Читать книгу Erkläre mir das Leben - Katie Volckx - Страница 7

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Kaum zu fassen, aber dieses Kaff verfügte über ein eigenes Krankenhaus. Bislang hatte sich mir noch nicht die Gelegenheit geboten, Bekanntschaft damit zu schließen. Nun war es endlich soweit. Und ich war positiv überrascht von dem Personal. Ich hatte Neandertaler ähnliche Verhältnisse erwartet. Hinkende Krankenschwestern mit verrücktem, krausem Haar und keulenschwingende Ärzte in Fellwesten, die um ein Lagerfeuer hockten und es überschwänglich vergötterten. Und auch das Gebäude selbst war modern und recht vertrauenswürdig. Die beträchtliche Anzahl von Patienten, die sich hier tummelten, sprach für sich. Auch, dass sie nicht unglücklich aussahen, beruhigte mich ungemein.

Das überteuerte Handtuch triefte schon vor Blut, als ich endlich in das Sprechzimmer des Arztes gerufen, nicht, wie vorab befürchtet, an den Haaren hineingeschliffen wurde. »Dr. Rafael Pohl«, stellte er sich vor. »Herr Claußen, da haben Sie ja ganze Arbeit geleistet, wenn ich mir das Handtuch so ansehe.« Meine Hände, die das Handtuch abwechselnd hielten, waren ebenfalls rot vom Blut.

»Meine Arme werden auch schon ganz lahm vom Halten«, riss ich Witze, obwohl mir gar nicht danach war. Ich litt unter Schmerzen und zunehmendem Schwindel. Der ganze Blutverlust konnte ja auch zu nichts Gutem führen.

»Sie sollten sich vielleicht einmal setzen. Sie sehen auch schon ganz blass um die Nase aus.«

Ich ließ mich kein zweites Mal bitten. Die Liege bot sich da hervorragend an. Für den Fall, dass ich nun doch noch ohnmächtig zusammensacken würde, würde ich wenigstens einigermaßen weich landen.

»Wobei haben Sie sich die Wunde zugefügt?« Vermutlich musste er solcherlei Fragen stellen, um häusliche Gewalt oder eine andere Art der Misshandlung ausschließen zu können.

»Nur durch eine kleine kindische Rangelei. Nichts, was man überbewerten müsste.« Daran glaubte ich fest. Na schön, Hoffnung traf es mehr.

Er zog sich die Nitrilhandschuhe so routiniert über, dass mir klar wurde, dass er das bestimmt tausendmal am Tag tun musste. Wenn nicht sogar zehntausendmal. Jedenfalls bedeutend öfter, als er Operationen durchführen musste, das stand fest.

Er trat souverän an mich heran und nahm das Handtuch von der Wunde. Ganz selbstverständlich entsorgte er es im Müll. Er schien es nicht zu mögen, viele Worte da zu verschwenden, wo es keine bedurfte. Ganz im Gegensatz zu Mama, die zum Glück im Wartebereich ausharrte und das Handtuch nicht wieder aus dem Müll fischen konnte. Sie mochte mit materiellen Verlusten gut fertigwerden, aber nicht mit dem Kontrollverlust und dreisten Ärzten.

»Demzufolge muss ich mir keine Sorgen darüber machen, dass das zur Gewohnheit wird und Sie hier künftig öfter aufschlagen?«

Ich lachte: »Sie klingen wie meine Mutter.«

Dr. Rafael Pohl reinigte die Wunde zuerst gründlich mit einem Wunddesinfektionsmittel. Daraufhin kontrollierte er die darunter liegenden Knochen, Nerven und Sehnen auf Verletzungen. Das wusste ich deshalb so genau, weil er jeden seiner Handgriffe ankündigte. Offensichtlich wollte er seine Patienten nicht im Ungewissen lassen, damit sie nicht erschraken. Außerdem wirkte es beruhigend ein, musste ich feststellen. Für ihn war ich nicht nur ein Objekt ohne Seele, das man reparierte.

