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2 Ankunft

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Einen Augenblick lang blieb Axel stehen, um die Stahlträger zu betrachten. Er bemerkte dunkelblaue Eisenrosetten, die in das altertümliche Geflecht eingearbeitet waren und fragte sich, ob diese Konstruktion tatsächlich das Glasdach trug. Aus dem ICE stiegen immer noch Leute aus, andere drängten hinein. Knarzend dröhnende Lautsprecheransagen kommandierten die Herde. So unangenehm war es ihm auf keinem Bahnhof je aufgefallen. Widerwillig gab auch er sich dem Strom der Reisenden hin und eilte mit ihnen auf schwarzem Granit in nur eine Richtung. Er hatte keine Wahl. Sackbahnhof. Am Querbahnsteig war es unerträglich voll und augenblicklich war er in seiner Annahme bestätigt, sich etwas aufgehalst zu haben, das er nicht wollte. Menschen liefen, aßen, trugen, zogen, telefonierten. Im Zug war es noch friedlich gewesen. Doch jetzt sah niemand entspannt aus, trotzdem einige Leute dampfende Becher in den Händen oder kleine Kinder neben sich hatten. Nie hatte Axel diese Art von Mobilität vermisst. Muss ich jetzt noch einmal so tun, als wäre ich einer von denen? In einer fremden Stadt mit einer Adresse und Wegbeschreibung im Kopf? Das ist etwas für 18-Jährige! Michel sollte so etwas durchziehen. Nicht ich!

Laut Kathrin sollte er mit der Straßenbahn Nummer 16 genau vor dem Bahnhof abfahren. Er folgte den Schildern und gelangte in eine Bahnhofshalle. Nein, in eine Kathedrale! Dort ließ er die Dimensionen auf sich wirken. Der typische Blumenladen, eine Krombacher-Sportsbar und ein Starbucks wirkten in der dunklen Halle komplett verloren. Er legte den Kopf in den Nacken. Die Wände sind bestimmt über zehn Meter hoch, überschlug er. Eine runde Bahnhofsuhr inmitten verzierter Sandsteinornamente zeigte viel zu verspielt die Zeit an. Darüber Fenster aus unendlich vielen Glasrechtecken. Dennoch blieb es hier drinnen dunkel. Aber da! Da oben unter der Decke hängt doch jemand. Was tut der da? Will der im Bergsteigergeschirr diese Scheiben putzen? Axel schaute nicht als einziger nach dem Mann mit dem leuchtend gelben, und wie es schien, riesigen Putzlappen. Jetzt! Achtung!, wollte er rufen. Der Bergsteigerputzmann ließ den Lappen von dort oben fallen. „BrueCklean – wir putzen hoch oben!“ Das kann doch nicht wahr sein! Er war auf einen Werbegag hereingefallen. Das war kein Putzlappen, sondern ein Banner.

Axel stieß eine der simplen Glastüren an der Bahnhofsfront auf und erblickte das, was er von Frankfurt kannte: Bürotürme, Bürotürme, Bürotürme. Hier direkt vor ihm aber das Bahnhofsgewusel aus Taxistand und dreckigem Vorplatz. Als Insel konnte er die Haltestelle mit langen Wetterunterständen, Geländern und Fahrkartenautomaten nicht verfehlen. Dorthin stellte er sich. Axel Hoppe, Austauschschüler! „Axel soll mal hübsch mitgehen und danach den Höheren Dienst antreten.“ In seinem Lebenslauf fehlte noch die Erfahrung in einer anderen Behörde. Er hätte darauf verzichtet, auch auf den Höheren Dienst. Hatte sein Chef ihm oder Kathrin einen Gefallen getan? Wenn man an einem Sonntag im nasskalten November in einer x-beliebigen Stadt auf die Straßenbahn wartet, dabei an seine Frau, die gerade in Südamerika ist und an seinen Sohn, der allein zu Hause und auch weit weg ist, denkt, dann macht man also gerade Karriere? In Wirklichkeit bin ich doch nur zwischengeparkt bis eine Planstelle für einen Polizeirat frei wird. Ausgerechnet in einem Jahr soll das sein? Als ob ich nach fast dreißig Dienstjahren noch einmal etwas beweisen müsste. In einer anderen Behörde durchzuhalten, stellt also so eine Art Feuerprobe dar. Darüber konnte er nur den Kopf schütteln.

