schon eine halbe Ewigkeit zurück und ist somit verjährt?« Nur ungern stellte ich mich auf Harros Seite, aber was konnte schon so krass sein, dass man ihm auch noch anderthalb Jahre später einen Fehler nachtrug? Was war so krass, dass man sich auch noch nach anderthalb Jahren zusammennehmen musste, um ihm nicht an die Gurgel zu gehen?
»Das tut es. Aber solange sie sich der Schule wegen regelmäßig begegnen, wird das alles nie abkühlen. Alles fühlt sich so verdammt frisch an. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das mit Harro und Winter überhaupt Zukunft hat. Ich bin ja der Meinung, dass sie die Beziehung nur künstlich am Leben erhalten.«
Sieh mal einer an, von wegen beliebtes Paar. Offensichtlich spielten sie nur eine Show, eigentlich nicht einmal eine gute. Alles nur Schein. Litt hier denn jeder unter Schwarzen Star oder warum bekam niemand etwas von der seltsamen Allgemeinstimmung mit?
»Wofür das denn?«, wollte ich nur zu gern wissen.
»Für die Eltern. Denn die sind mit dem jeweiligen Partner ihres Kindes vollauf zufrieden. Auch nur, weil sie von dem ganzen Drama nichts wissen. Das alles blieb unter den Betroffenen.«
»Wie geht das denn? Ich bin immer davon ausgegangen, Stoff wie dieser macht auf dem Dorf irre schnell die Runde?«
Jule lachte auf. »Ich verstehe, du kennst die Gesetze eines Dorflebens noch nicht.« Sie nahm einen Schluck von ihrer Limonade und gab ein befriedigtes »Aaah« von sich. »Guck mal, natürlich wird geredet und gelästert. Und ja, einzig logisch wäre, dass auch dich irgendwann der Klatsch und Tratsch über deine Person erreicht. Aber so ist es nicht. Sie machen Halt vor dem Betroffenen. Wenn sie wüssten, dass deine Frau gerade mit Bauer Alfons-Stefan Ehebruch begeht, würden sie dir ins Gesicht lächeln und dich glauben lassen, alles sei in bester Ordnung.«
»Was haben sie davon?« Ich war ernsthaft schockiert.
»Nichts. Rein gar nichts. Sie sind einfach nur feige, wollen sich in nichts reinziehen lassen.«
»Das verstehe wer will. Ich meine, das grenzt schon fast an Perversion.« Ein wenig hatte ich mich ja schon an das Leben hier gewöhnt(die Schule war mir dabei eine große Hilfe gewesen), aber auf diese kranken Manieren konnte ich gut und gerne verzichten.
»Wir könnten es psychologisch analysieren, aber das würde leider auch nichts daran ändern. An ihnen, meine ich.«
»Wohl wahr.« Ich hatte meinen Milchkaffee fast auf, als mir einfiel: »Ich hoffe, du bekommst keinen allzu großen Ärger mit Niko, weil du mir ein paar Informationen geliefert hast.«
Sie machte große, mitleiderregende Augen. »Da kämen wir auf meine Bitte zu sprechen: könnte dieses Gespräch unter uns bleiben? Tätest du mir diesen Gefallen, ja? Du weißt ohnehin nichts Konkretes.«
»Du kannst dich voll auf mich verlassen.« Ganz bestimmt wollte ich nicht derjenige sein, der Jule unnötige Schwierigkeiten bescherte. Sie hatte ja recht, sie hatte nichts von sich gegeben, das Aufschluss gab. Tatsächlich wusste ich nicht mehr als vorher, kam mir nun sogar noch dümmer vor als zuvor. »So, nun zu dir. Was beschäftigt dich?« Die Angelegenheit mit Niko, Harro und Winter konnte nämlich nicht über Jules eigene mittelmäßige Laune hinwegtäuschen.
»Was ... was meinst du?«, geriet sie ins Stottern und gab damit noch mehr Anlass zum Verdacht.
»Letztes Wochenende, als wir im Kino waren, warst du auch schon so seltsam drauf. Aber da dachte ich noch, dass du vielleicht vor deinen Tagen stehst.«
Sie schmunzelte. »Eher nicht.« Ihr Blick wich meinem aus. »Ist es mir echt so deutlich ins Gesicht geschrieben?«
»Hey, ich bin ein Kerl. Meinst du nicht, dass das was zu heißen hat, wenn dem das schon auffällt?«
»Ja. Scheiße.« Sie knabberte an ihrer Unterlippe und wackelte mit dem Fuß. Ich wollte mich davon ja nicht nervös machen lassen, aber ein bisschen ging es doch auf mich über. »Kann ich dir was anvertrauen?«, fragte sie nach einem Weilchen.
War ich wirklich bereit, mir ein Geheimnis aufzuladen? Denn mir schwante, dass sie mich hauptsächlich Niko gegenüber zur Geheimhaltung verpflichten würde. Aber es war meine Neugier, die ein leichtsinniges Ja zur Antwort gab.
»Ich bin schwanger«, verkündete sie ohne langes Federlesen und verursachte damit einen kurzen Herzstillstand bei mir.