»Es ist bloß eine Platzwunde, aber sie heilt schlecht. Die Wundränder sind zu stark beschädigt und finden nicht mehr von alleine zusammen. Deshalb werde ich die Wunde klammern«, erklärte Dr. Rafael Pohl, während er die ersten Vorbereitungen für die Mini-OP traf. »Ich werde Ihnen nun ein örtliches Betäubungsmittel in den Wundbereich spritzen.«

Spritzen flößten mir Angst ein. Kurz überlegte ich, ob ich das erwähnen sollte, aber da kam er bereits zu mir zurück, bereit, mir das Teil ins Fleisch zu rammen. Allerdings schien er den Schweißperlen auf meiner Stirn die Angst entnehmen zu können. Er hielt die Spritze so, dass die Nadel nach oben zeigte, als er fragte: »Wie steht es mit Ihrem Tetanusschutz? Müsste dieser aufgefrischt werden?« Ich überlegte lange. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann mir das letzte Mal eine Tetanusimpfung verabreicht worden war. Die Tatsache, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, ließ Dr. Rafael Pohl nicht lange fackeln. »Dann tun wir es sicherheitshalber.«

Spätestens als er die Nadel wieder aus meiner Haut zog, stand fest, dass seine Frage an mich nur der Ablenkung gedient hatte.

Dieser Arzt war ein Heiliger!

Mama hatte mir per Sprachnachricht mitgeteilt, dass sie am Auto auf mich wartete. Die Krankenhausatmosphäre hatte ihr nach eigener Aussage zu schaffen gemacht.

Auf dem Weg hinaus hörte ich jemanden nach mir rufen. Die Stimme war mir vertraut. Benommen drehte ich mich um. Ein Flimmern vor den Augen beschränkte meine Sicht. Ich kniff sie fest zusammen, daher erkannte ich erst auf dem zweiten Blick, dass es sich um Winter Sommer handelte, die auf mich zulief. Sie wurde ganz offensichtlich von ihrer Mutter begleitet. Winter war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Besonders das feine Kinn, die konkave Nase und die kurvigen, dicken Augenbrauen machten sie beinahe zu Zwillingen. Nur die Körpergröße unterschied sich auffallend. Es waren etwa zehn Zentimeter. Winters stattliche Größe von einsneunundsiebzig war mir schon am ersten Tag unseres suboptimalen Zusammentreffens aufgefallen. Aus der Menge ragte sie heraus wie eine Königin. Man konnte nicht anders und musste sie anstarren.

Bei mir angekommen bat Winter ihre Mutter, vor der Tür auf sie zu warten. Die Mutter lächelte verständnisvoll, strich ihr zärtlich über das Haar und entschuldigte sich bei mir, weil ihr keine Zeit blieb, sich vorzustellen.

Winter reagierte erschrocken, als sie meine bandagierte Stirn sah, und fragte: »Was ist passiert?« Dann setzte sie sich in Gang und lief in die Richtung eines Getränkeautomaten, wohin ich ihr gemächlich folgte.

»Lange Geschichte.«

»Ich hab Zeit.« Sie steckte ihre Hand tief in die Seitentasche ihrer lockeren modischen schwarzen Shorts mit hoher Taille und suchte nach Kleingeld. Sie wurde fündig und zählte es in ihrer offenen Hand nach. »Mir fehlen zwanzig Cent. Könntest du mir aushelfen?«

Nun kramte ich in allen vorhandenen Taschen meiner Kleidung herum. Irgendwo würden sich sicher ein paar Münzen finden lassen.

Ha, hab ich es doch gewusst! »Hier, zwei Euro.« Ich hielt ihr die Münze hin.

»Ich brauche nur zwanzig Cent.«

»Ich habe es aber nicht kleiner.«

»Dann lass stecken, Cedric!«

Ich war mehr als irritiert – ich fühlte mich wie in einem falschen Film. »Ich lade dich ein. Was willst du denn? Eine Cola?«

»Nee, lass mal. Ich werde schon nicht verdursten.« Sie war im Begriff zu gehen.

»Winter, was soll dieser Schwachsinn?«

Sie stöhnte genervt. »Woah, na schön, dann gib mir die zwei Euro.« Als sie die Münze aus meiner hohlen Hand nahm, legte sie ihre Centmünzen hinein, um mir nichts schuldig zu sein. Jedenfalls nicht mehr als nötig.

»Warum bist du jetzt so bescheuert? Ich meine, ich kann auch gehen, wenn dir meine Existenz auf den Keks geht.«

»Es tut mir leid, okay?« Sie sah mir direkt in die Augen. »Okay?«, wiederholte sie, da ich sie nur anstarrte und es mir offenbar die Sprache verschlagen hatte.