Eine türkisfarbene Straßenbahn ratterte heran. ‚16. Offenbach Stadtgrenze‘, las er. Na wenigstens! Er setzte sich auf einen Fensterplatz.

„Du wirst sehen, das wird für uns beide noch einmal ein ganz neues Leben“, hatte Kathrin gesagt. War ein neues Leben so nötig? Und wenn ich es nicht sehe? Die Straßenbahn zuckelte über den Main und spätestens hier musste er über seinen Griesgram lächeln. Dieser Fluss ist ganz schön breit. Nun hatte er doch etwas gesehen.

Gleich darauf fuhr die Straßenbahn in eine Gegend, von der er ahnte, dass sie Kathrin nicht zufällig gewählt hatte. Gartenstraße. Schweizer Straße. Schaufenster, Treppchen zu Ladeneingängen, Bäume am Straßenrand. Schwanthaler Straße. Aussteigen! Ganz einsam kam er sich hier nicht mehr vor. Er sah die Straße hinunter, an deren Ende wieder die Wolkenkratzer hervorragten. Kathrin war beleidigt gewesen, weil er nie mitgekommen war, um die Wohnung auszusuchen. Er hatte den Aufwand einfach nicht verstanden. „Ein Jahr kann ich jeder Behausung durchbringen“, hatte er erwidert. Axel lief los, orientierte sich und fand die Gutzkowstraße. In dem Café an seiner Straßenkreuzung war einiges los. Wahrscheinlich noch Frühstücksgäste, von denen einige in Mänteln und Schals eingemummelt draußen rauchten. Vielleicht hätte ich vorher schon einmal mitkommen müssen. Einen sogenannten Liebesbeweis erbringen. Er atmete laut aus. Das mache ich doch! Für ein verdammtes ganzes Jahr! Mit fast 50. Warum sprachen immer alle von neuen Erfahrungen? Warum soll man ständig seine Gewohnheiten ändern? Und muss man seinen Sohn, nur weil er jetzt 18 ist, gleich alleine lassen?

Gutzkowstraße Nummer 62. Aus seiner Jackentasche holte er einen Schlüssel für eine fremde Haustür hervor. Er hatte keine Ahnung, was ihn dahinter erwartete. Ein Treppenhaus, in dem es nach Kaffee roch. Zwei Etagen musste er nehmen. Links. Hoppe. Er schloss auf und setzte vorsichtig einen Fuß über die Schwelle. Kathrins Schuhe standen auf Holzdielen. Behutsam schloss er die Tür hinter sich. An der Wand hing ein Schal an einem dicken Nagel. Ein weiterer daneben war leer. Sie hat einen Nagel für meine Jacke eingeschlagen? Eine Glühbirne baumelte über ihm. Axel machte ein paar Schritte, das Holz knarrte. „Dann wollen wir mal“, murmelte er vor sich hin.

Die Zimmertüren waren angelehnt. Rechts Küche und Bad. Auf der anderen Seite ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer; beide durch eine Flügeltür miteinander verbunden. Klein, aber … Fein? Mein? Nein, das ist sicher ein falscher Eindruck. Eine Runde rum. Das war schnell erledigt. Und noch eine, jetzt gemächlicher. Die Türklinken quietschten. Die Tür zum Bad klemmte. Er brachte seine Tasche ins Schlafzimmer, für das Kathrin ein Bett gekauft hatte. Es stand nagelneu und unbekannt an der Wand gegenüber der schmalen Balkontür. Im alten Einbauschrank war ein Fach frei. Darin ein Zettel. ‚Es wird kuschelig. Hier ist ein leeres Fach für Dich. Bis Mittwoch, ich liebe Dich. K.‘ Er nahm die Notiz, faltete sie und steckte sie in die Hosentasche. Jeans, Pullover, Socken, Unterhosen und T-Shirts legte er in das geräumige Fach. Hemden, zwei Anzüge, ein Sakko hing er auf Bügel. Die Schuhe brachte er in den Flur, um sie neben Kathrins aufzureihen. ‚… ich liebe Dich.‘ Er fühlte nach dem Zettel und schüttelte den Kopf. Seine Jacke hatte er vorhin auf den Boden gelegt. Jetzt hob er sie auf, um sie am freien Nagel aufzuhängen. Ob der hält?

