Читать книгу High Energy - Katja Darssen - Страница 15
2 Riecher
ОглавлениеSpätestens als der Zug über die Mainbrücke fuhr, ordneten alle Reisenden ihr Gepäck. Axel war an diesem Montagmorgen einer von ihnen, nachdem er am Wochenende zu Michel nach Hause gefahren war. Am Freitagabend im Zug hatte er noch den Begriff des Männerwochenendes als lächerlich abgetan, doch heute Morgen fühlte es sich ganz und gar gut an. Sie hatten sich aufeinander gefreut, gut gegessen, viel erzählt. Intensiv! Das war das richtige Wort.
„In Frankfurt“, hatte er zu Michel gesagt, „fühle ich mich manchmal wie ein Student.“ Seltsam hatte es sich angefühlt, das zu seinem Sohn zu sagen.
„Ich bin richtig stolz auf dich, dass du nicht so ein alter Knacker bist.“ Und Michel hatte dabei gegrinst.
Der Zug blieb im Delta der Bahnhofsgleise stehen und wartete auf ein Einfahrtssignal. Nein, so richtig konnte es Michel doch nicht wissen, wie es war, seinen Sohn einfach zurückzulassen. Nicht mehr mit ihm gemeinsam Bouletten zu braten, sich mit ihm um den letzten Kakao zu streiten, sich mittwochs die Champions-League-Spiele zusammen anzusehen. Nachhausekommen war nicht nur für die Kinder da. Und jetzt ist das Kind erwachsen. Der Zug rumpelte über das Gewirr aus Gleisen und Weichen. Kurz darauf erschien vor den Fenstern der Bahnsteig.
Zur Nordseite des Bahnhofs sollte Hoppe kommen. Seine neuen Kollegen hatten ihn angerufen: Jemand wurde am Mainufer tot aufgefunden. Ertrinken wurde als Todesursache bereits festgestellt. Keine große Sache. Ich bekomme Beschäftigung, keine Ermittlungsarbeit. Austauschschüler, der ich nun einmal bin. Dieses Beispiel wird mein erstes sein, das ich auseinandernehme, um Strukturen und Abläufe der Polizeiarbeit zu analysieren. Er sollte mit einer gewissen Draufsicht nach Optimierungsmöglichkeiten suchen und Schulungsunterlagen aktualisieren. Darüber konnte man sich schon am Morgen freuen. Gemeinsam mit den anderen Reisenden stieg er aus und versuchte, sich alles Kommende schön zu reden. Ich habe mir ein Fahrrad zugelegt und werde die Zeit genießen. Der Sommer liegt noch vor mir. In dieser Jahreszeit ist es überall auszuhalten.
Am Nordeingang des Bahnhofs wartete auf dem Parkplatz Hauptkommissarin Marlene Saalfeld auf ihn. Na bitte, der Tag beginnt ja prächtig, dachte er. Sie begrüßten sich und er fragte, ob sie gemeinsam an dem Fall arbeiten würden. „Ich soll Ihnen ein wenig zur Hand gehen“, antwortete sie.
Ausgerechnet die, dachte er. Als sie am Main entlang durch die Stadt fuhren, fragte er, ob nicht fast schon die Offenbacher Kollegen ran sollten?
„Um diesen Fall mussten wir keine Revierkämpfe ausfechten.“
Hatte er da einen ironischen Unterton wahrgenommen? Ob sie Spaß daran hat, mich auf die fehlende Brisanz meines ersten Falles aufmerksam zu machen? Das ist ein Experiment, ein Austauschjahr! Ich weiß es doch. Frauen! Immer müssen sie sich beweisen. „Danke fürs Abholen übrigens.“
Hoppe überlegte, wie um alles in der Welt dieser Mann es angestellt hatte? Gab es dort hinten nicht eine Autobahnbrücke? Und wenn er gestoßen wurde? Oder wenn die Brücke gar keine Rolle spielte? Ein Bootsunfall? Immerhin ein viel befahrener Fluss. Machte er sich doch Hoffnung auf ein wenig Arbeit? Diese Frau hatte ihn herausgefordert. „Wir fahren hin und hören, was die Kollegen vor Ort haben“, sagte er laut.
Sie schaute ihn etwas verständnislos an.
Am Tatort ging es wie üblich hoch her. Fahrzeuge waren an einem schmalen Weg zwischen dem Ufer und einem Wohnblock geparkt. Absperrbänder verhinderten, dass Anwohner den Weg benutzen konnten. Dennoch hatten sich Schaulustige davor aufgebaut. Axel Hoppe bahnte für sich und seine Kollegin einen Zugang durch die Menge. „Seit wann sind die Kollegen vor Ort?“, fragte er diese Saalfeld. Sie schlüpften unter dem rot weißen Band hindurch.