Aber ihr Blick stach mich nieder wie einen Feind. Wie hätte ich da noch einen klaren Gedanken fassen können? Ich probierte es mit dem Naheliegendsten: »Okay!« Ging doch!

Zufrieden wandte sie sich dem Getränkeautomaten zu, warf die Münze ein und drückte die Taste für eine Cola. Und zwar eine richtige, echte, wahre Cola. Nicht die light-Cola, sondern die mit den fünf Tonnen Zucker. Ein Mädchen, das auf den ganzen Diätwahn pfiff. Das machte sie im Nu um Welten attraktiver.

»Aber es ist nicht wahr, dass du alle Zeit der Welt hast. Deine Mutter wartet draußen auf dich. Und meine im Übrigen auch ... Also, auf mich, nicht auf dich.«

»Stimmt. Aber wir könnten uns später noch einmal treffen.« Dieser Vorschlag kam überraschend. Ich befürchtete, sie könnte an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leiden.

»Klar doch, wenn du Lust hast.« Ich mimte Lässigkeit mit einem Schulterzucken.

»Klaro. Und du?«

»Sicher.« So sicher war ich mir im Augenblick gar nicht, andererseits mochte ich sie nicht vor den Kopf stoßen. Immerhin war sie auf mich zugekommen, wollte so was wie Frieden mit mir schließen, auch wenn ich nicht verstand, woher ihr Sinneswandel kam. Ich war ein unbedeutender Fremder für sie, der sich auch noch lustig über ihren Namen gemacht hatte.

»Dann reden wir nachher, ja?«

»Wo?«

»Bei dir.«

»Bei mir?« Zu Recht wunderte ich mich, schließlich kannten wir uns überhaupt gar nicht. Und was würde wohl Harro dazu sagen, wenn er erführe, dass sein Mädchen sich mit anderen Typen traf? Und dann war ausgerechnet ich einer dieser Typen.

»Was dagegen?« Für meine Skepsis fehlte Winter jegliches Verständnis.

Ich zögerte, erwiderte dann jedoch: »Nein ... nein.«

Glücklicherweise hatte sich meine Mama mit Nikos Mama für das Abendessen in einem örtlichen Restaurant verabredet. So musste ich Winters bevorstehenden Besuch nicht erwähnen und war keinem ihrer dummen Sprüche ausgesetzt. Außerdem blieb Winter es erspart, kritisch auf Herz und Nieren geprüft zu werden. Mama erging sich gern darin. Und es wäre nicht das erste Mal, dass sie mit ihrer aufdringlichen Art ein Mädchen vergraulen würde. Zwar war Winter keine romantische Verabredung, trotzdem legte ich aus sehr mysteriösen Gründen wert darauf, sie näher kennenzulernen.

Ich empfing sie mit einem offenen Lächeln, in der Hoffnung, ich würde zur Abwechslung mal eines zurückbekommen. Aber es sollte nicht sein. Sie drängte sich an mir vorbei und ging schnurstracks in die Küche.

Sie trug noch immer die Kleidung von heute Mittag. Nur das weiße Rippshirt hatte sie gegen ein kürzeres Top mit Punkten getauscht. Nun lag ihre schmale Taille frei. Ihre Rippen zeichneten sich deutlich ab.

Sie registrierte, dass ich sie musterte. Also sah ich weg und pfiff verräterisch. »Findest du mich sexy?« Neckisch zwinkerte sie mir mit einem Auge zu.

»Nein«, wies ich eilig ab. Und gleich darauf bemerkte ich, wie schäbig meine Reaktion war. »Ich meine, du bist auffallend dürr. Das gibt mir zu denken.« Mein Erklärungsversuch war zwar nicht besser, aber sie sollte ruhig die Wahrheit erfahren und sich keine falschen Vorstellungen machen.

»Machst du mir was zu trinken?«

»Äh, klar. Was stellst du dir vor?« Ich stand mitten in der Küche, verlassen und verloren, sodass ich mir vorkam, als wäre ich der Fremde hier.

»Cappu.«

Ich öffnete einen Hängeschrank mit Glastüren, welchen wir Kaffeeschrank nannten, obwohl wir dort auch Tee aller Art, Kakaopulver und Brillenputztücher lagerten, und untersuchte ihn auf Cappuccino. »Ist aus. Wie wäre es mit einem Cafè au Lait?«

»Komm ich mit klar.«

»Hast du ein Näschen für Küchen oder warum kennst du dich in diesem Haus so gut aus?«, wollte ich wissen, während ich ein paar Handgriffe machte, um den Cafè au Lait für sie zuzubereiten. Na gut, die Maschine hatte die meiste Arbeit. Ich musste nur einen Knopf drücken.