Im Bad, einem kleinen Raum mit schmaler Fensterluke, erinnerte nichts an sein Zuhause. Handtücher lagen auf dem Badewannenrand, ein kleiner Teppich lag auf dem Boden. Am Waschbecken drehte er einen etwas altertümlichen Wasserhahn auf. Er wusch sich Hände und Gesicht. Die Seife roch ungewohnt. Das Meiste hier drinnen stammt bestimmt aus den Läden unten in der Straße, dachte er und sah Kathrin vor sich, wie sie am Morgen in eines der Cafés geht, später durch die Läden streift und Zeugs für die Wohnung kauft. Hatte sie gar keine Sehnsucht nach ihnen gehabt? Nach ihrem Mann und ihrem Sohn?

Er ging in den Flur und kramte in seiner Jacke nach dem Handy. Der Nagel rutschte aus der Wand. „Verflixt!“ Axel hob ihn auf und fummelte ihn wieder in das Loch zurück, legte seine Jacke aber erst einmal wieder auf den Boden. Mit dem Telefon in der Hand stapfte er in die Küche. Michel hatte heute ein Turnier. Soll ich anrufen? Er zögerte. Er ist 18! Sonst rufe ich auch nicht an. Er zog an der Kühlschranktür. Noch einmal ein Zettel. ‚Wie gefällt Dir unser Nest? Ich habe es für Dich und mich ausgesucht. In Liebe K.‘ Axel nahm den Zettel, eine Cola, einen Käse, Butter und eine eingeschweißte Salami aus dem Kühlschrank. Er legte alles auf den Tisch. Brot? Fehlanzeige. Michel? Nein, nicht jetzt.

Er legte das Essen zurück in den Kühlschrank. Dieses ‚Nest‘ kam ihm komisch vor.

Axel hob seine Jacke im Flur vom Boden auf und zog sie im Hausflur an. Unten bog er in die Schweizer Straße ab. Die Cafés waren leerer geworden. Nur wenige Leute waren unterwegs. Immer wieder ließ er seine Blicke streifen. Etliche Bäcker, Bistros, ein Pilatesstudio, Boutiquen, drei Apotheken, ein Schreibwarenladen, schon die zweite Drogerie, ein Tierarzt, Anwaltskanzleien. Alles leer, verriegelt, zugestellt. Sonntag. Am Ende der Straße trat er aus dem Schatten der Häuserreihen heraus. Dahinter der Main! Eine Straße musste er überqueren. Halt! Erst ein paar Autos vorbeilassen. Und den Kleinbus. Voll besetzt. Lustig sehen die Insassen aber nicht aus in ihren gelben Shirts. Niemand schaute fröhlich aus den Fenstern des Fahrzeugs in die Stadt hinein. Hier, wo sie doch ganz gut aussah. Axel überquerte die Straße und betrat eine steinerne Brücke, auf der er die andere Seite der Stadt erreichen wollte. Er blickte hinunter auf den Fluss, dessen Ufer bevölkert war wie eine Ameisenstraße. Hier sind also all die Menschen. Die nächste Brücke hatte einen filigranen eisernen Überbau und weit hinter ihr ragte der steile Zahn der EZB in den Himmel. Am anderen Ende seiner Brücke funkelten hohe Bürotürme, wie er es erwartet hatte. Doch genau hier unter ihm gab es Wege und Wiesen. Warum stehen vor dem Schiffchen so viele Leute? Die kommen ja mit einem Döner wieder! Er ging zurück, nahm dicke ausgetretene Stufen hinunter zum Ufer und lief geradewegs zu diesem Dönerkahn.