„Seit heute sechs Uhr.“
Rechts flankierte ein eher schmuckloser Wohnblock mit Fahrradständern vor den Eingängen den Weg. Das Haus befand sich zwar in der ersten Reihe zum Fluss, jedoch war der hinter riesigem Gestrüpp und Bäumen kaum zu sehen. Hoppe machte ein paar Schritte Richtung Wasser. In der Ufervegetation lagen Tüten, Verpackungen, Flaschen, verrostete Kleinteile und Papiermüll. Auch im Wasser schwamm Unrat, der sich in Wurzeln, hinabhängenden Ästen oder Wasserpflanzen verfangen hatte. Draußen auf dem Fluss schaukelten rote und grüne Bojen. Mit stoischem Wummern fuhr ein Schubverband vorüber, der den Müll in seiner Bugwelle sacht schaukelte. Nein, das ist kein guter Ort, um tot aufgefunden zu werden. Er wandte sich Richtung Einsatzzelt, das ein paar Meter entfernt die gesamte Wegesbreite einnahm. Dort drinnen liegt er also. Der Tote. Mein Fall. Er blickte noch einmal an dem Wohnhaus empor. Ein paar Neugierige schauten aus ihren Fenstern. Neben ihm stand die Kollegin. Ein junger Beamter und ein älterer Kommissar kamen auf sie zu. Sein Team, das ihm am Telefon bereits kurz umrissen wurde. Viel zu viele Leute für diese Aufgabe. Außer seines Teams gab es immerhin schon die vielen Techniker in ihren weißen Overalls und die Uniformierten, die sich alle um diesen Ort scharrten. Kriminalhauptmeister Julian Keller, Kriminaloberkommissar Wolfgang März, meine Freundin, Kriminalhauptkommissarin Marlene Saalfeld und ich selbst. Sollen wir uns gegenseitig auf die Finger gucken? Nach einer kurzen Begrüßung sagte der ältere Kollege: „Sie haben ihn durch die Böschung heraufholen müssen. Keine Papiere. Aber genügend Vermisstenanzeigen.“
„Gewalteinwirkung?“, fragte Hoppe.
„Keine sichtbaren Spuren.“
„Waren irgendwelche Fundstücke im Wasser?“
Wieder Nein.
„Wollen wir?“ Er deutete Richtung Zelt.
Darin machten sich ein paar Polizeibeamte an Kisten, Metallkoffern und an Laptops zu schaffen. Auf einem Arbeitstisch lag der zugedeckte Leichnam. Die Plastikplane, noch dazu von einer Wasserleiche, zu lüften, war kein angenehmer Augenblick. Hoppe schaute und sagte erst einmal gar nichts. Plappern löst keinen Fall, auch wenn er noch so klein ist. Draußen vor dem Zelt schien die Sonne, wenn sie auch noch nicht wärmte. Das Frühjahr konnte man bereits erahnen. Und dann ertränkt man sich? Die meisten brachten sich vor dem Winter um. Doch er äußerte seine Gedanken nicht. Es war anmaßend und nur sein ganz persönlicher Einwand, Suizide im ausklingenden Winter einfach nicht gelten zu lassen. Mehr fiel ihm im Moment nicht ein. Er tauschte sich mit seinem überdimensionierten Team aus. Das wurde schließlich von ihm erwartet. Doch sie wussten alle selbst, was zu protokollieren war, wie der Fundort untersucht und wie man den Technikern bereits vor Ort auf die Nerven gehen musste, um schneller an ein paar Fakten zu gelangen. Den Tauchern, die später hinzugezogen werden sollten, konnte sowieso niemand etwas erklären.
Hoppe verließ das Zelt, hob am anderen Ende des Weges das Absperrband an und verließ diesen Hexenkessel an Betriebsamkeit. Er lief auf dem unbefestigten Uferweg weiter bis er an einer dieser schmalen Straßen eines Neubaugebietes landete. Neue Gehwege, dünne Bäume, frisch eingezeichnete Parkplatzmarkierungen. Die Blocks trugen Namen wie Hafengold oder Luv und Lee. Er ging an Appartementhäusern aus Granit mit dunkelbraunen Fensterrahmen und kleinen Balkonen vorüber. Auf anderen Häusern prangten Terrassen mit Glasumrandung, einige waren ganz klar als Bürokomplexe auszumachen. Mit Holzbohlen und dicken Tauen an einem eingemauerten Stück Flussarm versuchte man maritimes Flair vorzugaukeln. Eine junge Frau schob einen Kinderwagen Richtung Main. Sollte er ihr zurufen, dass es hinter dem Block heute nicht weiterging? Wortlos wandte er sich ab. Weit hinter dem vermeintlichen Hafenbecken führte eine mehrspurige Straße an ausgeblichenen Altbaublöcken vorüber. Weiter den Fluss hinauf standen Lagerhallen, Fabrikgebäude, Gasspeicher, Kräne und ein kleines Umspannwerk. Ein Bagger fuhr an seinem Eisengestell durch die Luft. Laufkatze hießen diese Dinger. Drei, vier Schiffe lagen im Wasser. In windschiefen Baracken wurden wahrscheinlich Frachtpapiere ausgefüllt, Telefonate geführt und Kaffee oder Würstchen warm gemacht. Kleine Gewerbetreibende machten dort ihre Geschäfte. Eine Eisenbahnbrücke durchschnitt den Horizont. Dahinter ragte die EZB auf und noch weiter stromabwärts die Frankfurter Skyline. Doch weder das Krachen der Kohle, die vom Bagger in den Rumpf eines Schiffes fiel, noch das Quietschen des Zuges auf den Schienen der Brücke und erst recht nicht den Trubel der Stadt konnte Hoppe hier hören. Hier wo er stand, war es leise, aufgeräumt und geruchlos. Keine Abgase, kein Kaffee, keine Fritten, keine Blumen, keine Pisse, kein Stoff, kein Parfüm. Wie sollte man da einen Riecher entwickeln?