»Glückssache.« Sie war beängstigend selbstbewusst. »Seid ihr irgendwie reich?«, fragte sie nun, mehr der Information halber, nicht, weil es ihr wirklich wichtig war. So schien es.

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Dafür lebt ihr aber echt gut.« Mit langsamen Schritten lief sie durch die Küche und berührte Ablagen und diverse Küchengeräte mit dem Zeigefinger. Nur ganz kurz, als wolle sie prüfen, ob ihr irgendetwas davon gefährlich werden könnte. Der Toaster könnte vielleicht kaltblütig zuschnappen wie ein Krokodil, die Kiwi in der Obstschale, zwischen den Bananen und den Äpfeln, könnte vielleicht hochgehen wie eine Granate und die Arbeitsplatte der Kücheninsel könnte sich vielleicht umschlagen und das geheime Waffenlager einer Auftragsmörder-Familie freigeben.

»Mein Vater ist Chefarzt.«

»Und deine Mutter?« Nun tippte sie eine Pfanne, die über der Kücheninsel an einem Decken-Hängeregal baumelte, so an, dass sie leicht ins Schaukeln geriet und eine andere Pfanne anstieß.

»Sie ist Hausfrau.«

»Verdient man damit Geld?«

»Das ist nicht nötig. Mein Vater versorgt uns.«

»Als Chefarzt verdient man garantiert einen Haufen Kohle.«

Ich deutete grob auf das Haus. »Wie du siehst! – Und was ist mit deinen Eltern?« Ich fand es nur fair, dass auch sie mich wissen ließ, in welchen Verhältnissen sie aufwuchs, nachdem sie mich so neugierig ausgequetscht hatte.

Sie setzte sich auf einen der hohen Hocker an der Kücheninsel. »Meine Mutter ist Finanzbeamtin.«

»Meine Mutter schimpft immer auf die Mitarbeiter des Finanzamtes. Alle unfreundlich, sagt sie.« Ich stellte Winter die Tasse mit dem Cafè au Lait vor die Nase, als er fertig war, und setzte mich mit einer kalten Cola aus der Dose zu ihr.

»Ja, sie sind verpönt. Aber du hast meine Mutter gesehen. Sie ist anders. Und hat mit den Vorurteilen zu kämpfen. Tagein, tagaus.«

»Ja, deine Mutter scheint nett zu sein. Und dein Vater?«

Winter umklammerte die Tasse, als beabsichtigte sie, sich daran zu wärmen. Aber da das Thermometer im Haus dreiundzwanzig Grad Celsius anzeigte, ahnte ich, dass sie mit dieser Geste nur Halt und Ablenkung suchte.

»Der ist von Beruf Idiot.«

Ich lachte. Das kam nicht gut an.

Wieder schaute Winter mich mit diesem strengen Blick an, weshalb es mir eiskalt den Rücken herunterlief.

»Tut mir echt leid, aber das kam jetzt voll trocken rüber und ...«

Sie unterbrach mich lachend: »Du bist so leicht zu beirren.«

Ehrlich gesagt schaffte nur sie das. »Was ist mit ihm?«

»Er ist schon lange fort, hat uns verlassen. Seither sind wir allein. Kein Mann danach konnte sich als besser erweisen.«

»Schade.«

»Ach, lass stecken. Ohne Vater zu sein ist ja keine tödliche Krankheit oder irgendein seltenes Phänomen.« Sie nippte zögerlich an der Tasse. Möglicherweise wollte sie sich nicht den Mund verbrennen.

Ich tat es ihr gleich und nippte an meiner Coladose. »Was hat dich eigentlich ins Krankenhaus verschlagen?«

Sie machte große Augen, als hätte ich sie mit dieser Frage kalt erwischt. »Ich hatte dich zuerst gefragt. Also bist du mir auch als Erster eine Antwort schuldig.« Dass sie nur Zeit schinden wollte, war kaum zu übersehen. Alles an ihr wehrte sich gegen das Thema. Aber warum?