Endlich lag das Brot warm in seinen Händen. Er biss hinein und sah dabei zu den Platanen hinauf.

„Entschuldigung, Entschuldigung“, hörte er jemanden rufen.

Im gleichen Moment klebten ein Fahrrad und eine Frau an ihm. Gerade so konnte er zupacken, damit sie nicht hinschlug. Sein Essen aber fiel genau wie das Fahrrad. Seine Hand hatte sich in einem neongrünen Arm festgekrallt. Als er an diesem Arm entlangblickte, schaute er in dunkelgrüne Augen einer Frau, die ihre Lider exakt umrandet und Lippenstift aufgetragen hatte. Viele kleine Falten entstanden als sie ihn entschuldigend anlächelte. Mit ihrer freien Hand wischte sie eine dunkelbraune Haarsträhne von der Wange. „Danke, es geht schon. Wie sieht es mit Ihnen aus?“ Erschrocken sah sie an ihm hinunter und wieder auf.

Axel bückte sich nach dem Fahrrad und dem Döner. Sie folgte ihm. Im Hocken begegneten sich ihre Blicke abermals. Warum konnte er nicht fluchen? Da hockte diese ungelenke, rücksichtslose Frau mit diesen dunkel-dunkelgrünen Augen und sagte: „Ich war so in Gedanken und ich kann wohl nicht so gut bremsen.“

„Weiß ich schon“ sagte er und das war wohl das Schroffste, was er ihr gegenüber herausbringen würde.

Er hob das Fahrrad auf. Sie sammelte das Brot und ein paar der Fleischbrocken ein und warf alles in den Papierkorb. „Ich hole Ihnen einen neuen.“

„Lassen Sie doch.“

„Halten Sie mein Fahrrad fest?“ Und weg war sie.

Sie konnte nicht gut Fahrrad fahren? Er schob ein Rose Black Lava von der Unfallstelle Richtung Bank. Wahrscheinlich brauchte solch eine Frau mindestens solch ein Teil.

„Ich heiße übrigens Isabel Schlegel“, sagte sie, nachdem sie mit einem neuen Döner zurückgekommen war.

„Axel Hoppe, Kri … Kriege ich nicht alle Tage, solch einen Service. Danke.“ Da hielt er sich nun unbeholfen an diesem Stück Fladenbrot fest. Was soll ich denn jetzt damit? Etwa vor ihr sitzen und essen?

„Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer für den Fall, dass Sie doch eine kleine Verletzung davongetragen haben.“ Ihre Augen reflektierten mindestens zehn verschiedene Nuancen von Grün.

„Sind Sie Krankenschwester oder Ärztin?“

„Nein, nur falls Sie noch etwas geltend machen möchten.“

„Unsinn! Aber Ihre Telefonnummer nehme ich.“

Da waren sie wieder, die Fältchen. Sie holte ihr Telefon aus dieser giftgrünen Jacke, die gar nicht hässlich an ihr war. Macht sie vielleicht ein wenig jünger, dachte er.

„Kann es losgehen?“, fragte sie und hielt ihr Telefon bereit. „Ich kann Sie auch kurz anrufen und Sie speichern nur noch meinen Namen dazu.“

„Ja, ja“, stammelte er und klopfte seine Jacke nach dem Handy ab, dabei sagte er seine Telefonnummer auf. Das Telefon schnarrte und vibrierte. Jetzt wusste er auch, in welcher Tasche es steckte. Axel nahm das Essen in die linke Hand und kramte umständlich das Smartphone heraus. Schaute auf ‚Verpasste Anrufe‘. „Und Ihr Name ist Isabel Schlegel?“

„Genau.“

Er begann mit dem Daumen zu tippen. S c h l e g e l I s …

„Entschuldigung noch einmal. Ich muss weiter.“

„Fahren Sie vorsichtig!“

Sie drehte sich um, winkte noch einmal mit einem Hauch von irgendetwas, das ihm so noch nicht begegnet war. Auf keinen Fall auf einem Fahrrad.

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