Als ich wieder zu mir kam und ihre Worte einigermaßen verarbeitet hatte, wurde mir klar, dass ich mich umsonst gesorgt hatte und sehr wohl mit Niko darüber sprechen könnte. Dabei schoss mir durch den Kopf, dass er auch hierzu geschwiegen hatte. Um meine Freundschaft mit Niko schien es wirklich schlecht zu stehen. Nur, warum war mir das zuvor nie aufgefallen?
»Wieso hat Niko mir gegenüber noch nichts darüber fallen lassen?«, machte ich meiner Enttäuschung Luft. »Jetzt mal ehrlich, er und ich sind Freunde seit Kindertagen. Wie kann er das vergessen haben?«
Jule stoppte mich in meiner Aufregung. »Er weiß es noch gar nicht, du Drama Queen.«
»Oh«, machte ich. »Und wann gedenkst du ihn aufzuklären?«
»Nie, hab ich mir so gedacht.«
»Du bist doch von allen guten Geistern verlassen, Jule.«
Sie wurde kurz still, wirkte eher sogar leidend. »Ich denke über eine Abtreibung nach. Warum sollte ich da erst groß für Aufruhr sorgen?«
Vor Entsetzen stand mir der Mund offen. Ich musste mich verhört haben. Ja, das war es! Meine Ohren ließen mich ganz einfach im Stich. Anders konnte ich mir diesen Unfug nicht erklären. »Jule«, sprach ich leise, sanft und so fürsorglich wie es mir nur möglich war mit Herzrasen, Bluthochdruck, zitternden Händen und einer Menge Wut im Bauch, »echt jetzt? Aus welchem Grund?«
»Ich will vorerst meine Ausbildung erfolgreich zu Ende bringen, will was in der Tasche haben ...«
»Ehrlich Jule, du regst mich gerade total auf. Ich meine, wie wär's denn mal mit Verhütung, wenn dir so gar nicht nach Kinderkriegen ist? Meine Güte, du arbeitest doch an der Quelle.«
»Super Argument! Meinst du, ich habe das absichtlich herbeigeführt?« Sie zeigte mir einen Vogel. Dann fingerte sie eine nächste Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an. Während sie den ersten Zug ausblies, erklärte sie: »Die Pille verträgt sich eben nicht mit Alkohol. Ich war unvernünftig. Na und? Passiert!«
Ich zischelte abschätzig. »Da trifft es sich ja gut, dass wir in einem hochmodernen Zeitalter leben und du mal eben zwischen Kaffee und Kuchen das Kind ausschaben lassen kannst wie lästigen Müll.«
Plötzlich schlug sie mit der Faust auf den Tisch, sodass sich sämtliche Leute nach uns umsahen. »Jetzt ist mal gut, Cedric! Ich habe dir das nicht erzählt, um mich dann von dir fertigmachen zu lassen.«
Ich atmete tief durch, um wieder zur Ruhe zu kommen. »Schon gut, schon gut.« Da mich das Atmen gerade kein Stück weiterbrachte, schnappte ich nach Jules Zigarettenpäckchen, das sie auf dem Tisch abgelegt hatte, und bediente mich ohne zu fragen daran.
Der erste Zug tat verdammt gut. Zwar wurde mir kurz schwindelig, aber ich kannte das ja schon, da es nicht mein erster Versuch war, mit dem Rauchen aufzuhören. Der Schwindel würde nicht lange anhalten.
»Na toll, und jetzt bin ich auch noch schuld daran, dass du wieder zum Raucher mutierst.« Sie seufzte schwer. »Ich hätte einfach meine Klappe halten sollen.«
Ich lachte heiser: »Du weißt ganz genau, dass du das nie hinkriegst.«
»Geheimnisse hab ich noch nie ausgeplaudert«, stellte sie klar.
»Das stimmt.« Das musste ich ihr fairerweise zugestehen. »Aber warum hast du mir das mit deiner Schwangerschaft verraten, wenn du die Schwangerschaft sowieso abbrechen willst?«
»Muss!«
»Was, muss?«
»Es war nie die Rede von wollen. Es geht nicht ums Wollen. Ich muss!«
»Aber du sagtest doch ...«
Sie grätschte mir in meine Worte: »Meine genauen Worte waren: ›Ich denke über eine Abtreibung nach.‹«
Just in dieser Sekunde musste ich feststellen, dass sie mir nur ein Spiel vorspielte. Vielmehr spielte sie sich selbst eines vor. Indem sie über die Schwangerschaft nur Nachteiliges sagte, verdrängte sie den Wunsch nach dem Kind.
»Jule, wenn du von dem Schwangerschaftsabbruch nicht überzeugt bist, dann bekomme eben das Kind, sonst wird es dich ein Leben lang begleiten. Willst du das?«
Nachdenklich starrte sie in die Ferne und zuckte nur mit den Schultern. Es war ihr nicht egal, sie war nur überfordert.
»Tu mir nur einen Gefallen, ja?«
»Der da wäre?«, murmelte sie.
»Falls du dich für das Kind entscheiden solltest, hör mit der Qualmerei auf, klar?«