Allerdings war mir eine Antwort nicht weniger unangenehm als ihr. Wie würde sie wohl reagieren, wenn sie erführe, dass ich mich mit ihrem Freund angelegt hatte? »Ist es denn noch nicht zu dir durchgedrungen?«, tastete ich mich langsam an die unbequeme Wahrheit heran.

»Sollte es?« Sie machte ein fragendes Gesicht. Harro und sie schienen nicht sehr viel Zeit miteinander zu verbringen oder wenigstens regen Kontakt über Handy zu halten.

»Schon, schließlich bin ich der Neue und schon allein darum in aller Munde. Und zum anderen ist dein geliebter Harro an meiner Platzwunde nicht ganz unbeteiligt.«

Sichtlich aufgebracht schoss sie vom Hocker. »Er hat dir doch nicht etwa eine verpasst?«

»Eher drei.« Ich versuchte, den Vorfall als Bagatelle zu behandeln. »Reg dich nicht auf. Ist halb so schlimm.«

»Wie bitte? Du nennst einen Krankenhausaufenthalt halb so schlimm?« Sie fuchtelte mit den Armen wild herum und gab ihrer Wut damit weitaus mehr Ausdruck. »Gewalt ist hässlich.« Als sie sich wieder beruhigt hatte, setzte sie sich und sank in sich zusammen. »Warum hat er das getan?«

»Eigentlich hat es mit mir nicht viel zu tun gehabt. Er hat Niko k.o. geschlagen. Und ich habe es ihm heimgezahlt. Also, ich habe es versucht ... Genau genommen hab ich auf ganzer Linie versagt. Meine Platzwunde erbringt den Beweis.«

»Mann ey, das ist so asozial ...«

»Ich schwöre, ich prügle mich sonst nie. Das war das erste Mal ...«

»Es geht mir nicht um dich, sondern um Harro«, schnitt sie mir rüde das Wort ab.

»Warum bist du mit so einem Spacko überhaupt zusammen?« Es war nicht zu begreifen.

Sie machte ein entsetztes Gesicht. Ich konnte ihren Augen ablesen, dass sie dachte: Was geht dich das an? »Das verstehst du nicht«, sagte sie jedoch.

»Deshalb frag ich dich ja. Weil ich es nicht verstehe.«

»Na gut«, stöhnte sie, »dann sag ich es dir eben.« Sie machte eine Kunstpause und schnalzte mit der Zunge. »Weil er halt so heiß aussieht in seinen College-Jacken. Darum!« Sie verhöhnte mich, ganz klar.

Ich tat ihr den Gefallen und ging nicht weiter auf das Thema ein, denn offensichtlich wollte sie meine Frage nicht ernsthaft beantworten. »Woher kommt seine Vorliebe für College-Jacken überhaupt?«

Auf einmal wurde sie gesprächig: »Mit vierzehn hat er drei Monate in Chicago gelebt. Bei seiner Großtante. Experiences, wie er in einem amerikanischen Akzent stolz nachzuahmen pflegt. Mason, sein Cousin zweiten Grades – zu diesem Zeitpunkt war dieser neunzehn – hat ihn regelmäßig auf das College, auf das er ging, mitgeschleppt. Weil Harro ein Frauenmagnet war, ja, schon als Kind. Und Mason hat sich das zunutze gemacht. Na, jedenfalls hat Harro wohl zu viel College-Spirit eingeatmet, denn damit entstand seine Vorliebe für ebendiese College-Jacken.«

Wenig später hatte sie mich gebeten, sie im Haus herumzuführen. Es war mir etwas unangenehm, denn sie wirkte fremd hier, nahezu außerirdisch. Doch nur, weil sie so undurchschaubar war. Nicht geheimnisvoll, denn das hätte eine positive Wirkung auf mich gehabt. Eher bedrohlich, so, als müsste man sich in Acht nehmen und auf alles gefasst sein.

Als sie mein Zimmer sehen wollte, blockte ich ab.

»Warum darf ich es nicht sehen? Hängen Poster von nackten Chicas an den Wänden?« Sie fand sich witzig.

Ich führte sie die Treppe wieder herunter. »Das ist nicht so mein Ding.«

»Ach, hör doch auf, du lügst doch. Jeder Typ steht auf nackte Frauen.«

»Wenn sie nicht meine feste Freundin ist, nicht so sehr.« Natürlich schenkte ich einer sexy Frau hin und wieder einmal Beachtung, allerdings musste sie dafür weder nackt sein noch an meiner Tapete kleben. Und schon gar nicht musste ich sie mit weiterem Interesse verfolgen, geschweige denn mit ihr den Bund fürs Leben schließen.

»Du kommst aus Hamburg!«

»Und?«

»Willst du mir ernsthaft glauben machen, dass du noch nie einen Bummel über die Reeperbahn gemacht hast?«

Ich schwieg kurz dazu. »Gruppenzwang«, erklärte ich.

»Siehst du!«

»Ich habe keine Nerven dafür, mich mit deinen Unterstellungen auseinandersetzen zu müssen, nur weil du irgendwelche Vertrauensdefizite hast.« Es war schlicht und einfach keine Diskussion wert. Wenn ihre Vorwürfe den Tatsachen entsprächen, dann würde ich mich dem auch stellen. Aber es war nun mal keine Tatsache. Und ich hatte mir geschworen, mich niemals für etwas zu rechtfertigen, was nur die Ausgeburt von jemandes Fantasie war. Alles andere schien mir unlogisch.

»Vertrauensdefizite? Was für Vertrauensdefizite?«

»Ich sag nur Harro! Er gibt dir keine Sicherheit.« Allerdings musste ich Winter dafür nicht kennen, um zu diesem Schluss zu kommen. Harro war einfach nicht der Typ, der sein Mädchen auf Händen trug und sich bei Gefahr schützend vor sie schmiss oder sie in ein Restaurant ausführte zu einem Essen bei Kerzenlicht oder im Mondschein mit ihr händchenhaltend über den Strand spazierte oder ihr schlicht die Schultasche nach Hause trug und ihr zuhörte, wenn sie ihre wertvollen Gedanken und Gefühle freigab. Worte wie: »Ich liebe dich« kämen ihm nie über die Lippen, da er sein Ansehen verlieren könnte. Solche Typen hielten sich Mädchen wie Hunde. Sie richteten sie zum Vorzeigen ab. Mädchen, die funktionierten, dienten lediglich dem Zweck, seine Manneskraft zu demonstrierten.

»Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt mit dir abgebe«, antwortete sie tief getroffen. Denn ich hatte recht. Und das wusste sie. Wenn sie es geleugnet und Harro auch noch in Schutz genommen hätte, hätte sie sich nur lächerlich gemacht.

Es wurde kurz still um uns. Ich holte mich wieder runter. Erst als wir im Wohnzimmer auf dem Sofa Platz genommen hatten, sprach ich besonders liebevoll: »Winter, warum tust du das?«

»Was tue ich denn?«

»Du gibst dich mir gegenüber immer so unausstehlich. Dabei bist du total in Ordnung. Du machst dich absichtlich unbeliebt bei mir.«

Als hätte ich sie durchschaut, senkte sie den Blick auf ihre Hände. Die Finger spielten miteinander. »Ich bin ein einziger Trümmerhaufen.«

»Ach, jetzt hör du aber mal auf!«

»Doch, ich schwöre, ich enttäusche mein Umfeld immer.« Sie atmete durch. Ich sah ihr an, dass sie etwas loswerden wollte, jedoch hin- und hergerissen war, ob ich der richtige Ansprechpartner dafür wäre. Aber wenn sie mittlerweile nicht kapiert hatte, dass mir zu trauen war, war ihr tatsächlich nicht mehr zu helfen. »Vorhin hast du mich gefragt, aus welchem Grund ich überhaupt mit Harro zusammen bin.« Sie wartete eine Reaktion von mir ab. Ich lächelte und nickte nur, da ich es keinesfalls vermasseln und sie mit nur einem falschen Wort wieder verjagen wollte. »Weil ich meine Mutter nicht enttäuschen möchte. Wenigstens hierbei nicht.«

»Aber was hat er zu bieten?«

»Nichts! Er ist ein Trugbild, um genau zu sein. Doch meine Mutter sieht das nicht. Sie sieht nur, dass da jemand ist, der mir eine stabile Zukunft in Aussicht stellt. Sie will mich sicher wissen.«

»Und sie vertraut nicht auf deine Selbstständigkeit?«

»Nein«, sagte sie frei zum Mund heraus, »aber das liegt nicht an ihr, sondern an mir.«

»Entschuldige mal bitte, aber du bist tough, selbstbewusst, unheimlich gebildet und aufgeschlossen. Eine ganz schön große Menge an Potenzial, um das jetzt glauben zu können.«

»Falsch! Ich trete nur so auf, aber all das bin ich nicht.«

Offenbar war sie von Selbstzweifeln zerfressen. Und wenn sie sich nicht von diesem Spacko trennen würde, würde es niemals bergauf mit ihr gehen. »Niemand kann sich frei entwickeln mit einem Klotz am Bein. Harro bremst dich total aus, und du glaubst auch noch, dass es an dir liegt.«

Wieder kehrte Stille ein. Aber dieses Mal würde ich den Teufel tun und sie brechen.

Nun, vielleicht doch.

Ich nahm die Fernbedienung für den Fernseher zur Hand und schaltete einen Musikkanal ein. Den Ton stellte ich auf eine annehmbare Lautstärke, damit wir unsere Unterhaltung nicht schreiend fortsetzen müssten.

Der aktuell gespielte Musiktitel weckte Winters Aufmerksamkeit. Sie richtete ihren Blick auf den Bildschirm und ließ sich von der Musik mitnehmen. Als das Lied zum Ende kam, sagte sie: »Ich liebe diesen Titel.«

»Er klingt ganz schön düster«, merkte ich an. Mein englisches Sprachwissen hielt sich zudem in Grenzen, so konnte ich dem Text nicht vieles entnehmen, wirkte sogar ein bisschen verwirrend auf mich. Leider machte mich Winters Gegenwart noch dazu zu wuschig, um mir den Titel, der am Ende noch einmal eingeblendet worden war, einzuprägen und ihn nachher im Internet zu suchen und zu analysieren.

Sie ging auf meine Bemerkung nicht ein. Stattdessen griff sie wieder das Harro-Thema auf. »Harro ist meine Absicherung. Er würde mich nicht im Stich lassen.«

»Woher weißt du das so genau? Wird er dafür bezahlt, dass er bei dir bleibt, oder was?«

»Ha-ha! Sehr lustig, du Witzbold.«

»Das ist mein voller Ernst, Winter!«

Sie antwortete mir nicht sofort. Man sah ihr an, dass sie die Worte, die sie jeden Augenblick von sich geben würde, gut durchdachte. »Für andere mag Harro ein Egozentriker sein, obendrein arrogant und herrschsüchtig. Aber er liebt mich. Aus tiefsten Herzen. Das weiß ich. Welcher andere Mann kann mir die Garantie geben, dass er bei mir bleibt – dass es so klappt wie mit Harro?«

Ihre gestörte Erwartungshaltung schockierte mich. Es war höchste Zeit, ihr vorzuführen, dass auch andere Jungs das Herz am rechten Fleck hatten und Winter zu lieben wert war. »Kein Junge kann dir diese Garantie geben. Das liegt nicht in seinen Händen. Aber was sehr wohl in seinen Händen liegt, ist Sicherheit. Die wird er dir geben, jeden neuen Tag, ob gut oder schlecht, solange er glücklich mit dir ist. Er wird immer ehrlich zu dir sein, wird dir nichts vormachen, dich immer wissen lassen, wie er zu dir steht. Aber solange er dich liebt, wird er dich so behandeln, wie es dir zusteht, so wie du es verdient hast. Um nichts in der Welt wird er dich verletzen oder irgendetwas Schändliches tun, das seine Beziehung zu dir gefährdet oder sogar komplett zerstört. Nichts wäre ihm dieses Risiko wert, weil er dich liebt, so blind und wahnsinnig, als hätte er es noch nie zuvor getan. Punkt!«

Sie war bewegungslos. Ihr Gesicht war starr vor Begeisterung und in ihren Augen standen große Tränen. Ihre Lippen bewegten sich, als wolle sie etwas sagen, aber es kam kein Ton drüber. Ich konnte ihrer Mimik ablesen, dass sie Harro in meinen Worten nicht wiederfand, doch es genau das war, wonach sie sich ausdrücklich sehnte.

Im nächsten Augenblick schoss sie vom Sofa, hastete mit den Worten: »Ich muss jetzt gehen« zur Haustür und schloss sie mit einem großen Knall. Ich war außerstande, so blitzschnell zu reagieren wie sie gehandelt hatte. So blieb ich zurück wie ein begossener Pudel und mit der quälenden Frage: »Was habe ich falsch gemacht?«

Erkläre mir das Leben

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